EN

Türkei
Neuer Krieg? Erdogan, Putin und der blutige Kampf um Idlib

Ob es zu einem Schlagabtausch zwischen den beiden Mächten kommt ist ungewiss, analysiert unser Türkei-Experte Dr. Ronald Meinardus.
Türkische Panzer in Nordsyrien
Türkische Panzer bei der Operation „Friedensquelle” in Nordsyrien. © picture alliance / abaca

Das türkisch-russische Verhältnis ist in diesen Tagen besonderen Belastungen ausgesetzt: Unlängst anlässlich seines Besuches am Bosporus noch gefeiert, mutierte Kreml-Chef Wladimir Putin über Nacht zum Buhmann in den weitgehend gelenkten Medien der Türkei. 

Auch Präsident Erdogan stimmte in den Chor der Russland-Kritiker ein. Auslöser der Verstimmung sind Ereignisse im türkisch-syrischen Grenzgebiet. In der letzten Rebellenhochburg, der nordsyrischen Provinz Idlib, kamen bei Angriffen von Regierungstruppen 14 türkische Soldaten ums Leben. Im Lichte der engen militärischen Zusammenarbeit zwischen Damaskus und Moskau trage – so die türkische Lesart – Russland eine Mitschuld: „Das Zombie-Regime (in Damaskus) steht unter Kontrolle des Iran und vor allem Russlands“, lautete die Zuordnung  in der regierungsfreundlichen Zeitung Daily Sabah

Der Tod der Soldaten führte zu einem Ruf nach Vergeltung. Devlet Bahceli, Anführer der nationalistischen MHP und treuer Koalitionspartner Erdogans, forderte den Angriff auf die syrische Hauptstadt: „Die türkische Nation sollte in Damaskus einmarschieren“, verlangte der für seine kämpferische Rhetorik berüchtigte Politiker. 

Erdogan äußerte sich verhaltener und betonte die besondere politische Bedeutung der militärischen Entwicklungen im Nachbarland: „Der Angriff auf unsere Soldaten ist ein Wendepunkt für uns in Syrien“, so der Präsident. „Wir werden die Streitkräfte des Regimes von nun an überall angreifen. Wir werden dies mit allen nötigen Mitteln tun – in der Luft und auf dem Land.“ Gleichzeitig verstärkte Ankara seine Truppenpräsenz in und um Idlib. Türkische Medien zeigten Bilder von Truppenkonvois und dem Transport von Fahrzeugen über die Grenze. 

Der Türkei geht es zunächst darum, ihre zwölf so genannten Beobachtungsposten auf syrischem Boden zu sichern. Diese hatte Ankara im Zuge einer russisch-türkischen Vereinbarung von 2018 in der Provinz Idlib eingerichtet. Die Posten sollen verhindern, dass die Truppen Assads weiter in die deklarierte „De-Eskalationszone“ im Nordwesten des Landes vordringen. Damaskus hat sich nicht an die Waffenruhe gehalten und in den zurückliegenden Wochen im Schulterschluss mit der russischen Luftwaffe weite Gebiete der Provinz unter seine Kontrolle gebracht. Laut Medienberichten sind drei der zwölf türkischen Beobachtungsposten von syrischen Truppen umzingelt; von der Gefahr einer „Geiselnahme“ ist die Rede. 

Unterdessen hat Ankara zum Gegenschlag ausgeholt: Bei Angriffen des türkischen Militärs sind nach Angaben des Verteidigungsministeriums 76 Regierungssoldaten getötet worden. Präsident Erdogan stellte zudem ein Ultimatum: „Wenn das syrische Regime nicht bis Ende Februar von den türkischen Beobachtungsposten zurückweicht, wird die Türkei (die Belagerer) vertreiben.“ Somit droht eine militärische Eskalation, die über die aktuellen Scharmützel hinausgeht. Damit verbunden ist das - aus türkischer Sicht - worst case-Szenario einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland, der Schutzmacht des Assad-Regimes.

Aller Unabwägbarkeiten in dieser chaotischen Situation zum Trotz, halten politische Beobachter in der Türkei die Eventualität eines derartigen Flächenbrandes für eher gering: „Unter allen Nachbarn gibt es ein Land, vor dem die Türkei Angst hat: Russland,“ argumentiert Soner Cagaptay, Autor eines aktuellen Buches über die türkische Außenpolitik im Nahen Osten. „Zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert haben die beiden Völker beinahe zwanzig Kriege geführt, alle wurden von Russland angezettelt und alle von Russland gewonnen“, so Cagaptay. Der türkischen Regierung sei nicht daran gelegen, die aktuelle Krise in Idlib zu eskalieren, sagt der türkische Politologe und kommt zu dem Schluss: „Ankara wird vor einer militärischen Konfrontation mit Russland über Idlib zurückschrecken".

Auch wenn es nicht nach einem direkten Schlagabtausch zwischen Moskau und Ankara in Syrien aussieht, trennen Welten die Strategien der beiden Länder in der Syrien-Politik. Während Wladimir Putin alles in Bewegung setzt, damit sein Schützling Bashar al-Assad am Ende als Sieger dasteht und dabei dessen Vernichtungspolitik konsequent unterstützt, strebt der türkische Präsident eine Lösung des Konflikts ohne Assad an: „Sollte das Regime die vollständige Kontrolle über Syrien erreichen, werden die Sicherheit und die Stabilität der Türkei bedroht sein“, sagte Erdogan in diesen Tagen. Deutlicher wurde Fahrettin Altun, der Sprecher des Präsidenten: Es sei nicht möglich, einen dauerhaften Frieden in Syrien herzustellen ohne den Sturz des Regimes in Damaskus, so der Vertraute Erdogans. „Der künftige Platz von Bashar Al-Assad ist nicht der Präsidentenpalast, sondern der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag.“

Auf der Suche nach politisch-diplomatischem Beistand verweist die türkische Regierung einmal mehr –  nicht ohne Berechtigung – auf die eskalierende humanitäre Katastrophe vor der eignen Haustür. Die koordinierten russisch-syrischen Angriffe in und um Idlib haben den Tod von Tausenden Zivilisten gefordert. Die Attacken haben zudem neue Fluchtbewegungen in der eingekesselten Provinz in Gang gesetzt. Die Vereinten Nationen berichten, dass seit Dezember 700 000 Menschen auf der Flucht in Richtung türkische Grenze sind. „Dies ist die größte Vertreibung in dem schlimmsten Krieg in unserer Generation“, sagt Jan Egeland vom Norwegischen Flüchlingsrat NRC. 

Derweil haben die türkischen Behörden begonnen, auf der syrischen Seite der Grenze 25 000 Steinhäuser für die syrischen Binnenflüchtlinge zu errichten. Hierfür hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Arbeitsbesuch in Istanbul Ende Januar € 25 Millionen Finanzhilfe zugesagt. Angesichts der großen Zahl der Schutzsuchenden ist dies nur ein kleiner Beitrag, ja der vielzitierte Tropfen auf den heißen Stein. Gleichwohl ist die deutsche Unterstützung für das türkische Bauprojekt auf syrischem Boden ein diplomatischer Erfolg für Ankara. Ginge es nach den Wünschen Erdogans würde der Westen entlang der Grenze –  auf syrischer Seite – weitere Siedlungen für syrische Flüchtlinge finanzieren. In diese könnte Ankara dann auch Flüchtlinge zurückführen, die seit Jahren in der Türkei leben. 

Die türkischen Medien kündigen derweil eine neue Bewegung von Schutzsuchenden aus Syrien an und wiederholen weitgehend unisono, dass die Aufnahmekapazität ihres Landes angesichts der rund vier Millionen Flüchtlinge in der Türkei erschöpft sei. Die Kommentare, die im Tonfall frühere Ausführungen des Präsidenten widerspiegeln, enthalten eine nicht zu überhörende Warnung an Europa: 

„Europa ist noch gleichgültig“, mahnt Ozan Ceyhun in „Daily Sabah“. „Ein neuer Zustrom von drei Millionen Flüchtlingen ist derzeit von Syrien unterwegs. Die EU sollte sich dieses Mal nicht auf die Türkei verlassen.“ Die Flüchlinge – so Ceyhun – haben nur ein Ziel: „In die reichen europäischen Länder zu gelangen.“

 

Dieser Artikel erschien erstmalig am 19.02.2020 bei Focus Online

 

Dr. Ronald Meinardus ist Projektleiter des Stiftungsbüros in der Türkei mit Sitz in Istanbul.