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Ungarn
Ungarn vor der Wahl: Wendepunkt für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit?

Interview mit Dr. István Hegedűs, Leiter der ungarischen Europa-Gesellschaft
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban während einer Pressekonferenz

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban während einer Pressekonferenz

© picture alliance / PAP | Lukasz Gagulski

Der russische Angriff auf die Ukraine hält derzeit alle europäischen Regierungen in Atem – so auch die in Ungarn. Dort könnte sich der Krieg womöglich auch auf die politische Zukunft des Landes auswirken. Die Themen, die den Wahlkampf in Ungarn seit einem Monat maßgeblich dominieren, finden außerhalb der Landesgrenzen statt. Der Ausgang der am 3. April stattfindenden Parlamentswahlen ist nicht absehbar. 

Während Ministerpräsident Viktor Orbán den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt und sich den von der EU verhängten Sanktionen gegen Putins Regime angeschlossen hat, möchte er seine Geschäftsbeziehungen zu Russland nicht gefährden, da diese maßgeblich zur Senkung der Energiekosten in Ungarn beitragen. Orbáns Wahlkampfstrategie und sein Umgang mit dem Krieg in der Ukraine beruht daher auf zwei Säulen: zum einen „strategischer Ruhe“ und zum anderen auf „Frieden“ als Wahlkampfbotschaft, was aus seiner Sicht Waffenlieferungen Ungarns an die Ukraine und eine Ausweitung der Sanktionen auf Gas und Öl ausschließt. Gleichzeitig stellen die regierungsfreundlichen Medien, die die Medienlandschaft in Ungarn dominieren, die Rechte der Ukrainer über ihr Land in Frage und relativieren den russischen Angriff auf das Nachbarland. Während die Ukraine Klarheit über die ungarische Position zum Krieg im Nachbarland fordert, rufen Orbáns traditionelle Verbündete in Europa, allen voran die nationalkonservative polnische Regierung unter Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit, zu härteren Sanktionen gegen Russland auf. Viktor Orbán ist somit auf europäischer Ebene zunehmend isoliert.

Die Dominanz von außenpolitischen Themen im ungarischen Wahlkampf bedeutet jedoch nicht, dass die Wähler die innenpolitischen Herausforderungen vergessen hätten und keine Antworten darauf erwarten - sowohl von der Regierung als auch von der vereinigten Opposition. In Ungarn hat Viktor Orbán zum ersten Mal seit 2010 einen aussichtsreichen politischen Herausforderer und muss um seine Wiederwahl bangen. Das Sechs-Parteien-Oppositionsbündnis „Vereint für Ungarn“ und das Regierungsbündnis Fidesz-KDNP liefern sich in den Wahlumfragen ein Kopf-an-Kopf Rennen. Die Themen wie der Abbau der Rechtsstaatlichkeit, politische Günstlingswirtschaft im ungarischen öffentlichen Beschaffungswesen und die Hetzkampagnen der Regierung gegen Migranten und LGBTIQ-Personen, die bisher den politischen Diskurs in Ungarn dominierten, werden derzeit vom Krieg im Nachbarland überschattet. Wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf die Wahl in Ungarn aus? Wird es dem ungarischen Oppositionsbündnis gelingen, auch die noch unentschlossenen Wähler für sich zu mobilisieren? Und gesetzt den Fall, dass sie die Wahlen gewinnen, wie regierbar wäre das Land nach 12 Jahren Fidesz–Monopol?

Über diese Fragen haben wir mit dem Leiter der ungarischen Europa-Gesellschaft, dem Soziologen István Hegedűs, gesprochen, der das Thema der ungarischen Parlamentswahlen aus drei Blickwinkeln beleuchtet.

Toni Skorić: Herr Hegedűs, wie wirkt sich der Krieg in der Ukraine auf den Wahlkampf in Ungarn aus? Kommt es zu einer Instrumentalisierung des Krieges in den Wahlkampagnen? Ist Orbáns Strategie einer „strategische Ruhe“ erfolgsversprechend für die Regierung?

Dr. István Hegedűs: Vor einigen Jahren hätten politische Beobachter unserem heimischen Parteienwettbewerb nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber jetzt – und nicht nur wegen der bekannten Putin-Orbán-Freundschaft – kann die Bedeutung der ungarischen parlamentarischen Wahlen nicht überschätzt werden.

Der ungarische Ministerpräsident hat bei seiner Wahlveranstaltung an unserem Nationalfeiertag am 15. März von seiner vermeintlich klugen Strategie gesprochen, in einem Konflikt zwischen zwei fremden Staaten neutral zu bleiben. „Strategische Ruhe“ und Neutralität im russischen Krieg gegen die Ukraine waren die Schlüsselwörter in seiner Rede. Das Argument basiert auf einer Interpretation der Geschichte Ungarns, das jetzt wieder, wie es in der Vergangenheit oft üblich war, unter den Konfrontationen der Großmächte in unserer Region leiden muss. Deswegen, meinte Orbán, sollte sich Ungarn nicht auf die Interessen eines fremden Landes verlassen, sondern müsse seine eigene Stärke aufbauen, um sich in einer feindlichen Welt zu behaupten. Für Orbán bedeutet das, dass sich Ungarn nicht in einen „Streit“ in seiner Nachbarschaft einmischen sollte. „Egal, wer gewinnt, wir werden verlieren“, lautet seine Devise.

Diese Strategie, über den Frieden zu sprechen und den Täter nicht beim Namen zu nennen, kann ziemlich effizient sein. Die meisten Ungarn hoffen, dass der Krieg außerhalb der ungarischen Grenzen bleibt und wollen daher die Russen nicht provozieren. Ungarn ist nicht Polen. Die dominante Tradition der Vorsicht kommt aus der Zeit der kommunistischen Diktatur der János Kádár Epoche und nicht vom Heroismus der Revolution im Jahre 1956. Orbán kann wieder einmal mit der Angst der Ungarn spielen.

Aber er hat auch ein Problem. Denn der Krieg in der Ukraine zwang ihn zu einem politischen Spagat: Zwar unterstützte er die gemeinsame Position der Europäischen Union und stimmte für die neuen Sanktionen gegen Russland, jedoch unterstützt ca. die Hälfte der Fidesz-Wähler Putin, während die andere Hälfte gegen ihn ist. Ein großer Teil der regierungstreuen Medien spricht daher die erste Gruppe an, während einige Fidesz-Politiker sich der zweiten Gruppe widmen. Orbán selbst spricht, ohne Namen zu nennen, über den Frieden. Diese Kakofonie ist für seine Anhänger kompliziert, wird aber durch ein gemeinsames Feindbild und eine gemeinsame Mission zusammengehalten, und zwar die eigene Identität gegen den „repressiv-liberalen, links-kommunistischen Kulturkreis“ zu verteidigen.

Ich würde gerne hinzufügen, dass Orbán diese Äußerung aus einer höchst provinziellen und moralisch nicht zu rechtfertigenden Perspektive gemacht hat. Es gibt keine Politiker in den benachbarten kleineren Ländern, die sich so feige geäußert haben. Orbáns Vorstellung, dass die Ukraine eine Art Pufferzone sein soll, ruft in mir eine Wut hervor, wie ich sie das letzte Mal vor dreißig Jahren spürte, als Ungarn zunächst nur eine Partnerschaft in der NATO empfohlen wurde und keine Mitgliedschaft erhalten sollte. Orbán scheint dies alles offenbar verdrängt zu haben.

Was bedeutet Orbáns Positionierung zum russischen Angriff auf die Ukraine für seine Bündnisse in Europa, z. B. mit Polen oder den rechtsextremen bzw. rechtspopulistischen Parteien in Frankreich oder Italien?

Obwohl sich Orbán mittlerweile den Positionen der EU angeschlossen hat, verhärtet sich der Verdacht, dass der ungarische Ministerpräsident die weltweite Empörung über den russischen Überfall auf die Ukraine nicht teilt und seine besondere Beziehung zum russischen Machthaber langfristig aufrechterhalten will. Die zahlreichen Fidesz-Anhänger aus Polen sind anlässlich des ungarischen nationalen Festtages nicht nach Budapest gefahren, um gemeinsam - wie in den letzten Jahren - zu demonstrieren. Es gibt viele klare Anzeichen, dass die Freundschaft und Allianz zwischen der ungarischen und polnischen Regierung mindestens schwer gestört, wenn nicht zerbrochen ist. Dass sie beim Thema Russland unterschiedliche Positionen vertreten, ist keine Neuigkeit, aber momentan ist die Putin-Frage das einzige Thema für Mitteleuropa, das alle anderen Themen in den Hintergrund drängt.

Orbán ist zunehmend isoliert. Es gibt jetzt eine neue Wirklichkeit. Vor einigen Jahren haben ihn die ungarischen regierungsfreundlichen Medien als den neuen starken Mann Europas dargestellt. Damals hat Orbán mit seinem ideologischen Sonderweg eine radikale Alternative zu den Mainstream-Positionen der politischen Eliten geschaffen und auf dem Höhepunkt der Migrationskrise sogar die Mitglieder der europäischen politischen Familie des rechten Zentrums verführt. Mit seiner Strategie, die Macht innerhalb der EVP zu ergreifen, ist er jedoch gescheitert. Obwohl er immer ein Troublemaker war, ist Orbán heute ein ziemlich isolierter Störenfried. Die Trennlinie zwischen seiner Partei und dem Mainstream der europäischen Demokraten ist in den letzten Jahren auch im Hinblick auf die Zukunft der Europäischen Union durch die konfrontative, sich auf die nationale Souveränität beziehende Sprache und die Angriffe auf „Brüssel“ glasklar geworden – ebenso wie durch die anhaltenden Konflikte mit den europäischen Institutionen über die Rechtsstaatlichkeit, konstitutionelle Gewaltenteilung, Medienpluralismus, akademische Freiheit, Korruption und so weiter: Die Liste kennen wir zu gut.

Falls Orbán im April gewinnt, würde er wahrscheinlich alles tun, um eine neue populistische Internationale (eine sogenannte Renaissance-Gruppe im Europäischen Parlament) ins Leben zu rufen. Es wäre eine Vogelstraußpolitik, ihn jetzt schon als Verlierer auf der internationalen Ebene zu erklären. Die Trennlinie zwischen den liberalen Demokraten auf der einen Seite und den autoritären Populisten auf der anderen ist nicht verschwunden. Ein Bündnis der populistischen Rechtsparteien darf man trotz der ideologischen und persönlichen Unterschiede zwischen den einzigen Parteipolitikern nicht unterschätzen. Donald Trump kann auch zur Macht zurückkehren. Seine Freundschaft mit Orbán ist heute viel tiefer als noch vor vier Jahren während Trumps Präsidentschaft. Demokraten jeder Couleur sollten sich auch auf ein negatives Szenario vorbereiten, in dem der ungarische charismatische Politiker wieder eine wichtige Rolle spielen könnte.

Wie schätzen Sie die Chancen der vereinigten Opposition in Ungarn ein? Vor welchen Herausforderungen stehen die Oppositionsparteien im Vorfeld der Parlamentswahl und vor welchen, falls sie gewinnen?

Die ungarische Opposition spricht sich für ein zukünftig loyales Verhältnis zur Europäischen Union und der NATO aus sowie für den Aufbau eines neuen konstruktiven Mitteleuropas und der Visegrad-Kooperation innerhalb der EU. Natürlich will die Opposition im Falle eines Wahlsiegs mit dem Erbe Orbáns brechen. Allerdings werden die Verfassungsänderungen, die von Fidesz in den letzten zwölf Jahren verabschiedet wurden, einige sofortige Änderungen höchstwahrscheinlich nicht ermöglichen, da dafür eine Zweidrittelmehrheit nötig wäre. Ein neuer politischer Kurs mit dynamischer politischer Kommunikation könnte aber größere Unterstützung bekommen. Es ist noch ziemlich früh, darüber zu spekulieren, ob ein Sechs-Parteien-Bündnis unter Führung von Péter Márki-Zay in einer Regierung wird zusammenarbeiten können oder nicht. Aber zunächst muss die Opposition erst einmal die Wahl gewinnen.

Und das wird nicht einfach sein. Obwohl die Oppositionskandidaten in Budapest in allen Wahlkreisen gewinnen können, wählt man auf dem Lande gewöhnlich die Regierungspartei. Die Polarisierung ist extrem groß: Es gibt nur noch wenige Unentschlossene, die man für sich gewinnen kann. Die Opposition möchte gerade diese Wähler erreichen. Aber wie? Die einzige Chance steht und fällt mit dem Kandidaten der vereinigten Opposition. Péter Márki-Zay, ein konservativer, ich würde sagen, konservativ-liberaler Bürgermeister brachte für eine Weile Elan in den Wahlkampf der Opposition und die sechs Parteien waren „in Vielfalt geeint“. Aber es ist schnell klar geworden, dass die gute Positionierung des Spitzenkandidaten eine notwendige, aber vielleicht keine ausreichende Bedingung für den Sieg ist. Man braucht nicht nur ein gemeinsames Wahlprogramm, sondern auch eine Vision, eine mobilisierende Erzählung jenseits vom unvermeidbaren Orbán-Bashing. Das ist besonders wichtig, wenn die Wahlen vielleicht frei, aber nicht fair sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Márki-Zay hat insgesamt fünf Minuten in den öffentlichen Medien für seinen Wahlkampf bekommen, um seine Ideen vorzustellen.

Die Opposition wird etwas Glück brauchen. Insbesondere angesichts des Krieges in der Ukraine. Die „Stunde der Exekutive“, die Regierungen in Krisenzeiten stärkt, hilft möglicherweise auch Orbán. Aber es ist noch Zeit bis zur Wahl: Und kämpfen lohnt sich bis zum Schluss! Dann würden wir endlich nach zwölf Jahren zum Geist von 1989 zurückkehren. Sonst kommen dunkle, depressive Zeiten für die ungarische liberale Demokratie. Bei dieser Wahl stehen unsere Werte, unsere Zukunft – und nicht nur für Ungarn – auf dem Spiel.

Dr. István Hegedűs ist der Leiter der Hungarian Europe Society (HES), einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Budapest. Seit der Jahrtausendwende hat die HES zahlreiche Konferenzen und Workshops zu aktuellen internationalen Themen organisiert, insbesondere zu Fragen der Europäischen Union. Hegedűs wurde gleich zu Beginn des ungarischen Regimewechsels politisch aktiv. Im Jahr 1989 nahm er als Delegierter der Oppositionsgruppen an den nationalen Rundtischgesprächen zum Übergang zur Demokratie teil. Während der Gespräche war er ständiges Mitglied des Medienausschusses. Im Jahr 1990 wurde er Mitglied des ersten frei gewählten ungarischen Parlaments und war stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. Danach war Hegedűs als freier Wissenschaftler und Dozent an verschiedenen Hochschulen tätig. Unter anderem hielt er Kurse über ungarische und europäische Politik für Studenten, die am Auslandsstudium-Programm der Universität von Kalifornien (UCEAP) und Eötvös-Loránd-Universität in Budapest teilnahmen. Seinen Doktortitel in Soziologie erwarb er 2004 an der Corvinus-Universität in Budapest.

Toni Skorić ist Projektmanager für Mitteleuropa und die baltischen Staaten im Stiftungsbüro in Prag.