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Menschenrechte
“Zeit dunkler Vorahnungen” – Erdogans Menschenrechtsagenda zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Unterstützer der HDP demonstrieren in Ankara gegen Festnahmen von Parteifunktionären
Unterstützer der HDP demonstrieren in Ankara gegen Festnahmen von Parteifunktionären. Das Plakat trägt die Inschrift „Repressionen und Untersuchungshaft werden uns nicht abhalten. HDP Ankara“ © picture alliance / NurPhoto | Altan Gocher

Seit jenem 2. März, an dem Präsident Recep Tayyip Erdogan den „Aktionsplan für die Menschenrechte” vorgestellt hat, haben wir dramatische Dinge erlebt. Der Plan enthält mehrere Punkte, die darauf abzielen, die Menschenrechte zu stärken.

Doch die Realität sieht anders aus: Seit dem Putschversuch von 2016 hat die Unterdrückung zugenommen: derzeit sitzen 80 Journalistinnen und Journalisten in türkischen Gefängnissen, ebenso tausende Politikerinnen und Politiker der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP) sowie Aktivisten und Schriftsteller. Die prominentesten, weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten politischen Gefangenen sind der Kulturmäzen und Anführer der Zivilgesellschaft Osman Kavala und der Ex- Vorsitzende der HDP Selahattin Demirtas. Es gibt keine unabhängige Justiz und keine Gewaltenteilung. Es mehren sich die Belege, dass die Regierung jede Kritik im Keime ersticken will. Im vergangenen Jahr wurden neue repressive Gesetze verabschiedet. Die Freiräume für Anwälte, soziale Medien und die Zivilgesellschaft werden enger.

Von alldem ist in Erdogans Aktionsplan keine Rede. Das Papier gibt allerdings einen Vorgeschmack, wie der Präsident sich die Zukunft der Türkei vorstellt. Wenn das, was nach der Bekanntgabe des Plans passiert ist, ein Hinweis auf künftige Entwicklungen ist, müssen sich die fortschrittlichen Menschen hier auf noch dunklere Tage einstellen. Zwei Wochen nach Verkündung des Plans, am 17. März, eröffnete der Oberstaatsanwalt des Berufungsgerichts das Verfahren zum Verbot der HDP. Das von Erdogan kontrollierte Parlament schloss sodann – rechtswidrig - den für seinen Menschenrechtsaktivismus bekannten HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerliogu aus. Zwei Tage später verkündete Erdogan per Präsidialdekret den Rückzug der Türkei aus dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, auch bekannt als Istanbul-Konvention.

In einem weiteren Schritt, der keinen Bezug zu den Menschenrechten hat, entließ Erdogan am 20. März den erst im November berufenen Chef der Zentralbank Naci Agbal und ersetzte diesen mit einem regierungsnahen Kolumnisten ohne administrative Berufserfahrung.

Umfragen zeigen, dass Erdogans „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung” (AKP) und ihr Koalitionspartner „Partei der Nationalistischen Bewegung” (MHP) heute nicht die nötigen 50% der Stimmen bekämen, die für die Wahl zum Präsidenten (oder einen Sieg in einem Referendum) erforderlich sind. Im Jahr 2019 verlor die AKP ihre Mehrheit in großen Städten, darunter Istanbul und Ankara, wo die oppositionelle „Republikanische Volkspartei” (CHP) Siege erringen konnte.

Warum hat Erdogan so kurz nach der Verkündung seines „Aktionsplans für die Menschenrechte“ die offenkundig gegen die Menschenrechte gerichteten Maßnahmen ergriffen? Eine Erklärung lautet: Der Präsident hat keine Exit-Strategie; er ist im Lichte schwindenden Zuspruchs in der Wählerschaft fest entschlossen, um jeden Preis an der Macht zu bleiben. Mit dem Verbot der HDP will er den Koalitionspartner MHP beschwichtigen. Der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention ist ein Lockmittel für potenzielle konservative Verbündete, insbesondere die Saadet-Partei. Diese gebietet zwar nicht über ein großes Wählerpotential, hat aber einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf islamistische Gemeinschaften (Cemaats). Mit der Entlassung des Zentralbankchefs schließlich will der Präsident seine Verbündeten in der Wirtschaft besänftigen. In jüngster Zeit gab es zudem Initiativen, die von der AKP 2019 verlorenen Kommunen finanziell zu schädigen. All dies folgt dem Spielplan, mit oder auch ohne öffentliche Unterstützung so lange wie möglich an der Macht zu bleiben.

Obwohl diese Erklärungen die Absichten Erdogans nur ansatzweise umreißen, haben die repressiven Maßnahmen gegen die Menschenrechte, die der Verkündung des „Aktionsplans” folgten, bei Beobachtern Verblüffung ausgelöst. In diesem Chaos gab der Parteitag der AKP am 25. März, der lustlos und ohne Esprit über die Bühne ging, keine Orientierung.

Zum ersten Mal in zwei Jahrzehnten kommen Erdogan und die von ihm aufgebaute AKP ins Straucheln. Eigentlich sollte die Schwäche der Regierungspartei für die Menschenrechtsverteidiger und die Demokratie-Bewegung in der Türkei ein Anlass zum Optimismus sein. Doch dies ist nicht der Fall: Wir müssen uns auf noch härtere, noch extremere Schritte einstellen. Wir leben in einer Zeit dunkler Vorahnungen über das was kommt.

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