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Ukrainekrise
Russlands Aufmarsch an der Grenze: Eine Aufforderung zum Perspektivwechsel

Ukraine
© picture alliance / EPA | STAS KOZLYUK  

Seit Wochen beherrscht der russische Truppenaufmarsch entlang der ukrainischen Grenze die internationalen Schlagzeilen. Das Risiko einer militärischen Eskalation löst große Besorgnis aus – auch in der internationalen Gemeinschaft. 

Die Interessen und Perspektiven der Ukraine, die von der Gefahr am meisten betroffen ist und sich schon seit acht Jahren gegen russische Aggression wehrt, finden hingegen weniger Beachtung. Daher möchten wir als ukrainische Mitarbeitende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hier unsere Perspektive beisteuern.

Wir in der Ukraine leben bereits seit langer Zeit mit dem Gefühl einer möglichen Eskalation. Deshalb sind wir die erhöhte Gefahr und Unsicherheit gewohnt. Im Kontrast zur Außenwelt bleiben wir Ukrainer relativ gelassen. Man versteht, dass Panik und Verunsicherung in die Hände Putins spielen, weshalb es wichtig ist, einen kühlen Kopf zu bewahren. Trotzdem bereitet man sich auf eine mögliche Eskalation vor, statt untätig herumzusitzen. Themen wie der Weg zum nächstgelegenen Luftschutzbunker und Empfehlungen darüber, was man unbedingt in Notfalltaschen einpacken sollte, gehören seit diesem Winter zum Alltag in der Ukraine.

Einige unserer Landleute sind der Ansicht, dass Russlands militärische Drohgebärde lediglich eine weitere Provokation ist und nicht zu einer Invasion führen wird. Ähnliches haben die Ukrainer bereits im Frühling 2021 erlebt, als es ebenso erhebliche Bewegungen russischer Truppen an der ukrainischen Grenze gab. Den meisten ist jedoch klar, dass diese Bedrohung diesmal ernster genommen werden sollte. Nach den Ergebnissen einer Meinungsumfrage aus der zweiten Januarhälfte, die für das gesamte Gebiet der Ukraine repräsentativ ist, glauben 48 Prozent der Befragten, dass Russland eine neue militärische Aggression starten wird. Nur 39 Prozent gehen davon aus, dass keine Invasion seitens des östlichen Nachbarstaates stattfinden wird.

Die Kriegsgefahr und die aggressive Rhetorik Moskaus rücken die Ukraine näher an die NATO heran, obwohl Russland mit seinen Maßnahmen genau das Gegenteil erreichen möchte – nämlich, den schriftlichen Verzicht auf die Möglichkeit der Aufnahme der Ukraine in die NATO als eine der Sicherheitsgarantien. Dies zeigt auch eine aktuelle Umfrage, wonach mehr als die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung inzwischen für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine plädiert. Das ist eine drastische Änderung der öffentlichen Meinung in den vergangenen Jahren. Noch 2013, vor dem Beginn des Konflikts, lag die Zustimmungsrate für einen NATO-Beitritt hierzulande nur bei 18 Prozent. Dagegen war die Ansicht, dass die Ukraine eine „blockfreie Politik“ verfolgen müsse, damals die Mehrheitsmeinung. Und genau deswegen wird die von Moskau geäußerte Besorgnis über die Osterweiterung der NATO von den Ukrainern nicht als aufrichtig empfunden: immerhin hat Russland selbst durch sein Handeln in der ukrainischen Gesellschaft für eine starke Unterstützung des NATO-Beitrittes gesorgt.

Obwohl die Ukraine alle Anstrengungen unternimmt, sich aus eigener Kraft vor der Gefahr zu schützen, ist das Land im Fall der Fälle immer noch auf die Hilfe seiner internationalen Partner angewiesen. Zwar haben sich die Verteidigungskapazitäten der Ukraine seit 2014 deutlich verbessert. Dennoch könnten sie womöglich nicht ausreichen, sich im Falle eines Großangriffs wirksam zu verteidigen. Daher werden die Lieferungen von Defensivwaffen aus den USA, Großbritannien und der Türkei als eine bedeutende Schutzmaßnahme zur Verhinderung eines Angriffes betrachtet. Die restriktive Haltung der deutschen Bundesregierung sorgt dagegen für Kritik und Unverständnis in der ukrainischen Gesellschaft. Da Deutschland als einer der wichtigsten europäischen Partner in der Ukraine hochgeschätzt ist, hatte man hohe Erwartungen daran, dass Deutschland eine proaktive Rolle bei der Konfliktlösung spielen und eine härtere Haltung gegenüber Russlands Forderungen einnehmen würde. Es wird befürchtet, dass die mangelnde Bereitschaft der Bundesregierung, die Ukraine mit Waffen zur Selbstverteidigung zu unterstützen und so den Sanktionsdruck auf Russland zu erhöhen, Putin zum Angriff noch weiter ermutigen wird.

Zudem wächst in der ukrainischen Öffentlichkeit die Besorgnis, dass die europäischen Partner (vor allem Frankreich und Deutschland als Vermittler im Normandie-Format) im Gegenteil Druck auf die Ukraine ausüben könnten, um eine Verschärfung des Konflikts mit Russland zu vermeiden – so etwa mit Blick auf die Minsker Vereinbarungen, die von der Ukraine und Russland auf ganz verschiedene Weise gedeutet werden. So haben die Menschen in der Ukraine bereits in den vergangenen beiden Jahren die Erfahrung gemacht, dass sämtliche Vorschläge aus Kyjiw zur Umsetzung des Abkommens in Moskau auf Ablehnung gestoßen sind. Deshalb gehen wir davon aus, dass Russland nur solchen Schritten zustimmen wird, die in strikter Einhaltung seiner eigenen Interpretation der Vereinbarungen bestehen. Die Ukraine versucht trotzdem den Dialog weiterzuführen - das Normandie-Treffen am 26. Januar fand schließlich gerade auf Initiative der ukrainischen Seite statt. Und in diesem Dialog braucht sie eine weitere und klare Unterstützung ihrer internationalen Partner.

Die Lösung des Konflikts oder auch nur eine leichte Deeskalation sind noch nicht in Sicht. Die nächsten Verhandlungsrunden im Normandie-Format Mitte Februar sowie die weiteren möglichen Gespräche zwischen den USA, NATO und Russland geben kaum Hoffnung für eine schnelle Normalisierung der Situation. In der Zwischenzeit lernen die Ukrainer in ständiger Spannung zu leben und gewöhnen sich zunehmend an den Zustand der Unsicherheit. Was sie dabei von ihren europäischen Partnern erwarten, kann kurz zusammengefasst werden: Es ist nicht mehr als das Bekenntnis zu Europas eigenen Werten und Prinzipien sowie Einigkeit und Standhaftigkeit angesichts der Bedrohung.

 

Unsere Autoren Solomiia Kubrysh und Volodymyr Kildii arbeiten als ukrainische Mitarbeitende im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Kyjiw.