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Im Gedenken
Hans-Dietrich Genscher und die Idee einer liberalen Weltordnung

Heute hätte der langjährige deutsche Bundesaußenminister und frühere FDP-Vorsitzende Hans-Dietrich Genscher seinen 95. Geburtstag gefeiert. Ganz sicher wäre er heute über den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und damit den eklatanten Bruch des Völkerrechts entsetzt. Denn diese kriegerische Eskalation eines internationalen Konflikts, dieser Angriff auf die Souveränität eines Staates widersprechen allen Prinzipien eines friedlichen Ausgleichs auf der Basis vertrauensvoller Zusammenarbeit, für die Genscher zeit seines Lebens eingestanden ist.

Das Geheimnis von Genschers erfolgreicher Politik als Außenminister zwischen 1974 und 1992, die gerne und wiederholt – auch von ihm selbst – mit dem Etikett des Genscherismus versehen wurde, war es, politische Entwicklungen langfristig und mit einem klaren Konzept zu verfolgen. Freiheit und Frieden für alle Völker lauteten die Leitmotive im Rahmen einer liberalen Weltordnung. Diese politische Strategie, seine konsequente Deutschland- und Ostpolitik seit Beginn der 1970er-Jahre wurde durch die deutsche Einigung des Jahres 1990 gekrönt. Die deutsche Einheit und das Ende des Ost-West-Konflikts bedeuteten nicht nur eine Bestätigung seines außenpolitischen Kurses der vorangegangenen zwei Jahrzehnte, sondern zugleich die Erfüllung seines politischen Lebenstraumes. Die deutsche Einheit sah der Außenminister als Triumph des Genscherismus.

Hans-Dietrich Genscher hat die Entwicklungen der internationalen Politik bis zu seinem Tod im März 2016 mit verfolgt und nicht selten auch kommentiert. Er hat den Aufstieg Chinas, den islamistischen Terror und die neoimperialistische Politik Russlands unter Präsident Putin noch miterlebt. In seinen letzten zwei Amtsjahren als deutscher Außenminister kam es nicht nur zu einem fundamentalen Wandel des ehemaligen Ostblocks, sondern auch zum Zusammenbruch der Sowjetunion.

Im Zuge der Verhandlungen um die deutsche Einheit hat Genscher Gespräche um den NATO-Beitritt von ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes geführt. Zur sogenannten NATO-Osterweiterung hat er im Februar 1990 nach einem Treffen mit dem US-amerikanischen Außenminister James Baker festgestellt, dass „nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet nach Osten auszudehnen“. Diese Feststellung ist ihm – auch in der Zuspitzung der Krise zwischen Russland und der Ukraine – vorgehalten worden. Dabei fiel diese Äußerung nicht nur in einer gar nicht vergleichbaren historischen Situation, sondern es ist vielmehr festzuhalten, dass es nicht das transatlantische Verteidigungsbündnis war, das sein „Gebiet“ offensiv vergrößert hat, sondern dass die osteuropäischen Staaten unter Berufung auf ihr Selbstbestimmungsrecht der NATO beigetreten sind. Zwar ist das Ergebnis dasselbe, aber der Ausgangspunkt verschieden und damit geht der russische Vorwurf gegen die NATO auch ins Leere. Das Dilemma liberaler Außenpolitik im Sinne Genschers lag schließlich darin, zugleich das Selbstbestimmungsrecht und das Sicherheitsbedürfnis aller Staaten innerhalb einer liberalen Weltordnung zu postulieren, ohne dabei priorisieren zu wollen. Den Schritt des NATO-Beitritts haben gerade Polen und die baltischen Staaten – auch vor dem Hintergrund ihrer historischen Erfahrungen – bewusst vollzogen, und in der heutigen bedrohlichen Situation zeigt sich, wie wichtig und richtig dies war.