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Corona-Krise in Indien: Die Menschen sterben an Corona oder am Hunger

Indien Corona
© picture alliance / NurPhoto | Vishal Bhatnagar

Nach dem Ende des Lockdowns steigt die Zahl der Neuinfektionen in Indien weiter an. Frank Hoffmann von der Friedrich-Naumann-Stiftung beschreibt, warum das Coronavirus vor allem die Armen trifft. "Abstand ist ein Luxus, den sich nicht viele leisten können", sagt er.

Eine rasant steigende Zahl von Neuinfektionen, überlastete Krankenhäuser und überfülllte Krematorien: Die Coronavirus-Pandemie hat Indien schwer getroffen. Die Zahl der bestätigten Coronavirus-Infektionen ist nach Angaben US- amerikanischen Johns-Hopkins-Universität am Dienstag auf 440.000 Fälle gestiegen. Unter den Ländern, die am schwersten von der Pandemie betroffen sind, steht Indien derzeit an vierter Stelle, hinter den USA, Brasilien und Russland.

Indien verhängte eine der strengsten Ausgangssperren

Dabei nahm Indien die Krankheit von Anfang an ernst. Anders als beispielsweise der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro, erkannte Indiens Premierminister Narendra Modi die Gefahr durch das Virus. Am 24. März verhängte er eine der strengsten Ausgangssperren – für 1,3 Milliarden Menschen. "Es fuhr kein Bus, kein Taxi und keine Bahn", sagt Frank Hoffmann von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Neu-Delhi im Gespräch mit unserer Redaktion. Der 35-Jährige lebt seit mehreren Jahren in Indien und arbeitet seit 2018 für die Friedrich-Naumann-Stiftung. Auch für ihn hat sich der Alltag während des Lockdowns verändert. Die Menschen durften nur raus, um Lebensmittel und Medikamente zu kaufen und in Notfällen. Die Straßen der Millionen-Metropole Neu-Dehli waren verwaist.

Modi sagte, sein Land habe wegen des schnellen Handelns die Ausbreitung des Virus besser eingeschränkt als andere Nationen.

Nun aber steigen die Infektionszahlen kontinuierlich und gleichzeitig fährt das Land den Lockdown zurück. Wie passt das zusammen? "Ich glaube, Indien hatte eigentlich nie eine Chance gegen das Virus", sagt Hoffmann. Durch die hohe Bevölkerungsdichte vor allem in Großstädten ist Distanz halten kaum möglich. "Abstand ist ein Luxus, den sich nicht viele leisten können", sagt Hoffmann.

Die wirtschaftliche Krise trifft vor allem die Armen

Der Lockdown hat das Land zudem in eine wirtschaftliche Krise gestürzt, die vor allem die Armen trifft. "Wer hier arbeitslos ist, hat keinerlei Sicherheit", sagt Hoffmann und betont: "Die Regierung hatte die Wahl die Menschen an Corona oder an Hunger sterben zu lassen." Die Verzweiflung der Menschen zeigte sich während des Lockdowns am Exodus der Wanderarbeiter. Ohne Geld und Arbeit zogen Millionen von ihnen aus den Staädten zu Fuß zurück aufs Land.

Dabei ist die medizinische Versorgung in den ländlichen Regionen oft schlechter als in den Städten. Und schon vor der Corona-Pandemie war das Gesundheitssystem marode: Auf 1000 Einwohner kommen in Indien 0,7 Ärzte. In dem ebenfalls schwer getroffenen Brasilien sind es 2,15 Mediziner und in Deutschland 4,3.

Der Exodus der Wohlhabenden

Kollabiert das Gesundheitssystem durch die Coronavirus-Pandemie völlig? "Ich glaube für Neu-Delhi kann man von einem Kollaps sprechen", sagt Hoffmann. Da seien auch die 500 Eisenbahnwaggons, die in der Hauptstadt zu mobilen Corona-Krankenhäusern mit bis zu 8000 Betten umgebaut werden sollen, nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Inzwischen seien sogar die Krematorien überlastet, weil nicht genug Platz für die Toten sei.

Und konnten wohlhabende Inder vor der Krise im Krankenhaus vieles mit Geld lösen, sieht das jetzt anders aus. "Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem Geld kein Krankenhausbett garantiert", sagt Hoffmann. Die Folge: Viele Ausländer und wohlhabende Inder verlassen das Land. Auch die deutsche Botschaft rät das südasiatische Land zu verlassen.

Das Coronavirus stigmatisiert Minderheiten

Ist die Krise in Indien also der große Gleichmacher für alle Dagebliebenen? Wohl kaum. Viel mehr stigmatisiere das Virus Minderheiten, sagt Hoffmann. Zu Beginn der Pandemie nahmen tausende Menschen an einem Treffen einer muslimischen Reformgemeinde in Neu-Delhi teil. Später stellte sich heraus, dass dieses Treffen zu einer hohen Verbreitung des Virus geführt hat. In Whats-App-Gruppen, aber auch in den Nachrichten wurde Muslimen die Schuld am Coronavirus in die Schuhe geschoben, sagt Hoffmann. Die Muslime sind mit mehr als 160 Millionen Menschen die größte religiöse Minderheit im Land.

Als es an der indisch-chinesischen Grenze zu einem bewaffneten Zusammenstoß mit mindestens 20 getöteten indischen Soldaten kam, wurden Chinesen mehr und mehr zum Feindbild.

Die hindunationalistische BJP-Regierung von Narendra Modis hat nach Ansicht Hoffmanns bisher keinen großen Schaden genommen. Modi sei vor allem in Nordindien noch immer sehr populär. Und in Neu-Delhi, der Stadt mit überfüllten Krematorien und dem kollabierten Gesundheitssystem, regiert praktischerweise die Oppositionspartei.

 

Der Artikel wurde am 24.06.2020 in der Osnabrücker Zeitung veröffentlicht und ist auch hier zu finden.