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Schengen
40 Jahre Schengen: Bilanz und Bedeutung

Ein Interview mit Jan-Christoph Oetjen, MdEP
Luxemburg - Schengen Stahlskulptur

Luxemburg - Schengen Stahlskulptur

© picture alliance / SZ Photo | Eduard Fiegel

Was würden Sie jemandem sagen, der Europa nie mit Grenzkontrollen erlebt hat: warum ist Schengen wichtig? Hat das Abkommen sein ursprüngliches Versprechen eingelöst?

In meiner Kindheit sind wir immer in den Urlaub in die Niederlande gefahren, das war von Niedersachsen aus sehr naheliegend. Und ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich zum ersten Mal gesehen habe, wie es nach dem Inkrafttreten des Schengener Übereinkommens 1993 auf einmal keine Grenzkontrollen mehr gab. Die Grenzbäume waren zwar noch da an den Grenzübergängen, aber die Grenzbeamten haben einfach alle Leute durchgewunken. Und ich kann mich noch sehr gut an die Begeisterung meiner Eltern erinnern, als wir so, ohne zu stoppen, das erste Mal die Grenze passiert haben.

Danach wurde das für uns ganz normal, einfach so in die Niederlande zu fahren. Ich glaube, die Tatsache, dass man mal eben unkompliziert „zum Nachbarn“ fahren kann, verbindet die Länder und vor allem die Menschen in Europa viel mehr, als jeder Vertrag es je könnte. Diese Freizügigkeit ist aus meiner Sicht eine der größten, wenn nicht sogar die größte Errungenschaft der Europäischen Union. Denn sie macht Europa zu einem gemeinschaftlich erlebbaren Raum. Ich glaube, dass Europa dadurch erst so richtig zusammengewachsen ist und ja, das Schengener Abkommen hat sein Versprechen in jedem Fall eingelöst.

Junge Europäer und Europäerinnen kennen es gar nicht anders; sie studieren im Ausland, arbeiten in anderen Ländern, reisen ohne Passkontrolle. Wie schützen wir diese Selbstverständlichkeit?

Mit der Zeit sind offene Grenzen in Europa in der Tat zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Das heißt, für Leute in der jungen Generation ist es heute ganz normal, ein Semester oder vielleicht sogar das ganze Studium in einem anderen europäischen Land zu absolvieren. Es ist ganz gewöhnlich, dass Handwerker über die Grenze fahren und im Nachbarland arbeiten.

Diese Selbstverständlichkeit muss leicht umsetzbar gemacht werden. Das heißt, unnötig bürokratische Hürden, die wir in diesem Zusammenhang haben, müssen abgeschafft werden. Sei es für Grenzgänger, die in einem anderen Land arbeiten und dafür eine A1 Bescheinigung brauchen, oder bei der Anerkennung von Abschlüssen – da ist auch insbesondere in Deutschland immer noch einiges zu tun.

Trotzdem kommt auch immer mehr die Frage auf, ob man nicht Grenzkontrollen braucht, um die Sicherheit im Land zu gewährleisten und sich zu schützen. Ich glaube, dass man dieses Ziel auch ohne stationäre Grenzkontrollen erreichen kann. Es gibt ja heute schon stichpunktartige Kontrollen im grenznahen Gebiet. Solche Kontrollen hat es immer schon gegeben und das ist auch ein wichtiges und richtiges Instrument. Darüber hinaus haben wir eine gute polizeiliche Kooperation über die Grenzen hinweg zwischen Bundesländern und Nachbarländern. Das alles sind aus meiner Sicht gute und auch ausreichende Instrumente. Stationäre Grenzkontrollen bringen dagegen wenig Mehrwert und sind eher symbolischer Natur.

Außerdem müssen wir den Schengen-Raum natürlich auch als gemeinsamen Raum aller Mitgliedstaaten verstehen und deshalb die Schengen-Außengrenzen so gut es geht schützen. Aus diesem Grund haben wir den Asyl- und Migrationspakt letztes Jahr auf den Weg gebracht, durch den wir ermöglichen, dass schon an der europäischen Außengrenze Asylverfahren durchgeführt werden. Ich glaube, ein solches Verfahren ist Teil der Lösung, wie wir die Selbstverständlichkeit von offenen Binnengrenzen für junge Europäer und Europäerinnen schützen können.

Deutschland war Schengen-Gründer und profitiert stark davon. Welche besondere Verantwortung haben wir, damit es die nächsten 40 Jahre übersteht?

Deutschlands Status als Gründungsmitglied bedeutet für uns, dass wir Schengen respektieren müssen. Denn wenn wir die Schengen-Regeln nicht respektieren, warum sollten es andere tun? Es ist wichtig, dass wir in Europa ein grundlegendes gegenseitiges Vertrauen unter den Mitgliedsstaaten brauchen, dass alle die Schengen-Regeln auch erfüllen. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass es dieses Vertrauen in der Vergangenheit nicht immer gab. Ein Beispiel dafür ist die Migrationspolitik: dort haben wir gesehen, dass manche Länder entgegen ihrer Verpflichtungen eben nicht alle Menschen registriert haben, die ins Land eingereist sind. Auf der anderen Seite wurden beispielsweise Bulgarien und Rumänien nicht in den Schengen-Raum aufgenommen, obwohl sie alle Voraussetzungen dafür erfüllt haben; übrigens sogar besser als manche Gründungsmitglieder des Schengen-Raums wie Deutschland und Frankreich.

Aus dem Grund muss sich insbesondere Deutschland dafür einsetzen, dass wir alle die Regeln des Schengen-Raums einhalten. Wir müssen das Vertrauen unter den Mitgliedsstaaten stärken, den Rechtsstaat konsequent durchsetzen und die Schengen-Außengrenzen schützen. Denn nur dann kann dieses am meisten geschätzte Gut der Menschen in der EU, nämlich das freie Reisen im Schengen-Raum, auch die nächsten 40 Jahre bestehen.