FREIHEIT+90
Dr. Yalın Gündüz über Identität, Integration und liberalen Aufbruch

Dr. Yalın Gündüz
© Dr. Yalın GündüzIm Rahmen unseres Projekts „Freiheit +90“, das vom FNF-Büro in Istanbul ins Leben gerufen wurde, führen wir Interviews mit in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln. Ziel ist es, ihre persönlichen und inspirierenden Erfahrungen sowie ihre Perspektiven zu den Themen Identität, Zugehörigkeit, Migration und Liberalismus kennenzulernen und mit Ihnen als Leserinnen und Lesern zu teilen. Mit dieser zweiwöchentlich erscheinenden Interview-Reihe möchten wir einen tieferen Einblick in die multikulturelle Gesellschaft Deutschlands und individuelle Lebensgeschichten ermöglichen. Diese Woche erzählt uns der türkeistämmige Ökonom und Wissenschaftler Dr. Yalın Gündüz von seinem Werdegang, seinen Wahrnehmungen und Erfahrungen.
Können Sie uns bitte Ihren beruflichen Werdegang in Deutschland schildern und erläutern, wie Ihr Beruf Ihr Leben hier beeinflusst?
Mein beruflicher Werdegang in Deutschland begann nach meinem Bachelor- und Masterstudium an der Middle East Technical University mit meiner Promotion an der Universität Karlsruhe. Hier stieß ich auf sehr wertvolle Forschungsmöglichkeiten, die meine berufliche Entwicklung in einer disziplinierten Arbeitsumgebung unterstützten. Meine Doktormutter Prof. Dr. Marliese Uhrig-Homburg leistete bedeutende Unterstützung bei meinen wissenschaftlichen Arbeiten. Die hohe Bedeutung, die Deutschland der Wissenschaft und Forschung beimisst, war auch während meiner Tätigkeit bei der Deutschen Bundesbank spürbar, wo ich von 2010 bis heute im Bereich Banken und Finanzaufsicht arbeitete. In dieser Position trug ich durch meine finanzmarktorientierten Forschungsarbeiten zur Wirtschaftspolitik des Landes bei.
Die direkten Zugangsmöglichkeiten zu globalen akademischen Netzwerken beschleunigten meine wissenschaftlichen Veröffentlichungen erheblich und die Teilnahme an Konferenzen förderten meine berufliche Entwicklung. Ich knüpfte Kontakte mit Akademikern aus den USA, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und China und nahm an internationalen Forschungsprojekten teil. Bei all diesen Erfahrungen half mir mein eigener interkultureller Hintergrund dabei, die unterschiedlichen Perspektiven meiner Projektkollegen zu berücksichtigen. Doch nicht nur in meiner wissenschaftlichen Arbeit, auch in meinem privaten Leben profitierte ich erheblich von diesen Erfahrungen. Persönlich war es mir schon immer wichtig, sowohl beruflich erfolgreich zu sein als auch einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten.
Welche Rolle spielen türkeistämmige Bürgerinnen und Bürger bei der Gestaltung der politischen Landschaft in Deutschland? Wie können politische Bewegungen oder Parteien besser mit dieser Gemeinschaft zusammenarbeiten?
Türkisch-deutsche Bürgerinnen und Bürger spielen eine zunehmend wichtige Rolle bei der Gestaltung der politischen Landschaft in Deutschland. In Deutschland leben etwa 3 Millionen Menschen türkischer Herkunft, von denen ein bedeutender Teil die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und bei Wahlen wählen kann. Dies erfordert, dass politische Parteien bei der Festlegung ihrer Politik die Bedürfnisse und Erwartungen dieser Menschen ebenfalls berücksichtigen.
Es sind mehr als sechzig Jahre vergangen, seit das Arbeitsabkommen zwischen der Türkei und Deutschland unterzeichnet wurde. Besonders in den letzten fünfzehn Jahren hat Deutschland viele Migranten aus verschiedenen Kulturen aufgenommen und wichtige Schritte unternommen, um eine multikultureelle internationale Kraft zu werden. In jüngster Zeit tragen auch Ärzte, Ingenieure und Akademiker aus der Türkei erheblich zu dieser neuen Struktur bei. Politische Bewegungen, die diese Vielfalt nutzen möchten, können besser mit türkischstämmigen Migranten in Verbindung treten, indem sie deren Wissen und Fähigkeiten wertschätzen und ihren kulturellen Hintergrund respektieren. Auf diese Weise können sie deren kulturelle Eigenschaften integrieren und in internationalen Beziehungen effektiver agieren.
Der beste Weg, dies zu erreichen, besteht darin, Kandidaten mit Migrationshintergrund auf der politischen Bühne sichtbarer zu machen und politische Positionen zu entwickeln, die türkischstämmige Menschen ansprechen und die Chancen interkultureller Erfahrungen auch im Politikbetrieb anerkennen.
Wie tragen türkeistämmige Unternehmerinnen, Unternehmer und Unternehmen zur deutschen Wirtschaft bei?
Türkisch-deutsche Unternehmerinnen, Unternehmer und Unternehmen tragen in vielfältiger Weise zur deutschen Wirtschaft bei. In Deutschland sind etwa 100.000 Unternehmen tätig, die von Menschen türkischer Herkunft gegründet oder geleitet werden. Diese Unternehmen beschäftigen insgesamt mehr als 500.000 Menschen. Damit tragen sie direkt zur Senkung der Arbeitslosenquote und zum wirtschaftlichen Wachstum bei.
Türkisch-deutsche Unternehmerinnen und Unternehmer sind in einer breiten Palette von Branchen tätig – vom Dienstleistungssektor bis hin zur Industrie. Sie schaffen Beschäftigungsmöglichkeiten für alle Gesellschaftsschichten und leisten einen wichtigen Beitrag zur sozialen Integration. Indem sie als kulturelle Brücke fungieren und den internationalen Handel unterstützen, bieten sie den Verbrauchern ein breiteres Dienstleistungsnetz und steigern die Wettbewerbsfähigkeit durch innovative Geschäfts- und Produktideen, die davon profitieren, unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen.
Darüber hinaus bringen diese Unternehmerinnen und Unternehmer Dynamik in die Handelsstruktur Deutschlands und stärken dessen wirtschaftliche Beziehungen zur Türkei. Durch ihre schnelle Anpassung an die digitale Transformation unterstützen sie die Modernisierung der deutschen Wirtschaft. Zusammengefasst leisten türkisch-deutsche Unternehmerinnen und Unternehmer nicht nur einen bedeutenden Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum, sondern auch zur Bereicherung der gesellschaftlichen Vielfalt und zur Stärkung der kulturellen Integration.

Dr. Yalın Gündüz als Kind
© Dr. Yalın Gündüz
Was sind die größten wirtschaftlichen Herausforderungen für die türkisch-deutschen Unternehmer und Unternehmen?
Türkisch-deutsche Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Unternehmen stehen vor allem bürokratischen und sprachlichen Hürden gegenüber. Eine der größten Herausforderungen sind die komplexen Prozesse bei der Anerkennung von Abschlüssen und beruflichen Qualifikationen. Darüber hinaus stellte das lange Zeit nur bestimmten Ländern vorbehaltene Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft ein zusätzliches Hindernis für türkische Unternehmer dar. Auch die Anpassung an gesetzliche Vorschriften kann aufgrund der Sprachbarriere und der technischen Terminologie im Deutschen schwierig sein. Viele bürokratische Verfahren erfordern fortgeschrittene Deutschkenntnisse, was den Zugang der Unternehmer zu diesen Prozessen einschränken kann. Besonders für Unternehmen, die in traditionellen Sektoren tätig sind, machen diese Hürden die Anpassung an Technologie und digitale Transformationsprozesse noch komplizierter.
Zusammengefasst erschweren bürokratische und sprachliche Hürden es türkisch-deutschen Unternehmerinnen und Unternehmern, ihr volles Potenzial zu entfalten, und behindern den Wachstumsprozess ihrer Unternehmen.
Welche politischen Maßnahmen könnten Ihrer Meinung nach das Unternehmertum in dieser Gemeinschaft fördern?
Politik, die das Unternehmertum fördert, kann die Erfolgsquote durch die Vereinfachung der Gründungsprozesse erhöhen. Zunächst einmal ermöglicht die Vereinfachung bürokratischer Verfahren, dass neue Unternehmen schneller und effizienter tätig werden können. Besonders Förderprogramme, die den Digitalisierungsprozess unterstützen, spielen eine Schlüsselrolle bei der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmern. Darüber hinaus erleichtern Sprachkurse und die Unterstützung bei der Gesetzgebung das Überwinden rechtlicher und administrativer Hürden und tragen dazu bei, dass Unternehmen die Vorschriften einhalten können.
Kooperationen zwischen dem privaten Sektor und der öffentlichen Hand unterstützen das Unternehmertum stärker, während Partnerschaften mit deutschen und türkischen Universitäten die Innovations- sowie Forschungs- und Entwicklungsprozesse beschleunigen. Solche politischen Maßnahmen können das unternehmerische Ökosystem dynamischer und nachhaltiger machen.
Was sind die größten Herausforderungen und Chancen für die türkische Diaspora in Bezug auf Integration?
Zu den größten Herausforderungen für die türkische Diaspora in Bezug auf Integration gehören Sprachbarrieren, kulturelle Anpassungsprozesse und gesellschaftliche Zugehörigkeit. Die Sprachbarriere stellt insbesondere auf dem Arbeitsmarkt ein erhebliches Hindernis dar, um gleiche Chancen zu gewährleisten, während die kulturelle Anpassung Schwierigkeiten für Migranten und insbesondere für die zweite Generation mit sich bringt, sowohl die türkische Kultur als auch die deutsche Gesellschaft zu akzeptieren. Darüber hinaus führen Ungleichheiten bei den Chancen und verschiedene Vorurteile dazu, dass türkischstämmige Personen im gesellschaftlichen Leben weniger sichtbar sind.
Es gibt jedoch auch bedeutende Chancen für die türkische Diaspora. Die zweite und dritte Generation junger türkischstämmiger Menschen bilden eine wichtige Gruppe, die zur Integration in Deutschland beiträgt. Diese jungen Menschen bieten kulturelle Vielfalt, indem sie sowohl ihre eigene Kultur leben als auch Teil der deutschen Gesellschaft sind, was als Bereicherung für Deutschland angesehen wird und die Gesellschaft inklusiver macht. Mehrsprachige Bildungsangebote ermöglichen es Kindern türkischstämmiger Personen, eine bessere Ausbildung zu erhalten und sowohl ihre Deutsch- als auch Türkischkenntnisse zu verbessern. Diese Chancen beschleunigen den Integrationsprozess und fördern die Einheit zwischen den Gesellschaften.
Wenn Sie eine Initiative vorschlagen könnten, um die Beziehungen zwischen türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürgern und der deutschen Gesellschaft zu stärken, welche wäre das und warum?
Eine meiner ersten Empfehlungen wäre, Veranstaltungen zu organisieren, die den Austausch durch kulturelle Austauschprogramme und gemeinsame Projekte fördern. Kultur- und Literaturfestivals, Kunstausstellungen, kulinarische Treffen und Sportveranstaltungen stärken den Dialog zwischen den Gesellschaften und fördern das gegenseitige Verständnis.
Im Bildungsbereich wäre die Verbreitung von multikulturellen Projekten und Schüleraustauschprogrammen in Schulen von großem Nutzen. Wenn Kinder bereits in jungen Jahren zusammenkommen, erleichtert dies das Kennenlernen verschiedener Kulturen und legt eine solide Grundlage für soziale Beziehungen. Solche Erfahrungen unterstützen den Abbau von Vorurteilen und die Anerkennung kultureller Vielfalt als Bereicherung.
Darüber hinaus könnte die verstärkte Darstellung erfolgreicher Integrationsbeispiele in den Medien eine konstruktive Wirkung auf die Gesellschaft haben, indem sie die Sichtbarkeit positiver Vorbilder erhöht. Besonders die Geschichten von erfolgreichen türkisch-deutschen Unternehmern und Fachleuten könnten die Bindungen zwischen den beiden Gesellschaften stärken.
Schließlich wäre es effektiv, wenn lokale Verwaltungen sich auf Mikroprojekte konzentrieren, die den sozialen Zusammenhalt fördern. Soziale Projekte und kulturelle Dialogplattformen auf Nachbarschaftsebene schaffen direkte Interaktionen, stärken das Vertrauen und bauen dauerhafte Brücken zwischen den Gemeinschaften.
Wie nehmen Sie den Liberalismus wahr? Und wie könnte der Liberalismus Menschen mit türkischem Hintergrund besser erreichen?
Die FDP tritt in Deutschland als eine Partei hervor, die individuelle Freiheitsrechte, die Wahrung und Stärkung marktwirtschaftlicher Prinzipien, wirtschaftlichen Sachverstand sowie rechtsstaatliche Grundsätze in den Vordergrund stellt. Besonders die Betonung persönlicher und wirtschaftlicher Freiheit und die Reduzierung staatlicher Eingriffe können für Unternehmerinnen und Unternehmer mit und ohne Migrationshintergrund attraktiv sein. Allerdings kann man sagen, dass die FDP die Ansprache türkischstämmiger Wähler begrenzt und Schwierigkeiten hat, breitere Zielgruppen anzusprechen.
Um türkischstämmige Unternehmer besser zu erreichen, könnte die FDP konkrete politische Vorschläge entwickeln, die sich mit den bürokratischen Hürden und rechtlichen Regelungen auseinandersetzen, denen diese Gruppe gegenübersteht. Eine klarere Haltung zur doppelten Staatsbürgerschaft, die eine natürliche Folge der zunehmenden globalen Multikulturalität ist, könnte die politische Beteiligung türkischstämmiger Jugendlicher fördern. Darüber hinaus könnte die Sichtbarkeit türkischstämmiger Kandidaten innerhalb der Partei erhöht werden, um direkte Kommunikation mit den Wählern zu ermöglichen und gesellschaftliche Bindungen zu stärken.
Unter den qualifizierten Arbeitskräften, die nach Deutschland kommen, nehmen Ingenieure, Ärzte und Akademiker eine wichtige Stellung ein. Die FDP könnte durch die Entwicklung von politischen Positionen, die darauf abzielen, Anerkennungsprozesse zu beschleunigen und berufliche Anpassung zu erleichtern, direkte Unterstützung für diese Gruppe bieten. Akademische Kooperationen zwischen türkischen und deutschen Universitäten könnten die akademische und berufsbezogene Bildungspolitik der FDP sowohl für in Deutschland lebende türkischstämmige Jugendliche als auch für Studenten aus der Türkei sichtbarer machen.
Wir werden unsere Beiträge auf Freiheit+90 regelmäßig mit neuen Geschichten und Interviews fortsetzen! Unser nächstes Interview werden wir sowohl über unsere Social-Media-Kanäle als auch über unsere Website ankündigen!