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Krieg in Europa
Ukraine: Zusammen sind wir stark!

Italien Demos

picture alliance / Kontrolab | Salvatore Laporta/KONTROLAB / ip

 

In ganz Europa gingen am Wochenende Menschen gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße. Ein wichtiges Zeichen der Solidarität an alle Ukrainer. Auch an die knapp drei Millionen Ukrainer, die laut Schätzungen im europäischen Ausland arbeiten. Sie bangen um ihre Angehörigen und bemühen sich nach Kräften, den Widerstand ihres Volkes aus der Ferne zu unterstützen. Ein Einblick am Beispiel Italiens.

Im Angesicht des schrecklichen Angriffskrieges rückt die Ukraine nicht nur auf ihrem eigenen Territorium, sondern in der ganzen Welt zusammen. Das Volk beweist eine beeindruckende Improvisation und Selbstorganisation: Während in der Ukraine die Menschen erbitterten Widerstand leisten, auf dem Dorfplatz gemeinsam Molotow-Cocktails bauen und für die Blutspenden in Kellergewölben Schlange stehen, setzen sich die Auslandsukrainer unermüdlich aus der Ferne für ihre Landsleute ein. Knapp drei Millionen Ukrainer arbeiten laut Schätzungen im europäischen Ausland und stellen die größte externe Erwerbsbevölkerung in der EU. Mindestens zehn Millionen Menschen soll die Ukraine seit den 90er Jahren schon durch Abwanderung verloren haben – mit dem Krieg wird der Trendweiter zu nehmen.

Lange Zeit suchten vor allem Menschen aus der strukturschwachen Westukraine Arbeit in der EU; aus den anderen Landesteilen war meist Russland das Ziel. Ein Wendepunkt war das Jahr 2014, als die Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnete, Russland die Krim annektierte und der Konflikt im östlichen Donbass begann. Die ukrainischen Migrationsmuster verschoben sich schlagartig nach Westen.

Italien zieht in Südeuropa mit Abstand die meisten Menschen aus der Ukraine an. Nach mehreren Migrationswellen gibt es laut der letzten ISTAT-Volkszählung in Italien rund 236.000 von ihnen - Menschen ohne Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis nicht mitgerechnet. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen (Schätzungen gehen von rund 600.000 aus). Mit der zu erwartenden Flüchtlingswelle könnten noch einmal Hunderttausende hinzukommen. Meist sind es Frauen und Kinder, die die Grenze nach Polen überqueren (ca. 280.000) und die Zahl derer, die nach Italien oder in andere EU Staaten weiterreisen, wird mit jedem Tag des Konflikts steigen.

Von Nord bis Süd kamen am Wochenende auch in den Städten des Stiefels tausende Menschen zusammen, um gegen den Krieg in der Ukraine zu protestieren - Florenz, Bologna, Modena, Bozen, Parma, Reggio Emilia, Padua, Verona, Mailand und Rom. Es sind in Italien vor allem die ukrainischen Frauen, die demonstrieren, zu Spendenaktionen aufrufen, Hilfsaktionen organisieren, aufklären und psychologische und materielle Unterstützung leisten. Italien ist seit vielen Jahren ein besonderes Beispiel für die „Feminisierung der Migration“. Die ukrainische Community weist das größte Geschlechtergefälle unter allen Ausländern in Italien auf; 80-90 % der in Italien arbeitenden Ukrainer sind weiblich.

Die Gründe dafür sind eine Kombination aus verschiedenen Faktoren. Aufgrund des demografischen Wandels (Italien gehört zu den Ländern mit der ältesten Bevölkerung in Europa), sich verändernden Familienstrukturen und einem traditionell großen informellen Arbeitsmarkt ist der Bedarf in Italien an günstigen Arbeitskräften aus dem Ausland viel höher als in anderen europäischen Staaten. Häusliche Betreuungsarbeit wird in Italien nach wie vor allem an Frauen übertragen. Da auch Italienerinnen ein berufsorientiertes Leben führen und es einen großen Mangel an staatlichen Betreuungseinrichtungen gibt, werden Dienstleistungen für den Haushalt an – meist irreguläre – Migrantinnen ausgelagert. Die Ukraine ist der wichtigste Exporteur von Pflegekräften nach Italien; ohne sie würde der Pflegesektor zusammenbrechen.

Der geschlechtsspezifischen Nachfrage auf dem italienischen Arbeitsmarkt stehen ein extremes Lohngefälle und schwierige sozioökonomische Bedingungen im Herkunftsland der Frauen gegenüber. Die Ukraine ist ein Land in der Transformation; die wirtschaftliche Situation ist schwierig und die Verstrickung von Oligarchen in Korruption und Politik blockiert das Entstehen eines freien Unternehmertums und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Bildung einer Mittelschicht. Die Korruption durchzieht alle Gesellschaftsschichten; im Korruptionswahrnehmungsindex belegt die Ukraine trotz kleiner Fortschritte Platz 122 von 180 untersuchten Ländern. Die Arbeitslosenrate ist zwar moderat, doch die Löhne in der Ukraine reichen kaum zum Leben (Durchschnittslohn 2021 knapp 370 Euro). Frauen verdienen im Durchschnitt noch weniger als Männer und ihre Situation noch prekärer.

Zur Sicherung eines besseren Lebensstandards für ihre Familie begeben sich zahlreiche Ukrainerinnen für die Arbeit ins nahe EU-Ausland; um das Haus zu renovieren, eine Wohnung zu kaufen oder das Studium ihrer Kinder zu bezahlen. In der Ukraine, vor allem in der Westukraine, wachsen geschätzte 200.000 „Migrationswaisen" ohne einen oder beide Elternteile auf. Viele Mütter haben aufgrund mangelnder legaler Migrationswege ihre Kinder z.B. bei den Großeltern in der Ukraine zurückgelassen. Nun wurden sie vom Einmarsch der Russen völlig überrascht und bangen um das Leben ihrer Kinder und Angehörigen.

Vom Ausland aus setzen sie sich für die Organisation der Flucht und Aufnahme im Zielland ein. Den über die Jahre durch die Auslandsukrainer aufgebauten transnationalen – zum großen Teil informellen –  Netzwerken kommt dabei eine besondere Rolle zu. Sie ermöglichen flexible und schnelle Reaktionen auf rasche Veränderungen und Krisen, da Probleme innerhalb informeller Netzwerke auf individueller Ebene gelöst werden können und keine langen bürokratischen Verfahren und Registrierungen durchlaufen müssen. Migration erzeugt Migration – d.h. persönliche Netzwerke erzeugen häufig einen "Schneeballeffekt", da sie Migrationsströme stabilisieren oder ausweiten. Infolgedessen haben sich mithilfe moderner Kommunikations- und Transporttechnologien umfangreiche Dienstleistungssysteme entwickelt, wie z.B. das Netz ukrainischer Minibusse, die zu Friedenszeiten nicht nur Personen, sondern auch Waren transportieren und die Funktion eines nationalen Postdienstes zwischen Italien und der Ukraine erfüllen. Nun bringen sie geflüchtete Menschen zu ihren Verwandten und Freunden ins sichere Ausland und gespendete Hilfsgüter in die Ukraine. Über digitale Plattformen werden Sachspenden verwaltet, „Evakuierungs-Mitfahrgelegenheiten“ vermittelt und Bulletins mit den Toten und Verwundeten veröffentlicht.

Auch dutzende Russen und Belarussen im Ausland bekunden ihre Ablehnung für das russische Vorgehen. In der EU können sie sich freier äußern als in ihren Heimatländern und betonen: „Not in my name“! Viele Ukrainer haben russische Verwandte und sind zweisprachig. „Surshik“ beschreibt die in der Ukraine vielgesprochene Mischsprache zwischen Russisch und Ukrainisch. Umso größer ist die Ungläubigkeit und das Entsetzen und über das unglaubliche Ausmaß der Aggression des russischen „Brudervolks“. So auch bei Katya, einer Lehrerin aus Kyiv, die am Wochenende nach Irpen floh: „Noch bis Mitte letzter Woche habe ich ein ganz normales Leben geführt. Ich habe sogar noch Pläne für das Wochenende geschmiedet“. Von einer möglichen militärischen Offensive von Putin habe sie gewusst; aber sie sei wie alle davon ausgegangen, dass sie nur im Osten erfolgen würde. Der Krieg gegen friedliche Bürger beschleunigt die ukrainische Identitätsbildung und Einigung.

Die Solidaritätsbekundungen und Anteilnahme aus der ganzen Welt sind für die Ukrainer und Ukrainerinnen im In- und Ausland von ungeheurer Bedeutung. Die Bilder der blau-gelb angestrahlten Wahrzeichen rund um den Globus werden im ukrainischen Fernsehen rauf und runter gezeigt. Katya konnte den Keller, in dem sie ausharrt, noch nicht verlassen, doch sie will bald zu ihrer Tante nach Italien. Sie sagt: „Geht bitte alle demonstrieren. Die Demos haben viele Menschen bewegt, sowas gibt den Ukrainern Kraft! Die Hauptsache ist, dass wir jetzt nicht schweigen! Jeder Mensch, der bereit ist, sich für die Ukraine einzusetzen, ist wichtig!“