EN

Internationale Politik
Neue Studie zur Sicht der Türkei auf Europa und die Europäische Union

zwei Hände halten jeweils ein Puzzleteil von Europa und der Türkei
© picture alliance / blickwinkel/McPHOTO/K. Steinkamp | McPHOTO/K. Steinkamp

Sicht auf Europa

Die Türkei und die EU verbindet eine lange Geschichte. Bereits im Jahr 1964 unterschrieb das Land ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorgängerin der EU, ein erster Schritt in Richtung Europa und EU. Nachdem sie sich 1987 offiziell um einen EU-Beitritt bewarb, dauerte es noch bis 1999, bis der Türkei der Kandidatenstatus gewährt wurde. Die EU-Beitrittsverhandlungen wurden noch einmal sechs Jahre später, im Jahr 2005, aufgenommen. Damit hat die Türkei einen einzigartig langen Beitrittsprozess hinter sich, der jedoch während der nunmehr 20-jährigen Regierungszeit Recep Tayyip Erdoğans und seiner AKP ins Stocken geraten ist und inzwischen auf Eis liegt.

Die Studie "die Sicht auf Europa und die europäische Union in der Türkei", mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit durchgeführt von Prof. Mustafa Aydın, Leiter des Expertennetzwerks Global Academy und Professor für Internationale Beziehungen an der Kadir Has Universität, zeigt nun, wo sich die Türkinnen und Türken im Land zu Europa und zur Europäischen Union in politischer, wirtschaftlicher und sozio-kultureller Hinsicht verorten. Befragt wurden 1.000 Personen im Alter von 18-64 Jahren aus 26 türkischen Provinzen.

Europa steht für die Mehrheit der Befragten für Freiheit (37,2 Prozent), Gleichheit (35,2 Prozent) und Demokratie (25,2 Prozent). Türkinnen und Türken bringen „europäisch sein“ vor allem mit Menschenrechten (28,1 Prozent), Demokratie (27,6 Prozent) und ein hohes Wohlbefinden (23,5 Prozent) in Verbindung. Somit lässt sich bereits erkennen, wofür Europa für die Menschen in der Türkei steht – und was sie eventuell im eigenen Land vermissen.

Allerdings sehen nur 30 Prozent der Befragten die Türkei als europäisches Land. Wer dem nicht zustimmte, sah die Gründe hierfür vor allem in den kulturellen Unterschieden sowie der Tatsache, dass die Türkei ein muslimisches Land und weniger entwickelt sei. Auf die Frage, wofür die Europäer die Türkei schätzen, nennen die Befragten allen voran ihren Fleiß, gefolgt von ihren vielen historischen und touristischen Stätten und der türkischen Gastfreundschaft. Auch wenn Erdoğan seinem Volk immer wieder weismachen will, dass Europäer auf die Türkei neidisch seien, stimmen dem nur 2,4 Prozent zu. Entgegen der landläufigen Meinung hat laut Studie nur knapp ein Viertel Verwandte in europäischen Ländern, und nur 7,4 Prozent haben jemals ein europäisches Land besucht.

Auf politscher und internationaler Ebene sehen die Befragten Deutschland (54,9 Prozent), die USA (41,3 Prozent) und Aserbaidschan (38,1 Prozent) als ihre wichtigsten Partner an. Deutschland betrachten aber lediglich 26,5 Prozent als Freund, die USA sogar nur 14,3 Prozent. Unter allen angegebenen Ländern wird allein Aserbaidschan mit 55,3 Prozent als Freund betrachtet, alle anderen Länder kommen auf weniger als die Hälfte der Prozentpunkte. Bei der Frage nach dem Vertrauen in andere Länder steht Deutschland, wenn auch nur mit 46,3 Prozent, wieder an erster Stelle, gefolgt von Italien und dem Vereinigten Königreich. Als Bedrohung werden vor allem die USA mit 42,7 Prozent gesehen, gefolgt von Israel mit 41,9 Prozent und Armenien mit 36,4 Prozent.

Eu-Mitgliedschaft: Ein Thema das spaltet

Die Studie verdeutlicht an vielen Stellen die Spaltung der Gesellschaft. Auf die Frage, wie die Beziehung zu europäischen Ländern generell in fünf Jahren sein wird, glaubt nur knapp über die Hälfte an gute bis sehr gute Beziehungen, wohingegen 39,5 Prozent keine Veränderung sehen und 11,7 Prozent schlechte bis sehr schlechte Beziehungen erwarten. Bei politischen Fragen allgemein halten sich die Antworten meist die Waage, was Aydın darauf zurückführt, dass die Befragten ausschließlich die Standpunkte ihrer bevorzugten Parteien vertreten. Einigkeit herrscht hingegen über die Frage, welche Maßnahmen zur Verbesserung der Beziehungen beitragen würden: allen voran die Lockerung der EU-Einreisebestimmungen und mehr Hilfe im Zusammenhang mit den Geflüchteten. Europa scheint vor allem beim Thema Sicherheit eine große Rolle für die Türkei zu spielen: 56,4 Prozent schätzen europäische Länder als wichtig bis sehr wichtig für die Sicherheit ihres Landes ein.

Im Gegensatz zu Europa assoziieren die Befragten mit der Europäischen Union vor allem Wirtschaftskraft, den Euro und Einheit/Solidarität. Ganze 60,1 Prozent haben eine positive Sicht auf die EU. Negative Sichtweisen machen in der Umfrage nur 1,1 Prozent aus. Als Gründe wurden vor allem genannt, dass die EU nur ihre eigene Interessen verfolge und die Türkei bewusst ausschließe. Vor allem Frankreich, Griechenland und Österreich verstärken historisch begründet die negative Sicht auf die EU.

Trotz aller Rückschläge und Unstimmigkeiten befürworten jedoch immer noch 75,9 Prozent eine EU-Mitgliedschaft, wenn auch nur (aber immerhin) 58,1 Prozent daran glauben, dass die Türkei wirklich EU-Mitglied werden kann. Die große Mehrheit schätzt außerdem, dass ein EU-Beitritt noch zwischen fünf und 20 Jahren oder sogar mehr dauern kann. Ob die Türkei die nötigen Voraussetzungen für den EU-Beitritt erfüllen kann, spaltet die Befragten aber wieder: 52 Prozent glauben, dass die Türkei bereits genug getan hat – eine Einschätzung, die meilenweit von den Fortschrittsbewertungen der EU selbst entfernt liegt.

Der Grund für die große Zustimmung zu einem EU-Beitritt sind natürlich die Vorteile, die sich die Menschen hieraus erhoffen, allen voran die Stärkung der Menschenrechte, wirtschaftlicher Aufschwung, Demokratie, Zunahme der Sicherheit, mehr Arbeitsmöglichkeiten, Bewegungs- und Reisefreiheit sowie der Zugang zu EU-Geldern. Als Hindernis für den EU-Beitritt sehen 54,2 Prozent das Niveau der türkischen Wirtschaftsentwicklung, 42,7 Prozent das Niveau der Demokratie und der Menschenrechte und 30,9 Prozent religiöse und kulturelle Unterschiede.

Auf wirtschaftlicher Ebene halten 52,9 Prozent der Befragten Deutschland klar für den wichtigsten Wirtschaftspartner für die Türkei. Weit abgeschlagen folgen das Vereinigte Königreich mit 8,1 Prozent und die USA mit 8,0 Prozent. Interessanterweise finden aber nur 48 Prozent der Befragten, dass die Türkei in wirtschaftlicher Hinsicht auf die EU angewiesen ist. 26 Prozent glauben, dass die Türkei mittelfristig auch ohne die EU auskommen kann, und 26 Prozent glauben gar nicht an die wirtschaftliche Kraft der EU. Genauso findet umgekehrt nur knapp über die Hälfte der Befragten, dass die EU die Türkei braucht, etwa als Produktionsstandort, Absatzmarkt, billigen Arbeitskräftemarkt und als Transitland für Energieressourcen.

Der Wendepunkt wird erwartet

Die Studie gibt einen interessanten Einblick in die Perspektiven der türkischen Bevölkerung und legt an vielen Stellen die tiefe Spaltung in der Gesellschaft offen, an der nicht zuletzt die Regierung in den letzten Jahren intensiv gearbeitet hat. Es wird aber auch deutlich, dass sich immer noch eine deutliche Mehrheit der Türkinnen und Türken wünscht, Teil der EU zu sein, und die Hauptgründe dafür nicht nur wirtschaftlicher Natur sind, sondern der Wunsch nach Demokratie und Menschenrechten an erster Stelle steht. Leider lassen die schlechte Wirtschaftslage und die zusehends autoritärer werdende Regierung unter Präsident Erdoğan einen EU-Beitritt in immer weitere Ferne rücken, selbst wenn man die Frage nach den inneren Herausforderungen der EU und ihrer Aufnahmefähigkeit gar nicht stellt. Nun wartet das ganze Land auf die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im nächsten Jahr, die einen Wendepunkt für die Türkei bedeuten könnten. Gegenwärtig gibt es jedoch keine ernstzunehmende Strategie der EU für eine Zeit nach Erdoğan, und ob sich die EU jemals ernsthaft für einen Beitritt der Türkei aussprechen wird, ist auch bei einem Sieg für die Oppositionsparteien mehr als zweifelhaft – dafür ist die Türkei, wie Beobachter wiederholt bemerken, „zu groß, zu arm und zu muslimisch“.