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Silicon Saxony
Ei verbibbsch*

*Sächsisch für: „Sieh mal einer an!“
Dresden Altstadt

Blick auf die Dresdner Altstadt und Elbe

© AdobeStock

Die Bundesregierung will benachteiligten Regionen helfen: mit Geld und schnellem Internet. Dass sich dort mittlerweile bizarrerweise Pendlerströme umkehren, kann man mit diesen Mitteln aber nicht beheben. Denn oft geht es um ein Lebensgefühl.

Der glühende Fürsprecher kommt selbst gar nicht aus dem Osten der Republik, geschweige denn aus Dresden. Heinz Martin Esser, 64, stammt aus Köln und ist mit Karneval und dem rheinischen Kapitalismus groß geworden. Ende der Neunzigerjahre verschlug es den studierten Betriebswirt und Wirtschaftsingenieur dann nach Sachsen. „Heute will ich hier nicht mehr weg“, sagt Esser. Er schätzt das breite Kulturangebot Dresdens, die Entspanntheit verglichen mit Millionenstädten wie Berlin, Hamburg oder auch Köln und mittlerweile auch das bisweilen sehr gewöhnungsbedürftige sächsische Idiom. Wirtschaftlich betrachtet ist die Region Dresden alles andere als verschlafen: „Silicon Saxony“, die Gegend zwischen Freiberg, Chemnitz und Dresden, ist Europas größter Mikroelektronikstandort. Etwa jeder zweite in Europa verwendete Mikrochip – ob in Autos, Smartphones oder Notebooks – ist made in Saxony. Etwa 2.300 Unternehmen mit rund 65.000 Mitarbeitern entwickeln, fertigen und vermarkten hier integrierte Schaltkreise oder beliefern die Chipindustrie mit Materialien und Ausrüstungen, produzieren und vertreiben elektronische Produkte und Systeme auf der Basis integrierter Schaltungen oder programmieren und vermarkten Software. Der jährliche Gesamtumsatz aller sächsischen Firmen aus der Informations- und Kommunikationstechnologie beträgt rund 14 Milliarden Euro, meldet der Silicon Saxony e. V.

Bosch macht Dreierbande perfekt

Der Verband bündelt die Interessen von rund 350 Mitgliedern und ist damit nach eigenen Worten das größte Hightechnetzwerk Sachsens und eines der größten Mikroelektronik- und IT-Cluster Deutschlands sowie Europas. Der gebürtige Kölner Esser ist dessen Präsident – doch das nur im Nebenberuf. Den Hauptteil seiner Arbeit verbringt er als Geschäftsführer von Fabmatics: Der Mittelständler hat 200 Mitarbeiter in Dresden sowie einen weiteren Standort in Salt Lake City im US-Bundesstaat Utah. Fabmatics‘ Stärke ist es, die „Fabs“ genannten Fabriken für die Produktion von Halbleitern zu automatisieren. Dank Robotern wie dem „Hero Fab 300“ und weiteren Automatisierungslösungen erzeugen Halbleiterproduzenten genau die reine Atmosphäre, die sie für die Produktion der ebenso daten- wie staubsensiblen Siliziumchips mit ihren millionstel Millimeter kleinen elektronischen Schaltstrukturen benötigen. Die Reinräume in den Fabs müssen steriler sein als ein OP-Saal im Klinikum. „Bei der System­integration von Halbleiterfabriken ist Fabmatics weltweit einzigartig“, sagt Esser.

Mikrochip-Produktion bei Globalfoundries

Mikrochip-Produktion bei Globalfoundries

Abnehmer für seine Produkte findet Fabmatics zahlreich vor der eigenen Haustür. Seit Mitte der Neunzigerjahre hat Infineon als mittlerweile eigenständige Halbleitersparte von Siemens seinen Sitz an der Elbe. Wenige Jahre später zog es auch den US-amerikanischen Intel-Konkurrenten AMD nach Dresden – der nach einer tiefen Krise heute als Globalfoundries am Markt agiert. Ende kommenden Jahres soll im Silicon Saxony schließlich die modernste Halbleiterfabrik Europas den Betrieb aufnehmen: Eine Milliarde Euro gibt Bosch für sein neues Mikrochipwerk aus. Das Unternehmen, das jüngst mit der Ankündigung Schlagzeilen machte, ab kommendem Jahr komplett klimaneutral produzieren zu wollen, bekommt dabei gut ein Drittel der Investitionssumme von der Europäischen Union und dem Land Sachsen zurückgezahlt. Für als „strategisch“ erachtete Projekte in der Mikroelektronikbranche lockert die ansonsten sehr strenge EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager die Regeln und erlaubt ausnahmsweise Subventionen von bis zu 30 Prozent.

Kritiker wenden immer wieder ein, die Erfolgsgeschichte des sächsischen IT-Tals sei im Grunde nur eine Story der Subventionsmilliarden. Richtig ist: Gerade der erste Ministerpräsident des Freistaats Sachsen, Kurt Biedenkopf, nahm mächtig Geld in die Hand, um Infineon und AMD in die sächsische Diaspora zu locken. Dorthin, wo es zu DDR-Zeiten zwar das VEB Kombinat Robotron gab, damit viele Ingenieure und Facharbeiter, und wo Forscher noch vor dem Mauerfall der Weltöffentlichkeit einen – nicht marktfähigen – eigenen 1-Megabit-Speicherchip präsentierten, aber nach der Wende die große Resignation und Arbeitslosigkeit herrschten.

„Heute will ich hier nicht mehr weg“

Heinz Martin Esser - Präsident des Silicon Saxony e.V.

Eine kolportierte halbe Milliarde Euro ließ sich das Land Sachsen allein die Ansiedlung von Siemens kosten. Kurt Biedenkopf wollte ein modernes „Cluster“ schaffen – frei nach einem Ausspruch seines Vaters, eines Unternehmers: „Wo Tauben sind, fliegen Tauben hin.“ An der Politik des Viel-hilft-viel hat sich auch unter den Nachfolgern in der sächsischen Staatskanzlei wenig geändert.

Die reine marktwirtschaftliche Lehre ist das nicht. Das Beispiel des Silicon Saxony zeigt aber auch: Wenn die übrigen Rahmenbedingungen stimmen, sich die Landes- und Lokalpolitiker voll reinhängen und Behörden wie im Fall der drei großen Chipfabriken Bauanträge auch mal im Rekordtempo durchwinken, können sich Startsubventionen durchaus rechnen. „Jede Subvention in das Cluster hat sich binnen weniger Jahre durch Steuereinnahmen selbst getragen“, glaubt Heinz Martin Esser.

Von der Hochschule ins Chefbüro

Vor allem der Trickle-down-Effekt hat funktioniert: Um die Leuchttürme Infineon, Globalfoundries und künftig auch Bosch hat sich längst ein dichtes Netz von Mittelständlern wie Fabmatics gebildet. Dazu kommen aussichtsreiche Start-ups wie Wandelbots, das zu den weltweit spannendesten Aufsteigern im Bereich der Robotersoftware gehört (siehe dazu Interview mit CEO und Gründer Christian Piechnick rechts). Mehr und mehr Absolventen der renommierten TU Dresden, an der Piechnick und seine Mitstreiter studierten, sowie vieler weiterer ortsansässiger Forschungsinstitute wie der gut ein Dutzend Fraunhofer-Institute entscheiden sich für die selbstständige Unternehmerkarriere.

Genug zu tun gibt es im sächsischen Valley derzeit für alle – ob eigener Chef oder angestellt. „Allein im Softwarebereich haben wir uns das Ziel gesetzt, in den kommenden Jahren die Zahl der Mitarbeiter von heute 25.000 auf 50.000 zu verdoppeln“, sagt etwa Raik Brettschneider. Er ist Geschäftsführer von Infineon Dresden. Seine Prophezeiung: „Die Chipfertigung wird im Cluster weiter an Bedeutung gewinnen. Elektromobilität und autonomes Fahren sind zwei wichtige Trends, die das Wachstum in der Chipindustrie weiter antreiben werden.“Heißt übersetzt: Die Zukunft spricht (auch) Sächsisch.

Erst im November 2017 gegründet, startet die Dresdner Wandelbots GmbH auf dem Markt für Robotersoftware kräftig durch. Das rasante Wachstum verdankt CEO und Mitgründer Christian Piechnick nicht zuletzt dem Standort Sachsen.

Volkswagen Vorstand bei Wandelbots

Volkswagen-Vorstandschef Herbert Diess zeigt sich begeistert von der Wandelbots-Software

Herr Piechnick, die besten Gründer können ihre Ideen ja während einer kurzen Fahrstuhlfahrt erklären. Also, steigen wir sinnbildlich ein – was machen Sie, in aller Kürze?

Wandelbots arbeitet an einer Plattform,  um jeden Roboter in beliebige Applikationen zu bringen. Dies ist vergleichbar mit dem Beitrag, den Microsoft mit Windows für PCs gebracht hat.

Christian Piechnick, der sächsische Bill Gates?

Man muss sich hohe Ziele setzen. Im Ernst: Bis es so weit ist, wird noch etwas Wasser die Elbe hinabfließen. Aber tatsächlich peilen wir im Segment der Robotersoftware die Weltmarktspitze an. Mit derzeit knapp 40 Mitarbeitern – zum Start waren wir gerade zu zweit – sind wir zwar noch winzig, aber bereits bedeutsam. Die Markt- und Beratungsfirma Gartner hat Wandelbots jüngst zu den „Global Top-10 Technology Trends“ für 2019 gezählt.

Was genau ist das Besondere an Ihren Produkten? Industrieroboter sind schließlich nicht mehr so neu.

Genau hier setzen wir an: Der Markt für Automatisierungssoftware ist heute maßgeblich durch konservatives Denken und Rückwärtsgewandtheit geprägt. Ander Art und Weise, wie die wachsende Zahl der Industrieroboter programmiert wird, hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten kaum etwas verändert. Anders gesagt: Die Roboter werden immer mehr und immer besser, aber die Programmierung ist von vorgestern.

Das müssen Sie uns genauer erklären. 
Die Industrieroboter werden immer noch aufwendig einzeln programmiert. Das kostet Zeit und viel Personaleinsatz. Doch entsprechende Fachleute sind teuer, schwer zu finden und gerade im Mittelstand eine Rarität.

Christian Piechnick Wandelbots

Wandelbots-Vorstandschef Christian Piechnick

Was machen Sie denn anders?

Wir setzen smarte Kleidung als Controller für das Anlernen eines Roboters ein. Dafür haben wir eine spezielle und intelligente Jacke entwickelt, mit der sich die Roboter steuern lassen. Der Mensch in der Jacke macht die Bewegungen vor, der Roboter macht es dann nach. Mit den smarten Jacken können weitgehende Techniklaien hochkomplexe Maschinen anlernen. Unser langfristiges Ziel ist es, Roboter auf diese Weise 20-mal schneller und zehnmal kostengünstiger zu trainieren als mit herkömmlichen Prozessen. 

Welche Rolle spielte das Cluster für Ihre Gründung? Wäre diese Erfolgsstory auch in München oder Berlin möglich gewesen? 

Ich denke, nein. Als gebürtiger Thüringer und Student der TU Dresden wollte ich bewusst etwas in der Heimat aufbauen. Die Umgebungsvariablen sind für uns hier ideal. In dieser Ausprägung und mit diesem klaren Fokus auf die Mikroelektronikbranche samt Zulieferern, Dienstleistern und Kunden etwa aus dem Anlagen- und Maschinenbau ist das Silicon Saxony deutschland-, wenn nicht europaweit Spitze. Hinzu kommen die exzellenten Forschungsmöglichkeiten und die engen Drähte zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Wir sechs Gründer von Wandelbots haben uns allesamt an der TU Dresden kennengelernt. Unsere Professoren haben uns Mut gemacht, den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen. 

Klingt nach einem Paradies für Gründer.

Was den Gründergeist betrifft, gibt es in Dresden und Umgebung noch Luft nach oben. Da sind wir vom Silicon Valley noch Lichtjahre entfernt. Aber was nicht ist, kann ja noch kommen.

 

Christian Piechnick ist Vorstandschef und einer von sechs Gründern des Start-ups Wandelbots. Am Feierabend im Unilabor schmiedeten die Doktoranden den Plan, den Robotermarkt aufzurollen. Aus dem Hobby wurde Ernst.