EN

Europäische Union
Die Römischen Verträge von 1957 – Geburtsurkunde der Europäischen Wertegemeinschaft

Europäische Einigung: Unterzeichnung der römischen Verträge vom 25. März 1957

Europäische Einigung: Unterzeichnung der römischen Verträge vom 25. März 1957

©

picture-alliance / akg-images | akg-images

„Europa ist unsere Zukunft – eine andere haben wir nicht“, mahnte Hans-Dietrich Genscher, als in den vergangenen Jahren mehr von der Krise der EU die Rede war als von ihrem Gewinn und Nutzen für die Menschen in Europa. Wie wichtig aber der Zusammenhalt und eine verbindliche Wertegemeinschaft sind, zeigt in verstörender Dramatik der Krieg Putin-Russlands gegen die Ukraine.

Trotz aller sonstigen Differenzen in den Mitgliedsstaaten der EU – über die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien, die Migrationspolitik oder die Stabilitätskriterien – besteht große Einigkeit in der Verteidigung grundlegender Werte wie der Humanität, des Selbstbestimmungsrechtes, friedlicher Koexistenz und des gemeinsamen kulturellen Erbes. Zur Geburtsurkunde dieser erklärten Wertegemeinschaft der europäischen Nachkriegsgesellschaften wurden die „Römischen Verträge“. Bis heute bilden diese das Rückgrat der europäischen Zusammenarbeit und Integration, auch wenn die Regeln und Maßnahmen inzwischen vielfach ergänzt und vor allem erweitert wurden.

Unterzeichnet wurden die Verträge am 25. März 1957 von den Außenministern der sechs Gründerstaaten – neben Deutschland die Benelux-Staaten, Frankreich und Italien. Mithin Staaten, die noch zwölf Jahre zuvor gegeneinander im Krieg standen. Der Zweite Weltkrieg hatte Millionen von Menschenleben gefordert und legte den europäischen Kontinent in Schutt und Asche. Die Erinnerungen an das Leid und die Brutalität dieser Katastrophe waren 1957 noch tief in den Menschen verankert. Fest entschlossen, es dazu nie wieder kommen zu lassen, hatten die Staaten zunächst die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet. Die Römischen Verträge gingen dann einen Schritt weiter. Sie ermöglichten eine noch viel umfassendere Integration und wurden das Schlüsselelement für eine nachhaltige europäische Friedensordnung, indem sie die jahrzehnteealte Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland beendeten. Die Verträge waren die Antwort auf das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) im Jahre 1954 gewesen – einem Versuch, auf dem zentralen Feld der militärischen Verteidigung die politische Integration zu befördern. Nach dem Fehlschlag hatte schnell Einigkeit bestanden, die europäische Idee nun über den Weg der wirtschaftlichen Zusammenarbeit weiterzuentwickeln, insbesondere durch ein Projekt, das auf weniger Widerstand, insbesondere auf französischer Seite stoßen würde.

In der Bundesregierung gab es damals in den Verhandlungsrunden weder zum gemeinsamen Markt noch zur Atomgemeinschaft eine einheitliche Position. Bundeskanzler Konrad Adenauer ging es um die politische Integration und Absicherung der Westbindung der Bundesrepublik, Wirtschaftsminister Ludwig Erhard vor allem um eine wirtschaftliche Liberalisierung und Freizügigkeit. Seine Sorge galt der Gefahr des wirtschaftlichen Protektionismus und Dirigismus bei zu bürokratischen und supranationalen Institutionen. In den Verhandlungen der sechs Mitgliedstaaten in Messina und Venedig einigte man sich auf die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes unter marktwirtschaftlichem Leitbild. Auch Frankreich stimmte schließlich zu, nachdem Wettbewerbserleichterungen und Anpassungen im sozialen Bereich vorgenommen und die französischen Überseegebiete einbezogen wurden. Nicht zuletzt auch die Suezkrise 1956 beförderte das französische Interesse an einer starken europäischen Gemeinschaft. Im Juli 1957 stimmten die Benelux-Staaten sowie – mit überraschend großen Mehrheiten – die französische Nationalversammlung und der Deutsche Bundestag dem Vertragswerk zu.

Mit den beiden Verträgen über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft wurden entscheidende Freiheiten festgeschrieben, darunter die Freizügigkeit der Personen und Arbeitskräfte, das freie Niederlassungsrecht und der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr; als Steuerungsmechanismen entstanden zudem der Europäische Sozialfonds und die Europäische Investitionsbank. Als Ziel nannte der Vertrag „die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten". Als institutioneller Rahmen der neuen Gemeinschaft dienten die in der Montanunion vorgebildeten Organe: der Gerichtshof für Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern und Organen der Gemeinschaft und für den Schutz der Rechte des einzelnen Bürgers; die Beratende Versammlung, deren Mitglieder anfangs noch von den nationalen Parlamenten entsandt wurden; der Ministerrat und schließlich die Kommission.

Aus deutscher Sicht verschaffte sich die erst wenige Jahre bestehende Bundesrepublik mit den Römischen Verträgen politische Anerkennung und neuen Handlungsspielraum. Symbolisch kam dies in der Ernennung Walther Hallsteins zum ersten Präsidenten der Kommission zum Ausdruck. Nach dem Beitritt zur NATO 1955 war dies ein weiteres wesentliches Zeichen der Bindung an die westliche Wertegemeinschaft. Letzteres wird manchmal von Kritikern der EU kleingeredet, da sich das Vertragswerk von 1957 primär auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit bezog. Allerdings schwingt in dieser Skepsis eine Unterschätzung der Bedeutung ökonomischer Grundregeln für die gesellschaftliche und politische Ordnung mit: Die Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes, der Abbau von Zollschranken und die Erweiterung von grenzüberschreitenden Arbeitsmöglichkeiten bekräftigt schließlich rechtsstaatliche Mechanismen und sichert die Freiheit auch des Einzelnen.

Die Römischen Verträge knüpften an eine in Deutschland zwischenzeitlich verschüttete außenpolitische Tradition an, die von den liberalen Politikern Walther Rathenau und Gustav Stresemann begründet worden war – das Ziel einer möglichst engen Verflechtung der Wirtschaft im europäischen Rahmen sollte in der nach dem Ersten Weltkrieg erforderlichen Neuordnung zu einer stabilen Friedensordnung beitragen.

Die Europäische Union blickt seit den Römischen Verträgen auf eine erfolgreiche Entwicklung zurück, die sich die meisten Menschen nach den Zerstörungen des zweiten Weltkriegs kaum vorstellen konnten. Sie ermöglichte ihren Mitgliedern ein dynamisches Wachstum, mehr Wohlstand und die engere Kooperation. Aus einem gemeinsamen Wirtschaftsraum wurde Schritt für Schritt eine politische Gemeinschaft, die trotz des Brexit attraktiv für viele andere Länder und Regionen ist. Der Zusammenhalt in der dramatischen Gegenwart belegt, wie existenziell notwendig das Vertrauen in die europäische Idee ist.