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Türkei
Orwell lässt grüßen – Eine staatliche „Fact-Checking“-Initiative sorgt für Aufsehen und Kopfschütteln

Überwachungskameras

Dogru Mu?“, zu Deutsch etwa „Ist es wahr?“ heißt die neue App, mit der die User den Wahrheitsgehalt von Nachrichten überprüfen sollen. Fact-Checking hat in der Türkei eine gewisse Tradition. Außergewöhnlich ist jedoch, wer hinter dem neuen Projekt steht.

„Diese Plattform, die wir sehr, sehr bald in Betrieb nehmen werden, wird eines unserer robusten Instrumente im Kampf um die Wahrheit sein“, sagt der Initiator Fahrettin Altun.

Altun ist ein mächtiger Mann in Erdogans Türkei. Er leitet das Präsidialamt für Kommunikation und gebietet in hohem Maße darüber, was in den türkischen Medien erscheint – und was dort in keinem Fall erscheinen soll. Vier Fünftel der traditionellen Medien gehören Unternehmen, die dem Präsidenten nahestehen. Erdogan hat es verstanden, Presse, Funk und Fernsehen weitestgehend auf Kurs zu bringen. Fahrettin Altun achtet darauf, dass sich hieran nichts ändert.

Doch die Kontrolle ist nicht total. Gerade die sozialen Medien bieten Freiräume, hier gibt es Inseln des Dissens. Wie in anderen Teilen der Welt hat maßgeblich die junge Generation auch in der Türkei den Traditionsmedien den Rücken gekehrt. Die Jugend verbringt ihre Zeit lieber bei Instagram, Facebook, YouTube, Twitter und in zunehmendem Maße auch Clubhouse, um die Top-Adressen zu nennen. 

Im Kampf um die politische Deutungshoheit sind vor allem die sozialen Medien zum Schlachtfeld geworden. Erdogan geht in dieser Auseinandersetzung strategisch und systematisch zur Sache.

Im Weltbild des Fahrettin Altun bedrohen Feinde im In- und Ausland die Türkei. Die Beherrschung der Informationsströme sei „eine Frage der nationalen Sicherheit“, sagt der Erdogan-Vertraute. Als Hauptquellen der Bedrohung nennt Altun die kurdische PKK und die Gülen-Bewegung, die Ankara für den fehlgeschlagenen Putschversuch von 2016 verantwortlich macht.

„Unser Land wird an der Spitze des Kampfes für die Wahrheit in der Kommunikation stehen, so wie es die Stimme der Sprachlosen und der Unterdrückten unter der Führung von Präsident Erdogan geworden ist“, zitiert die regierungsnahe Zeitung Daily Sabah den Kommunikationsdirektor.

Laut dem Informationsportal Al Monitor soll sich Ankaras amtliche Fact-Checking-App vor allem mit Online-Content beschäftigen. Das ist naheliegend, ist im Internet die Erdogan-Kritik in türkischer Sprache doch besonders verbreitet.

Mit einer Mischung aus Ablehnung und Sarkasmus kommentieren unabhängige Beobachter das „Dogru Mu?“-Projekt. In den sozialen Medien kursieren Vergleiche mit dem „Ministry of Truth“, das in George Orwells Roman „1984“ für Propaganda, Desinformation und die systematische Verdrehung der Tatsachen verantwortlich ist. „Big Brother“ und die Partei haben immer recht, so die totalitäre Version, die Orwell in „1984“ akkurat und teilweise prophetisch beschreibt.

„Diese App wird voraussichtlich alles, was offizielle Quellen als richtig angeben als wahrheitsgemäß bezeichnen und alles andere als falsch“, kommentiert Faruk Bildirci, der früher als Ombudsmann für die Tageszeitung Hurriyet tätig war.

In der Türkei ist Fact-Checking nichts Neues. Eine Reihe von Organisationen haben es sich zum Ziel gesetzt, Informationen in den Medien auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Unwahrheiten aufzudecken und zu dokumentieren ist auch der Auftrag von Teyit.org (deutsch: Verifikation), der 2015 ins Leben gerufenen und heute führenden Initiative. Es sei zu früh für ein Urteil über die Regierungs-App, sagt Can Semerciolglu von Teyit.org. Aus grundsätzlichen Gründen lehnt er das Vorhaben ab. „Prinzipiell ist es eine beunruhigende Entwicklung, wenn staatliche Stellen sich mit der Faktenprüfung befassen.“

Für die Überprüfung journalistischer Inhalte auf ihren Wahrheitsgehalt gebe es unterschiedliche Modelle - sowohl in den Redaktionen wie außerhalb.  Eine Variante sei die Bestellung einer Ombudsperson. Ein anderes Modell sei – wie etwa in Deutschland – der Presserat. Diesen haben die Medien zur freiwilligen Selbstkontrolle selber eingerichtet; der Presserat wacht nicht zuletzt über die Einhaltung journalistischer Standards. Entscheidend sei die Staatsferne, sagt Can Semercioglu. Diese ist im Falle der geplanten türkischen App ausdrücklich nicht vorgesehen.

Dogru Mu?“ ist ein weiterer – womöglich der skurrilste – Versuch der Erdogan-Regierung, die Meinungshoheit in einem dynamischen Medienumfeld zu behaupten. Im illiberalen Instrumenten-Mix ist die App eine vergleichsweise milde Variante. Wenn sie wollen, können die User einfach wegschauen. Diese Freiheit haben die 80 Journalisten, die in Erdogans Gefängnissen einsitzen, nicht.

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