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Wahlen in Kanada
Kanada vor den Wahlen – Spaltung der Generationen?

Kanada vor den nächsten Parlamentswahlen
Justin Trudeau im Wahlkampf
Die liberale Regierung um Justin Trudeau stellt sich zur Wiederwahl. © picture alliance / AP Photo

Im Nachbarland der USA stellt sich die Regierung von Justin Trudeau am Montag zur Wiederwahl. Skandale, die Klimadiskussion und rechtspopulistische Tendenzen lassen befürchten, dass die Liberalen Stimmen an die Konservativen und die Grünen verlieren könnten.

Kanadier brüsten sich gern mit ihrer Einzigartigkeit. Sie tun das derzeit besonders häufig, weil sie in der Trump-Ära mehr denn je fürchten, mit den südlichen Nachbarn in einen Topf geworfen zu werden. In der Tat können Kanadier als Erfinder von Basketball, Erdnussbutter und Insulin mit Fug und Recht eine gewisse Einzigartigkeit für sich beanspruchen. Auch die föderale politische Struktur des zweitgrößten Landes der Welt und der Wahlkampf sind von Besonderheiten geprägt. Diesmal war der Weg bis zu den Wahlen jedoch besonders spannend.

Kanada ist einer der ältesten und komplexesten Bundesstaaten der Welt. Er besteht aus zehn Provinzen, drei sogenannte Territorien und einem halben Dutzend Großstädten. Die Geschichte des Landes ist von zwei Sprachen und Kulturen geprägt. Hier zu regieren ist nicht leicht. Dennoch ist es in diesem weitläufigen Land bisher noch immer gelungen, die sehr unterschiedlichen Kulturen und Ethnien unter einen Hut zu bringen.

Komplexe politische Landschaft

Die Wahlen zum kanadischen Unterhaus finden alle vier Jahre am dritten Montag im Oktober statt. Der Wahlkampf selbst ist streng reguliert, sowohl im Hinblick auf seine Dauer als auch auf seine Finanzierung; insbesondere die Mittelverwendung ist gedeckelt. Im Unterhaus sind bisher sechs Parteien vertreten. Drei davon haben 95 Prozent der Sitze inne. Es ist unübersehbar, dass der politische Schlagabtausch im Land härter wird.

Das Topthema im Wahlkampf war der Klimaschutz, denn die Folgen des Klimawandels zeigen sich für Millionen von Kanadiern immer deutlicher. In diesem Jahrzehnt stehen die bisher heißesten Sommer, die kältesten Winter, die schlimmsten Waldbrände und die schwersten Überschwemmungen zu Buche. Die Klimadebatte in Kanada wird jedoch von zwei wenig hilfreichen Extremen beherrscht – von den unverhohlenen Leugnern des Klimawandels am rechten Rand und den „Klimageddon“-Marktschreiern unter den Grünen. Der Unterschied zwischen den Positionen der beiden Lager liegt vordergründig darin, für wie nützlich und wie fair man eine Besteuerung von Kohlendioxid (CO2) hält. Doch eigentlich geht es in diesem Streit um etwas anderes – und zwar darum, wie ernst eine Partei oder Regierung die Klimakrise in einem stark ressourcenabhängigen Land nimmt, das sehr viel CO2 emittiert. 

In dieser Frage zeichnet sich eine tiefe Spaltung der Generationen und der Regionen ab. Manche Beobachter sehen darin eine Gelegenheit für die Grünen, sich vom politischen Rand zu lösen. Falls die Liberalen und die Neuen Demokraten, die stärksten politischen Kräfte in Kanada, zum Thema Klima keine überzeugenden Antworten parat haben, könnte das den Grünen gerade Wähler unter 30 Jahren zutreiben. Allerdings: Liberale und Neue Demokraten sind erfahren genug, den viel kleineren Grünen dieses Feld nicht allein zu überlassen.

Mit der Klimafrage verbundene Themen sind die Rohstoffgewinnung und die sich daraus ergebenden Klimakosten, die Öl- und Gasexporte sowie die dafür notwendigen Pipelineprojekte. Viele von ihnen sind umstritten. Der zweitwichtigste Themenkomplex im Wahlkampf sind die Herausforderungen des Landes auf dem Feld der sozialen Teilhabe. Verschärft wird dieses Thema durch die kulturelle Vielfalt Kanadas und den rasanten demografischen Wandel.

Regionalpolitiker mehrerer Provinzen haben sich zu einer angeblichen Überfremdung geäußert. Am rechten Rand hält man nichts von „zu viel extremem Multikulturalismus“, auch lesbar als: „Es gibt zu viele nicht weiße Kanadier.“ Solche Parolen haben in Kanada bislang nicht verfangen. Das erstaunt vor dem Hintergrund des nationalistischen Flächenbrands in den benachbarten USA – umso mehr, als dass politische Debatten in der Regel höchstens ein oder zwei Wahlzyklen hinter den Entwicklungen jenseits der südlichen Landesgrenze hinterherhinken. Das könnte sich nun ändern. Untersuchungen der Earnscliffe Strategy Group haben ergeben, dass nur noch ein Drittel der Kanadier nach wie vor stark an die traditionelle Botschaft der sozialen Teilhabe glaubt. Bis zu 50 Prozent sympathisieren mit rechtspopulistischen Ideen.

Kanada

Öl-Pipeline im US-Bundesstaat Minnesota an der Grenze zu Kanada. Die alte Leitung soll durch eine neue ersetzt werden. Umwelt- und Stammesgruppen haben dagegen Einspruch vor Gericht eingelegt.

© picture-alliance/AP Photo

Rechtsruck auf regionaler Ebene

Mindestens zwei regionale Parteien mit Regierungsbeteiligung liebäugeln mit rassistischen Botschaften. Vordergründig erscheinen sie halbwegs harmlos. Aber sie sind klar auf eine entsprechende Klientel ausgerichtet. Zudem macht eine neue Splitterpartei – genau genommen ein Abgeordneter, der sich großspurig People’s Party of Canada nennt – mit islamfeindlichen Parolen in den sozialen Medien von sich reden. Wie viel Zugkraft eine für Kanada derart untypische Haltung zur Einwanderung entwickeln wird, lässt sich noch nicht absehen. Die Konservative Partei indes wirkt verunsichert und hat sich deshalb einige Misstöne erlaubt.

Die Liberalen wittern derweil Morgenluft, vor allem aufgrund ihrer Verwurzelung in Zuwanderergruppen des urbanen Kanadas. Ein allzu forscher Auftritt könnte ihnen aber schaden. Der liberale Premierminister Justin Trudeau ist mit seinen Attacken gegen die Konservativen in dieser Frage an einigen Stellen angeeckt. 

Die Neuen Demokraten haben eine Sonderrolle. Ihr Vorsitzender Jagmeet Singh ist eine sehr „sichtbare Minderheit“ – ein hochgewachsener, attraktiver Mann, der bei jeder Gelegenheit einen Turban in auffallenden Farben trägt. Singh braucht nicht einmal den Mund zu öffnen, um etwas über ein tolerantes, kulturell sensibles Kanada zu sagen. Schon wenn er einen Raum betritt, gibt er sein Statement ab. Einige Beobachter sehen darin eine Gefahr für die Partei unter anderem wegen ihrer eher traditionalistischen Wähler in den kleinen Städten. Singh fasst seine Werte mit dem Motto „Love and Courage“ zusammen. So lautet auch der Titel seiner kürzlich veröffentlichten Biografie. 

Die Grünen als neue Kraft

Die Grünen haben beeindruckende neue Kandidaten aufgestellt, in zahlreichen Regionalwahlen gut abgeschnitten und kürzlich eine Nachwahl in der Provinz British Columbia gegen die Neuen Demokraten gewonnen. Bei den Wahlen müssen sie sich nun sowohl gegen die Liberalen als auch gegen die Neuen Demokraten behaupten. Beobachter warnen davor, dass eine Stimme für die Grünen indirekt den Konservativen nützen und einer Regierungsbildung unter deren Vorsitzendem Andrew Scheer in die Hände spielen werde. Allerdings ist die Erinnerung an die jahrzehntelange rechtsgerichtete Regierung von Stephen Harper, gegen die sich Trudeau schließlich 2015 durchsetzte, vielen jungen, linksliberalen Kanadiern dermaßen präsent, dass das Drohszenario einer konservativen Regierung einige Unentschlossene mobilisieren dürfte, zur Wahl zu gehen und gegen Scheer zu stimmen. 

Vor gut einem Jahr hätte wohl kaum jemand daran gezweifelt, dass die Liberalen erneut gewinnen würden und Trudeaus liberale Mehrheitsregierung weitermachen könnte. Doch die vergangenen Monaten waren für die Regierungspartei voller überraschender Wendungen. Es kam zu einer Reihe von kleineren Skandalen, mehrere ranghohe Minister und Beamte mussten zurücktreten. Verbündete in drei der vier wichtigsten Provinzen unterlagen in den dortigen Wahlen. Auch die andauernde Frustration, mit der rücksichtslosen Trump-Regierung in Washington umgehen zu müssen, forderte ihren Tribut. Und der eine oder andere Fauxpas Trudeaus auf internationaler Bühne wie auch der Konflikt mit China haben die Reputation des liberalen Parteichefs beschädigt.

Kanada

Bürger protestieren gegen das Bill-21-Gesetz der Provinzregierung in Québec-Stadt. Das Gesetz verbietet unter anderem Lehrern, Staatsanwälten und Polizisten das Tragen religiöser Symbole bei der Arbeit.

© D. Himbert/Polaris/laif

Liberale verweisen auf Erfolgsbilanz

Dennoch haben die Liberalen einen Vorteil: Die Wirtschaftsdaten des Landes können sich sehen lassen. Dazu verfügen sie über ein hoch professionelles Wahlkampfteam. Scheers Konservative allerdings können auf starke Verbündete in den Provinzen zählen, und sie besitzen eine besser gefüllte Wahlkampfkasse als sämtliche Konkurrenten zusammen – wobei aber die Summe, die sie ausgeben können, gesetzlich gedeckelt ist. Die Neuen Demokraten wiederum überwinden gerade eine lange andauernde Stagnation unter ihrem höchst unpopulären früheren Vorsitzenden. Nun hat der neue Vorsitzende mit dem ererbten Mangel an finanzieller Schlagkraft und politischer Stärke zu kämpfen. 

Trotz der Verschiedenartigkeit und der Größe des Landes werden die Wahlen auf Bundesebene in Kanada üblicherweise hauptsächlich in drei Städten und den zugehörigen Ballungsräumen entschieden: Montreal, Toronto und Vancouver. Liberale, Konservative und Neue Demokraten haben an jedem dieser Orte ihre Bastionen, doch sind dort auch viele Wechselwähler zu Hause, was bedeutet, dass es im Wahlkampf viel zu gewinnen gibt.

Wahlausgang ist offener denn je

All das macht den Weg zur Unterhauswahl zu einer Achterbahnfahrt mit ungewissem Ausgang. Im Jahr 2008 bescherten große Stimmenzugewinne den Konservativen in Toronto und in Südontario den Sieg; 2011 konnten die Neuen Demokraten zum ersten Mal einen Großteil von Québec für sich verbuchen; 2015 kamen die Liberalen zurück und stürmten vom dritten Platz zu einer Mehrheitsregierung. Wollte sich nun jemand im Vorfeld der diesjährigen Wahl auf ein Ergebnis festlegen, sollte man ihn besser nicht auch noch nach Anlagetipps fragen.

Der Wahlkampf begann in Kanada mit dem Ende der Parlamentssaison Ende Juni. Gewählt wird am 21. Oktober - kommenden Montag. Vor den letzten Sitzungen des Unterhauses in der Legislaturperiode verwenden die Parteien üblicherweise viel Mühe darauf, wichtige Gesetze im Parlament durchzubringen oder eben zu blockieren, um das dann im anstehenden Wahlkampf jeweils für sich zu nutzen.

Zum kanadischen Nationalfeiertag, dem 1. Juli, war der Sommerwahlkampf bereits eröffnet, begleitet von politischen Picknicks und Grillfesten im ganzen Land. Die Parteispitzen besuchen oft mehrere solche Anlässe am Tag. Richtig ernst wird es immer am Ende des kanadischen Sommers, wenn die Ferien vorüber sind und das Wirtschaftsgeschehen wieder Fahrt aufnimmt. 

Ende September und Anfang Oktober finden üblicherweise in verschiedenen Städten Fernsehdebatten mit den führenden politischen Vertretern statt. In den Jahren 2008, 2011 und 2015 wirkten sich die Auftritte in diesen Debatten spürbar auf die Wahlergebnisse aus. Die Parteispitzen müssen diese Auftritte nutzen, um bei den Wählern zu punkten. 

Trudeaus Liberale organisierten 2015 einen äußerst effektiven Wahlkampf, der sich an junge Neuwähler richtete. Diese gaben der Partei dann auch in großer Zahl ihre Stimmen. Die meisten Beobachter erwarten, dass gerade aus dieser Gruppe etliche von allzu ehrgeizigen Versprechungen und dürftigen Ergebnissen enttäuscht sind. Sie werden dieses Mal vielleicht anders entscheiden. Einiges deutet zudem darauf hin, dass die Liberalen auch traditionelle Wähler in den Atlantik-Provinzen wie etwa Neufundland und Nova Scotia an die Konservativen und progressive Wähler in der Pazifik-Provinz British Columbia an die Grünen und die Neuen Demokraten verlieren werden.

Kanada erstreckt sich über fünf Zeitzonen, was die Wahlnächte lang und oft holprig macht. An die Ergebnisse am frühen Abend an der Ostküste erinnert sich in Vancouver ganz im Westen gegen Mitternacht kaum noch jemand. Aber so bleibt die Spannung lange erhalten.

Robin V. Sears ist Berater für Kommunikation, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit mit Erfahrung auf drei Kontinenten. Sears war Sprecher des ehemaligen kanadischen Premierministers Brian Mulroney und zuvor Nachrichten­redakteur bei CITY-TV in Toronto.