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Türkei
Türkisches NGO-Gesetz: „Rechtsgrundlage für rechtswidrige Praxis“

Der Menschenrechtsanwalt Veysel Ok kommentiert das neue NGO-Gesetz
Veysel Ok in Istanbul
Veysel Ok vor einem Gericht in Istanbul. Der Menschenrechtsanwalt vertritt unter anderem zahlreiche Journalisten, die sich in der Türkei vor Gericht verantworten müssen. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mehmet Guzel

Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wird in der Türkei der Rechtsstaat Tag für Tag ausgehöhlt. Durch den Übergang in ein sogenanntes „Präsidialsystem", das sich das System der „Präsidentschaft” nennt, im Grunde aber die Macht in einer Person konzentriert, wurde das Parlament seiner Funktion beraubt. Die Präsidentenerlässe entzogen dem Parlament die gesetzgeberischen Befugnisse.

Um die Justiz steht es noch schlimmer. Das Wahlverfahren zur Bestimmung der Mitglieder des Rates der Richter- und Staatsanwälte – dieser ist für die disziplinarrechtliche Kontrolle der Gerichte, für Personalfragen sowie für die Suspendierung oder Versetzung der Richter und Staatsanwälte zuständig - wurde geändert. Nunmehr wird die Hälfte der Ratsmitglieder direkt von Präsident Erdogan ernannt. Die andere Hälfte wählt die größte Parlamentspartei, also die AK-Partei des Präsidenten. Im Ergebnis führt diese Regelung zur Abhängigkeit der Justiz von der politischen Autorität.

Wie ist die Situation der Medien? Laut Angaben der türkischen Journalistengewerkschaft sind 97 Prozent der Mainstreammedien mittlerweile im Besitz von regierungsnahen Kapitalgruppen. Im Klartext: Die Regierung hat die in der Demokratie unerlässliche Gewaltenteilung aufgehoben, indem sie die Legislative, die Judikative und auch die Medien unter ihre Kontrolle gebracht hat.

Der einzige gesellschaftliche Bereich, der trotz massiven Unterdrückungs- und Einschüchterungsversuchen seine Forderung nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht aufgibt, bleibt die Zivilgesellschaft. Mit ihrer Berichterstattung zu Rechtsverletzungen, mit Kampagnen und Protestaktionen sowie der Gewährung von Rechtsbeistand für Betroffene sind die zivilgesellschaftlichen Initiativen zum Symbol der Hoffnung für die Demokratie geworden.

Seit dem Putschversuch von 2016 wurden Dutzende zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen, viele ihrer Mitarbeitenden, Helfer sowie Leiterinnen und Leiter wurden verhaftet. Um eine Rechtsgrundlage für ihre rechtswidrigen Praktiken zu schaffen, hat die türkische Regierung nun ein Gesetz verabschiedet, das den Druck auf die Nichtregierungsorganisationen weiter verschärft.

In diesem „Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen“ beziehen sich lediglich sechs von 43 Artikeln auf dieses Thema. Das Gesetz veranlasst Änderungen in sieben Artikeln des Vereinsgesetzes und in vier Artikeln des (Hilfs-)Sammlungsgesetzes.

Auch die in der Türkei aktiven internationalen Organisationen und Stiftungen fallen unter die Bestimmungen des Gesetzes. Deren Fördergelder sollen im Rahmen des Gesetzes geprüft werden. 

Das Gesetz verbietet Personen, gegen die im Rahmen des „Gesetzes zur Verhinderung der Finanzierung von Terrorismus“ oder wegen Produktion oder Verkauf von Sucht- und Aufputschmitteln sowie Geldwäsche ermittelt wird, die Beschäftigung in Vorständen, Aufsichtsgremien sowie Disziplinarausschüssen von Vereinen.

Eine weitere Regelung macht staatliche Kontrollen der Nichtregierungsorganisationen zur Routine. Diese sollen nunmehr jährlich stattfinden. Mit diesen Prüfungen kann gleichsam jeder öffentliche Bedienstete beauftragt werden. Das bedeutet, dass jeder, der im öffentlichen Dienst tätig ist – inklusive Polizisten, Gendarmen oder Imame – diese Prüfung vornehmen können. Eine weitere Neuerung erlaubt, die Kontrolle auf Vereine auszuweiten, die mit dem zunächst geprüften Verein zusammenarbeiten. Das heißt, wenn ein Verein oder eine Stiftung einem anderen Verein eine finanzielle Förderung gewährt hat oder mit diesem zusammenarbeitet, wird auch dieser geprüft.

Eine weitere - die allerschlimmste - Neuerung erlaubt es dem Innenminister, die Leitung von NGOs zu ersetzen oder die Aktivitäten der Organisation vollends auszusetzen, wenn gegen diese mit dem Vorwurf des Terrorismus oder der Finanzierung des Terrorismus sowie der Produktion oder des Verkaufs von Sucht- und Aufputschmitteln sowie der Geldwäsche ermittelt wird.

Angesichts der Politisierung der türkischen Justiz und der Tatsache, dass jeder und jede wegen Terrorismus vor Gericht gestellt werden kann (und derzeit viele Menschenrechtsaktivisten genau deshalb vor Gericht stehen) ist es durchaus denkbar, dass das neue Gesetz zur Absetzung zahlreicher NGO-Mitarbeiter führen kann.

Dieses Gesetz schwebt wie ein Damoklesschwert über den Nichtregierungsorganisationen. Und genau das ist die Absicht der Regierung. Ihr Ziel ist es, auf die Menschenrechtsorganisationen, die über Rechtsverletzungen Bericht erstatten, international vernetzt sind und die internationale Öffentlichkeit über die Probleme im Land informieren, Druck auszuüben. Und auch auf die Organisationen, die diese finanziell fördern. Während die Regierung rechtswidrig handelt, löst sie Nichtregierungsorganisationen auf, die auf diese Rechtswidrigkeiten hinweisen. Das Gesetz beabsichtigt die Etablierung einer Art Selbstzensur der Zivilgesellschaft.

Gemeinsam werden wir sehen, wie das Gesetz vollstreckt wird. Es besteht kein Grund, dass der Innenminister, der in den vergangenen Jahren Dutzende Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der Oppositionspartei HDP mit Zwangsverwaltern ersetzt hat, ähnliches nicht auch mit den NGOs machen sollte. 

Die größte Oppositionspartei CHP hat bekannt gegeben, beim Verfassungsgerichtshof eine Beschwerde mit dem Ziel der Aufhebung des Gesetzes einzureichen, da dieses dem in der Verfassung verankertem Prinzip des Rechtsstaates, der Vereinigungsfreiheit und der Meinungsfreiheit widerspreche. 

Im Laufe dieses Verfahrens sollten vor allem die westliche Öffentlichkeit und westliche Organisationen lauthals gegen das Gesetz protestieren. Die Türkei ist Mitglied des Europarats und hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben. Zahlreiche Vorschriften in diesem Gesetz verletzen diese Konvention. Aus diesem Grund können westliche Organisationen und Regierungen von der türkischen Regierung fordern, den internationalen Konventionen entsprechende gesetzliche Änderungen vorzunehmen und die diesen Konventionen widersprechenden Gesetze zurückzuziehen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einsetzen, nur durch internationale Solidarität diesem immensen Druck standhalten können.

Dieser Artikel von Veysel Ok wurde erstmals in unserem „Türkei Bulletin“ veröffentlicht, einer monatlichen Veröffentlichung, die ein deutschsprachiges Publikum über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in der Türkei informieren soll.

Veysel Ok ist ein bekannter Menschenrechtsanwalt und Partner der Friedrich-Naumann-Stiftung. (Übersetzung aus dem Türkischen: Gamze Ongan)