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Niedersachsen
Sorgen im Norden

Eine Wahlanalyse zur Landtagswahl Niedersachsen 2022 von unserem Experten Thomas Volkmann
Niedersachsen
© picture alliance/dpa | Marcus Brandt

Der Ausgang der Landtagswahl in Niedersachsen wirft mehr Fragen auf, als Antworten gegeben werden. Die Umfragen von Infratest dimap zeigen eine von Ängsten und Unsicherheiten geprägte Stimmungslage im Land, aber die Ergebnisse zeigen keine Suche nach gesicherten Verhältnissen. Starke Zugewinne verzeichnen unter anderem die, die keine Problemlösungen anbieten, sondern Ängste schüren.

Das nüchterne Ergebnis

Stärkste Partei wird die SPD, die auch die bisherige Große Koalition mit der CDU angeführt hatte. Die Sozialdemokraten kommen dabei mit 33,4 Prozent allerdings auf ihr historisch drittschlechtestes Ergebnis im Land und büßen gegenüber der vorherigen Wahl -3,5 Prozentpunkte ein. Damit kommen sie allerdings besser davon als die CDU, die zur vorherigen Landtagswahl in Niedersachsen gleich –5,6 Prozentpunkte verliert und mit 28,1 Prozent der Wählerstimmen ebenfalls auf historischem Tiefstand landet.

Die höchsten Zugewinne verzeichnen die Grünen, die um 5,8 Punkte auf 14,5 Prozent steigen – damit aber durchaus deutlich unter ihren nach den Meinungsumfragen im Vorfeld für möglich gehaltenen Ergebnis bleiben.

Deutliche Zugewinne hat auch die AfD, die sich auf 10,9 Prozent steigert (+4,8).

Deutlicher Wahlverlierer unter den im Bundestag vertretenen Parteien ist zum einen Die Linke, die nur auf 2,7 Prozent der Stimmen kommt (-1,9). Deutlich an Wählerstimmen verliert auch die FDP, die am Wahlabend lange auf 5 Prozent liegt, nach dem vorläufigen Ergebnis dann aber mit 4,7 Prozent (-2,8) den Einzug ins Landesparlament verfehlt.

Unter den „Sonstigen“ kommen nur die Tierschutzpartei (1,5 Prozent) und die rechtsextreme Partei „dieBasis“ mit 1,0 Prozent auf ein nennenswertes Ergebnis.

Die Wahlbeteiligung liegt mit 60,3 Prozent deutlich (-2,8) unter der Quote der letzten Landtagswahl.

Hintergründe

Gespeist wird das Ergebnis vor allem durch die persönliche Wertschätzung vieler Menschen im Land für den bisherigen Ministerpräsidenten Stephan Weil, der in den Befragungen von Inratest dimap auf gute Werte kam. Die bisherige Landesregierung hingegen wird abgewatscht und verliert mehr als 9 Prozentpunkte zur vorherigen Wahl.

Wichtigster Bestimmungsgrund für den Wahlausgang dürfte eine deutlich verbreitete Stimmung im Land sein, die zum einen von Sorgen und Ängsten über die Situation auch im Land, und zum anderen von Kritik an und Misstrauen gegenüber der Bundesregierung geprägt ist. Die Vorwahlbefragung von Infratest dimap, wenige Tage vor der Wahl, zeigt hier klare Tendenzen:

  • So wurde kurz vor der Wahl die wirtschaftliche Lage im Land nur von insgesamt 44 Prozent der Befragten als sehr gut bzw. gut bewertet – vor der Landtagswahl 2017 galt das für 80 Prozent. Interessanter Weise waren dabei die Anhänger von Grünen und SPD deutlich positiver gestimmt als diejenigen von CDU und FDP.
  • Nur 43 Prozent der Befragten in Niedersachsen bewerteten die Verhältnisse in Deutschland als „eher gerecht“ (-17 zu 2017), 51 Prozent (+16) dagegen als „eher ungerecht“ – und auch hier sind die Unterstützerinnen und Unterstützer von CDU und FDP deutlich negativer eingestellt als diejenigen von Grünen und SPD.
  • Mit der Demokratie äußerten sich nur noch 59 Prozent (-13 zu 2017) sehr zufrieden bzw. zufrieden; 39 Prozent (+11) waren gegenteiliger Auffassung. Auch hier zeigen die Wählerschaften von SPD und Grünen eine deutlich höhere Zufriedenheit.
  • Auf die Frage, ob „die Verhältnisse derzeit in Deutschland eher Anlass zur Zuversicht oder eher Anlass zur Beunruhigung geben“, sahen nur 21 Prozent Zuversicht, aber 79 Prozent Beunruhigung. Während die Unterstützerinnen und Unterstützer von Grünen (34 Prozent), SPD (29 Prozent), FDP (25 Prozent) und CDU (22 Prozent) leicht überdurchschnittlich zuversichtlich waren, zeigte sich hier der Kern der AfD-Wählerschaft mit einer Quote von 4:93 extrem pessimistisch.
  • Die Menschen in Niedersachsen äußerten große Sorgen: Jeweils 73 Prozent fürchteten, dass „Einkommen und Wohlstand in Deutschland spürbar sinken“ und „eine große Wirtschaftskrise bevorsteht“ – bei beiden Fragen sind die Wählerinnen und Wähler der FDP weit vorne. 60 Prozent befürchteten, dass die Preise so stark steigen, dass Sie Ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können; 52 Prozent befürchteten, dass „die Energieversorgung in Deutschland im nächsten Winter nicht gesichert ist“ – auch hier liegt die FDP-Klientel überdurchschnittlich.
  • Mit der Arbeit der Bundesregierung zeigten sich nur 43 insgesamt zufrieden, während sich 54 Prozent unzufrieden äußerten. Die Zufriedenheitsquote in Niedersachsen liegt damit allerdings weit über der im Bund gemessenen Zufriedenheit von nur 29 Prozent. Hier wird eine Grundlage des regionalen Wahlergebnisses deutlich: Die Wählerschaften von Grünen (82 Prozent) und SPD (72 Prozent) in Niedersachsen sind weit überdurchschnittlich zufrieden, während die Unterstützerinnen und Unterstützer der FDP bei dieser Wahl nur zu 16 Prozent zufrieden, aber zu 78 Prozent unzufrieden mit der Ampelkoalition in Berlin sind.
  • Inhaltlich kritisierten gleich 80 Prozent der Befragten in Niedersachsen, die Bundesregierung „müsste viel schneller Entscheidungen treffen als bisher“. 68 Prozent forderten, „die Bundesregierung sollte anstelle von Maßnahmen für alle nur gezielt den Menschen helfen, die es wirklich nötig haben.“ 58 Prozent sagten, „die Bundesregierung ändert in der aktuellen Krise zu oft ihren Kurs“.

Die Zufriedenheit mit der Arbeit der rot-schwarzen Landesregierung erreichte in der Vorwahlbefragung mittelmäßige Werte:

  • 56 Prozent der Befragten äußerten sich insgesamt zufrieden, was Platz 8 in der Ländertabelle bedeutet.
  • Mit der Arbeit des bisherigen Ministerpräsidenten Weil waren 63 Prozent zufrieden, 67 Prozent hielten ihn für einen guten Ministerpräsidenten – auch dies im Ländervergleich mittelmäßige Werte, aber die wohl entscheidende Komponente für den Wahlerfolg der SPD bei dieser Wahl. 

Gute Imagewerte verzeichnen die Grünen, nachweislich der Infratest dimap-Vorwahlbefragung:

  • 60 Prozent der Befragten in Niedersachsen sagten „Die Grünen vertreten Werte, die mir persönlich wichtig sind“.
  • 48 Prozent sagten „Die Grünen stehen für Aufbruch und Erneuerung“.
  • 47 Prozent sagten „Ich fände es gut, wenn die Grünen in Niedersachsen an der Regierung beteiligt wären“ – das sind allerdings 21 Prozentpunkte weniger als vor der Wahl 2017.

Das Prinzip des „Rally around the flag“, also des Versammelns hinter den Regierenden oder zumindest hinter den zahlenmäßig großen Parteien gerade in Krisenzeiten, hat bei dieser Wahl nicht funktioniert:

  • SPD und CDU als die bisherigen Regierungsparteien haben zusammen -9,1 Prozentpunkte verloren. Offensichtlich haben die Wählerinnen und Wähler dieser Kombination eine Lösung der vordringlichen Probleme nicht zugetraut
  • Die SPD erreicht ihr historisch drittschlechtestes Ergebnis bei einer Landtagswahl in Niedersachsen.
  • Die CDU wird nicht als Alternative für eine Führung der Landesregierung gesehen – sie verliert -5,6 Prozentpunkte und kommt auf ihr schlechtestes Ergebnis seit 1955.
  • Die Grünen können – auch bei dieser Wahl – ihre sehr guten Umfrageergebnisse nicht bestätigen, auch wenn sie sich deutlich steigern und ihr bestes Ergebnis bei einer Landtagswahl in Niedersachsen erreichen. Es reicht zum kleineren Koalitionspartner.

Die FDP bekommt den Unmut über die Berliner Ampelkoalition voll ab:

  • 56 sagten kurz vor der Wahl bei Infratest dimap, „Die FDP blockiert in der Bundesregierung wichtige Entscheidungen.“
  • Nur 21 Prozent sagten „Die FDP steht für Aufbruch und Erneuerung“.
  • Nur 30 Prozent sagten „Ich fände es gut, wenn die FDP in Niedersachsen an der Regierung beteiligt wäre“ – das sind gleich 23 Prozentpunkte weniger als vor der Wahl 2017.
  • In der Folge verlieren die Freien Demokraten laut Infratest dimap 40.000 bisherige Wählerinnen und Wähler an die AfD, deren einziges Sujet der Protest ist.

Die AfD steigert sich auf 10,9 Prozent der abgegebenen Stimmen, profitiert dabei vor allem von Wählerwanderungen aus der CDU, der FDP und der SPD, kann aber auch eine erhebliche Zahl an ehemaligen Nichtwählern an sich binden.

Die Linke implodiert in einem weiteren westlichen Bundesland – Protest wandert scheinbar nur noch nach rechts.

Fazit

Es wird nicht nur für die meisten Parteien, sondern auch für politische Analysten lange dauern, das Ergebnis dieser Landtagswahl zu verarbeiten. Ein krisengeschütteltes und von konkreten Sorgen geplagtes Wahlvolk, das den bisher etablierten großen Parteien die Lösung der Probleme nicht mehr wirklich zutraut, wendet sich in großen Teilen entweder ab (sinkende Wahlbeteiligung) oder stärkt den reinen Protest (AfD). Die Partei, die sich am meisten dem Optimismus und dem Vertrauen in die Zukunft verschrieben hat, wird abgestraft und abgewählt. Protestwähler wandern fast ausschließlich nach rechts. Die Grünen sind die einzigen, die ihre Wählerschaft auch in der gegenwärtigen Krisenstimmung halten und sogar ausbauen können, weil ihre Wählerschaft mehr als bei den anderen Parteien nach dem Grundsatz „My party – right or wrong“ abstimmt. Die Politik wirkt in ihrer Agenda wie durch übergeordnete Ereignisse (Ukraine, Energiesicherheit, Inflation) fremdgesteuert und schwer beherrschbar – das vor allem ist kein gutes Zeichen.

Thomas Volkmann ist stellvertretender Leiter des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.