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Kultur
Deutscher Entwicklerpreis: Die Kunst im Digitalzeitalter

Was Friedrich Naumann zum Deutschen Entwicklerpreis gesagt hätte
Digitalisierung Computerspiele

Am Mittwoch wird die wohl wichtigste Auszeichnung für Computer- und Videospiele im deutschsprachigen Raum verliehen. Den Deutschen Entwicklerpreis gibt es bereits seit 2004 – dem Jahr, als Facebook gegründet wurde. Seitdem hat sich die digitale Welt rasant verändert und Computer- und Videospiele sind aus dem Schatten der unsäglichen „Killerspiel“-Debatte getreten. Doch damit sie endlich als Kunst- und Kulturform ernstgenommen werden, muss sich noch viel verändern. Eine Begründung hierfür findet sich sogar in den Texten von Friedrich Naumann.

„Die tiefsten Bewegungen des Kunstempfindens in der Gegenwart“, schrieb Friedrich Naumann 1904, „sind in ihrer Eigenart bestimmt oder mitbestimmt von der Maschine.“ Für die Leserinnen und Leser der Zeitschrift Kunstwart waren die Zeilen des streitbaren Theologen eine Provokation. Unter dem Titel „Die Kunst im Zeitalter der Maschine“ legte Naumann dar, wie die Essen der Ziegeleien sich in die Naturschönheit der brandenburgischen Landschaft einschmiegten und sich in der von Eisen und Stahl geprägten Architektur neue Kunststile entfalteten. „Ein Abend über Dortmund und Bochum kann gerade so schön sein wie ein Abend hinter Agaven und Zypressen“ schwärmte er, „wenigstens für das Auge, nicht immer für die Lunge.“

Für weite Teile der heutigen Öffentlichkeit wirkt die Forderung, Computer- und Videospiele endlich als Kulturgüter anzuerkennen, ähnlich befremdlich wie Naumanns Lob der schlanken Schornsteine als „Minarets des Abendlandes“. Kunst – das sind Faust, die Mona Lisa oder die Ruinen von Baalbek, aber sicherlich keine qualmenden Schlote oder Bytes und Pixel. Was Heinrich Schliemann in den Gräbern von Mykene gefunden hat, gehört dazu – „Tomb Raider“ mit Lara Croft aber doch wohl nicht? Diese Wahrnehmung ist eindeutig zu eng. Ebenso wie sich elektronische Musik oder Kinofilme einen Platz in den Feuilletons erkämpft haben, sollten endlich auch Computerspiele als ein Medium anerkannt werden, über das sich künstlerische Aussagen transportieren lassen.

Motoren der Digitalwirtschaft

Selbstverständlich ist nicht jedes Spiel Kunst, genauso wenig wie jedes Gebilde aus Stahl und Beton künstlerisch wertvoll ist. „Auch das Eisen begann seinen neuen Siegesgang formlos und geschmacklos“, machte Naumann 1904 deutlich, „und noch heute sind wir von zahllosen unförmlichen oder mißgeformten Eisenprodukten umgeben.“ Auch manch Gewinnerspiel des ersten Deutschen Entwicklerpreises mag man noch nicht so recht in den Rang des Weltkulturerbes heben. Da wäre beispielsweise das heutzutage zu Recht vergessene „Singles – Flirt Up Your Life“, ein erotisch aufgeladener Abklatsch des beliebten Alltagssimulators „Sims“.

Das Computerspiele aber tatsächlich auch das Prädikat „künstlerisch wertvoll“ verdienen können, zeigte der Gesamtsieger des Jahrs 2004, das Spiel „FarCry“. Diese räumte auch in den Kategorien Grafik und Gamedesign Preise ab und erhielt für seinen technischen Unterbau, die CryEngine, eine Auszeichnung. Bei „FarCry“ handelt es sich um ein grafisch anspruchsvolles Actionspiel, dessen Geschichte um den Wissenschaftler Dr. Krieger, der auf einer einsamen Insel im Südpazifik genetische Experimente durchführt, durchaus literarische Anleihen enthält. Bahnbrechend war das Spiel allerdings vor allem in technischer Hinsicht, beispielsweise durch fast fotorealistische Wassereffekte. Diese waren nur möglich, weil die Herstellerfirma Crytek – gegründet von den Brüdern Cevat, Avni und Faruk Yerli in Frankfurt – die Möglichkeiten der damals verfügbaren Grafikkarten auf bisher nicht gekannte Weise ausreizte. Damit wurde die hessische Softwareschmiede zu einem „Global Player“ der Spielewirtschaft – bis 2010 gingen über 2,5 Millionen Exemplare von „FarCry“ über die Ladentheke, zusammen mit den Nachfolgespielen wurde sogar die Marke von 50 Millionen geknackt.

„Immer trat die Kunst in Zeiten hervor, wo der Wohlstand im Wachsen war“, bemerkte Naumann in seinem Essay. Auch im Falle der Computerspiele tritt dieser Zusammenhang deutlich zutage – Computerspiele, vor allem dort, wo sie neue Wege einschlagen, sind teuer – und lukrativ. Das Rollenspiel „The Elder Scrolls V: Skyrim“ kostete in der Entwicklung beispielsweise über 85 Millionen Dollar und erreichte einen Verkaufserlös von über 1,3 Milliarden Dollar. Es handelt sich hierbei keineswegs um Außenseiter, sondern um einen ungebrochenen Trend. 2019 wurden allein in Deutschland über 6,2 Milliarden Euro durch Spiele, Gaming-Hardware und sogenannte „In-Game-Käufe“ umgesetzt. Obwohl die Branche noch verhältnismäßig jung ist, hat sie in Deutschland also bereits fast zur gesamten (!) Filmwirtschaft mit ihren 10 Milliarden Euro Umsatz aufgeschlossen. Weltweit betrachtet haben Computer- und Videospiele die Film- und Fernsehlandschaft sogar schon lange in den Schatten gestellt. Über 159 Milliarden Dollar wurden allein in 2020 in der Spieleindustrie umgesetzt – 2019, also noch vor der Coronapandemie, setzte die gesamte Filmindustrie dagegen weltweit gerade einmal 99,94 Milliarden Dollar um, 2020 waren es coronabedingt deutlich weniger.

Schon alleine diese Zahlen wären genug, um liberale Forderungen im Bereich der Video- und Computerspielpolitik, endlich umzusetzen. Dazu gehört beispielsweise eine nachhaltige Förderung der Spieleindustrie und die Ausweitung bisheriger kultureller Förderprogramme auf Spiele. „Gaming“ ist nicht nur ein zentraler Pfeiler der Kulturindustrie. Hinzu kommt, dass die Bedeutung der Spieleindustrie nicht allein auf dem Gebiet der Kultur oder der Unterhaltung zu suchen ist. Vielmehr sind Computer- und Videospiele die Kunstform der digitalen Revolution. Sie wirken damit stilbildend für fast alle technologischen Innovationen der letzten Jahrzehnte. Für Friedrich Naumann war die „Kunst im Zeitalter der Moderne“ wichtig, weil wirtschaftlicher Erfolg ohne kulturelle Spitzenleistungen undenkbar wäre. Auch sozialer Fortschritt wäre ohne das Zusammenspiel von Kunst und Wirtschaft undenkbar. Um Im globalen Wettbewerb zu bestehen, schrieb er, „müssen wir Arbeit liefern, bei der nicht bloß die nackte Arbeit an sich bezahlt wird, sondern wo Geist, Geschmack, Form, Farbe, Stil bezahlt wird.“ Wie dies in der Realität aussieht, zeigen die erfolgreichen Pioniere der Digitalwirtschaft des 21. Jahrhunderts – allen voran die Tech-Giganten des Silicon Valley.

Computerspiele spielen in diesen Erfolgsgeschichten eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Revolution im Bereich der Künstlichen Intelligenz beruht maßgeblich auf dem Einsatz von hochentwickelten Grafikarten, die in der Lage sind, die notwendigen Berechnungen in Sekundenschnelle durchzuführen. Ohne die kaufkräftige „Gaming Community“ – und ihre Sehnsucht, Spiele wie „FarCry“ in der höchsten Detailstufe zu spielen – wäre die Entwicklung von Prozessoren und Grafikkarten in den letzten Jahrzehnten wohl kaum so schnell vorangegangen. Auch in puncto „Geist, Geschmack, Form, Farbe, Stil“ spielen Computerspiele oft die Rolle des Innovationsmotors. Von der einfachsten Benutzeroberfläche bis zu den großen Plattformen: gutes Design ist oft im künstlerischen Dialog mit Computerspielen entstanden.

Der Deutsche Entwicklerpreis 2020

Computerspiele sind kein „Spielkram“, sondern ein wichtiger Wirtschaftsfaktor – und ein Medium für künstlerische Exzellenz. Als solches sollen sie dann auch während des Deutschen Entwicklerpreises 2020 gewürdigt werden. Der vor allem von der Gaming-Industrie und dem Land Nordrhein-Westfalen getragene Preis wird von einer Jury vergeben, die aus Repräsentanten von fast allen wichtigen deutschen Entwicklerstudios besteht. Obwohl die deutsche Spieleindustrie im internationalen Vergleich eher eine Außenseiterposition einnimmt, zeigt schon ein Blick in die Nominierungsliste für das „Beste Deutsche Spiel“ das künstlerische Potenzial der hiesigen Entwicklerszene.

„Desperados III“, ein Taktikspiel im Wildwest-Setting, wandelt beispielsweise selbstbewusst auf den Spuren der großen Westernklassiker, während „Cloudpunk“ den Spieler den Spieler in eine düstere Zukunft versetzt, in der zweifelhafte Lieferaufträge für ein anonymes Großunternehmen ausgeführt werden müssen. Wärme strahlt in der kalten Neonwelt lediglich der Hund „Camus“ aus, der Spieler allerdings nicht auf vier Beinen, sondern als digitaler Assistenten begleitet. In „Through The Darkest of Times“ übernehmen Spieler die Rolle eines zivilen Widerstandskämpfers in der nationalsozialistischen Diktatur – ein Beispiel dafür, dass auch ernste Themen mit historischem Bezug über das Medium der Computerspiele verhandelt werden können, auch wenn die bisher verbotene Nutzung des Hakenkreuzes in Computerspielen im Vorfeld für Kontroversen sorgte. Einen deutlich spielerischen Zugang zur jüngeren Geschichte wählt dagegen das Strategiespiel „Iron Harvest“, das in der vom polnischen Künstler Jakub Różalski entwickelten „Welt von 1920+“ spielt. Der Erste Weltkrieg wurde hier mit riesigen Kampfrobotern entschieden, doch – in Anlehnung an den Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1919 bis 1921 – stehen sich auch in dieser Nachkriegszeit die zentraleuropäischen Mächte unversöhnlich gegenüber. Friedrich Naumann taucht in diesem „Mitteleuropa mit Mechs“ nicht auf – stattdessen trifft der Spieler unter anderem auf den fiktiven sächsischen General Gunter von Duisburg oder auf die ebenso fiktive Olga Morozova, einer Agentin des „rusvietischen Zarentums.“ Wer den menschlichen Sorgen ganz entfliehen will, kann schließlich zu „Lost Ember“ greifen, dem letzten Spiel, das 2020 nominiert wurde, und in der der Spieler als Wolf malerische Naturlandschaften erkundet.

Was Friedrich Naumann sagen würde

„Was wäre eigentlich, wenn das Computerspiel eine sowohl ästhetische als auch soziale Zäsur markiert, die dem Einbruch der Zentralperspektive und damit einer neuen Zeit vergleichbar ist?“,  fragte Martin Burckhardt schon 2009 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Friedrich Naumann hätte diese Frage wohl bejaht und betont, dass es sogar die Kunstform des digitalen Zeitalters ist. Der Autor Uwe Timm schildert in Vogel, friß die Feige nicht: Römische Aufzeichnungen eine Szene in der Galleria Borghese in Rom. Er beobachtet, wie erst ein Schuljunge und dann eine amerikanische Touristin der Versuchung nicht widerstehen können, und mit dem Finger an einem Loch im Sockel von Gian Lorenzo Berninis Marmorskulptur „Apollo und Daphne“ herumtasten. „Dem Tasten“, heißt es bedauernd bei Timm, „wurde sogar noch die ihm gemäße Kunstform entzogen und dem allmächtigen Auge zuerkannt, die Skulptur.“ Es ist vielleicht die Besonderheit des Computerspiels, die verschiedenen Sinne – darunter nun auch den Tastsinn – zu bespielen. Die Finger auf der Tastatur oder sogar den vibrierenden Gamepads, Musik und Soundeffekte, und natürlich die in sekundenbruchteilen erzeugten Bilder vereinigen sich zu einem genuin synästhetischen Gesamtkunstwerk, welches den Betrachter auf eine bisher nicht gekannte Weise in das Kunstwerk miteinbezieht. „Die Maschine zerstört und baut, sie ändert“, schloss Naumann damals seine Betrachtung, „wir alle und unser ganzes Zeitalter steht unter dem Einfluß der werktätigen Räder.“ Die Räder des Digitalzeitalters sind Einsen und Nullen. Computerspiele als Kunst – und den E-Sport als Sport – ernst zu nehmen, ist daher nichts weniger als eine Anforderung unserer Zeit.

Wer diese Fragen weiterdiskutieren möchte, der findet hierzu Gelegenheit auf einer digitalen Veranstaltung der Theodor-Heuss-Akademie. Digitales Gaming als Kulturgut: Videospiele und Gesellschaft im 21. Jahrhundert.