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Nachruf
Martin Bangemann: Ein großer Europäer

Beileidsschreiben von Freunden und Mitarbeitern
Der Bundeswirtschaftsminister und FDP-Vorsitzende , Dr. Martin Andreas Bangemann

Der Bundeswirtschaftsminister und FDP-Vorsitzende , Dr. Martin Andreas Bangemann

© picture alliance/United Archives | Sven Simon

Weggefährten, Mitarbeiter und Freunde erinnern an Martin Bangemann:

Wir Europäer erinnern uns an seine goldene Zeit in den europäischen Institutionen. Im Europäischen Parlament von 1973 bis 1984 bewies er insbesondere als Vorsitzender der liberalen Fraktion sein Talent, aus unterschiedlichen Meinungen gemeinsame Interessen herauszufiltern. Er war vielsprachig, konnte zuhören und auf sein Wort war Verlass.  Als Mitglied und als Vizepräsident der Europäischen Kommission (1989 bis 1999) vollendet er pünktlich zum – anfangs für utopisch gehaltenen – Datum des 1.1.1992 den Binnenmarkt, wobei die Tiefe seiner Vision und die Wucht seiner Umsetzungskraft je nach Standort gewürdigt wurden oder gefürchtet waren. Er richtete die europäische Industriepolitik marktwirtschaftlich aus, liberalisierte die Telekommunikationsnetze und -dienste und stellte die intellektuellen und pragmatischen Weichen für die aufdämmernde Informationsgesellschaft. Der Europäische Rat hatte ihn um einen Bericht über Informationsinfrastrukturen gebeten; er aber lieferte – mit einer Gruppe von hochrangigen Vertretern aus Wirtschaft und Gesellschaft - ein Plädoyer über die globale Informationsgesellschaft ab. Wo Andere nur technische Probleme sahen, ging er den sozialen und politischen Dimensionen auf den Grund.

Wir Westdeutsche denken nicht nur an seine parteipolitischen Erfolge als Generalsekretär und später als Vorsitzender der FDP, der in bundespolitisch brisanten Wendezeiten seine Partei zusammenhielt und zu neuen Wahlerfolgen führte, und sondern auch an seine Rolle als Bundeswirtschaftsminister (1984 bis 1988), wo er die europäischen Zusammenhänge nie aus den Augen verlor. 

Wir Ostdeutsche wissen, dass er - in Wanzleben bei Magdeburg geboren und erst als Elfjähriger in die Bundesrepublik umgezogen - einer von uns war und sich auch immer so fühlte. Wir denken an seinen tatkräftigen Beitrag zur Wiedervereinigung samt schneller Integration in die Europäische Gemeinschaft. In seiner Rolle als Binnenmarktkommissar, der auch für den innerdeutschen Handel zuständig war, traf er die DDR-Führung Anfang November 1989 in Ost-Berlin. Der neue Parteichef beschrieb ihm stolz die geplanten wirtschaftlichen Liberalisierungsvorhaben, aber Bangemann redete ihm ins Gewissen, wirtschaftliche Öffnung sei ohne politische Freiheiten nicht möglich, und drängte, die für Dezember angedachte Reisefreiheit sofort zu verwirklichen. Nur eine Woche später wurde die Reform hastig verkündet; noch am gleichen Abend strömten Tausende zur innerdeutschen Grenze und fiel die Mauer. Innerhalb der Kommission leitete Bangemann im ersten Halbjahr 1990 jeden Donnerstag eine „technische Kommissarsgruppe“, der alle Kommissare angehörten und welche die Anpassung des Europarechts mit dem immer schnelleren Tempo der deutschen Wiedervereinigung synchronisierte. Die Kommission brachte die notwendige Gesetzgebung in Rekordzeit auf den Weg, und – ein institutionelles Unikum - noch bevor Rat und Parlament die Vorschläge der Kommission förmlich verabschieden konnten, ermächtigten sie die Kommission, die Vorschläge schon mal vorläufig in Kraft zu setzen.

Wir Kommissionsbeamte genossen die Freude, Bereicherung und immerwährende Herausforderung, für und mit ihm zu arbeiten. Man hatte stets das Gefühl eines ehrlichen Vorschusses an Vertrauen und Wohlwollen. Und wir wussten, dass der Chef den Kern unserer Entwürfe gleich erkannte, die Materie auf Grund seiner langjährigen Erfahrung sofort im Griff hatte und in Rat und Parlament blitzschnell und kreativ reagieren konnte, was dann oftmals zu unerwarteter Einigung führte.

Wir Zuhörer waren von seiner berauschenden Rhetorik fasziniert. Als begnadeter Redner las Bangemann seine Vorträge nie vom Blatt ab, sondern suchte den Dialog mit der Zuhörerschaft, ständig im Blick- und Denkkontakt. Selbst wenn ein Vortragsentwurf ihm hundertprozentig passte, formulierte er immer darum herum. Wie ein Radfahrer um die Straßenbahnschiene her­um­schlängelt, um nicht in der Spurrille gefangen zu werden, ließ der Redner Bange­mann sich nicht vom Manuskript kanalisieren, um ja nicht die Verbindung zum Zuhörer und Mitdenker zu verlieren. Und wenn dem Publikum die Materie zu trocken zu werden schien - aber nur dann -, weckte er zielgerecht mit einer Anekdote oder einem Scherz Alle wieder auf. Er scheute sich nicht Klartext zu reden, auch wenn seine Position unpopulär war.

Wir Zeitungsleser bekamen manchmal ein verkürztes, gar verletzendes Bild vermittelt, das der Vielschichtigkeit seiner Persönlichkeit nicht gerecht wurde. Hier war ein Vollblutpolitiker, der mit seinem Habitus des barocken Renaissance-Menschen so gar nicht in die Schablone des „ordentlichen“ deutschen Ministers passte. Schöngeist wurde bei ihm als leichtfertig, Philosophie als abgehoben und Humor als mangelnde Ernsthaftigkeit des Amtsverständnisses interpretiert. Zu alledem kam der unrühmliche Abgang der Santerkommission 1999. Als Bangemann den Rat bat, ihn von seinem Amt zu entbinden, weil er nicht ein halbes Jahr untätig einer nur geschäftsführenden Kommission angehören wollte, brach ein Sturm der Empörung los. Der Rat entsprach zwar dem Antrag Bangemanns, klagte aber gleichzeitig beim Gerichtshof darauf, ihm die Ruhegehaltsansprüche abzuerkennen, weil seine neue Tätigkeit als Berater einer spanischen Telefongesellschaft bei der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes seine Amtspflichten verletze. Bangemann antwortete, er habe seine neue Tätigkeit ja noch gar nicht angetreten und sich außerdem verpflichtet, alle Karenzzeiten und -pflichten strikt einzuhalten. Daraufhin zog der Rat seine Klage zurück, was der Presse freilich keine Schlagzeile mehr wert war.

Wir Menschen bewundern seine Herzenswärme und seine Offenheit. Vom „Geschäft” der Politik ließ er sich nicht auffressen und nahm sich unbeirrt, auch inmitten alltäglicher Hektik, Zeit für Anderes wie Literatur und Pflanzen. Zu seinem facettenreichen Bild gehört auch, dass dieser “Un-Preuße” ein Vorbild in “preußischer” Pünktlichkeit war. Zu allen Terminen kam er frühzeitig und unaufgeregt; mit seiner Leichtigkeit meisterte er auch schwierige Situationen und vermittelte stets Optimismus und Freude. Die wichtigen Momente im Leben sind die, bei denen man lächeln muss, wenn man sich zurückerinnert. Erinnerungen, die unser Herz berühren gehen niemals verloren.

Wir Lebenden verneigen uns vor einem Großen Europäer, nicht nur als Politiker, sondern auch als Mensch. Er lebte seit dreißig Jahren im ländlichen Herzen Frankreichs, wo er am 28. Juni im Alter von 87 Jahren verstarb. Unser Beileid gilt seiner aufopferungsvollen Frau Renate und seinen fünf Kindern.