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Türkei Bulletin
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der türkischen Erdbeben

Die Provinz Hatay wurden von verheerenden Erdbeben heimgesucht.

Die Provinz Hatay wurden von verheerenden Erdbeben heimgesucht.

© picture alliance / AA | Ozge Elif Kizil

Die Erdbeben vom 6. Februar haben den Südosten der Türkei verwüstet. Die Gesamtzahl der Todesopfer dürfte weit über der offiziellen Zahl von 50.096 (Stand 26. März) liegen, da die Vermissten noch nicht erfasst sind.

Zu den Toten und Verletzten kommt noch ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden hinzu. Ohne das wahre Ausmaß der Verwüstung zu kennen, gingen erste Schätzungen davon aus, dass die wirtschaftlichen Kosten überschaubar sein würden: So erklärte der Exekutivdirektor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Mahmoud Mohieldin, am Rande des Arabischen Finanzforums am 12. Februar vor Reportern, dass die Auswirkungen wahrscheinlich nicht so ausgeprägt sein werden wie die wirtschaftlichen Kosten des Marmara-Erdbebens von 1999, die von verschiedenen Institutionen auf 12 bis 19 Mrd. Dollar geschätzt wurden. Die Weltbank schloss sich dieser Einschätzung an und bezifferte die materiellen Schäden auf 34,2 Mrd. Dollar. In einem Bericht der Investmentbank J.P. Morgan vom 16. Februar heißt es, dass sich die direkten Kosten für die Zerstörung von Gebäuden auf 25 Mrd. Dollar belaufen könnten.

Der Anteil der betroffenen Region an der türkischen Volkswirtschaft ist in der Tat begrenzt: Die elf vom Erdbeben betroffenen Provinzen trugen im Jahr 2021 lediglich 9,8 Prozent zum türkischen BIP bei. Und während die türkische Wachstumsrate im Jahr 2021 insgesamt elf Prozent betrugt, gab es in der Katastrophenregion lediglich ein Wachstum von 0,98 Prozentpunkten. In ähnlicher Weise entfielen 2022 8,6 Prozent der türkischen Exporte auf die Region, wobei mehr als die Hälfte davon aus dem regionalen Industriezentrum Gaziantep kam, das von den Erdbeben relativ wenig betroffen war – auf die am stärksten betroffenen Provinzen Hatay, Adana und Kahramanmaraş entfielen jeweils weniger als zwei Prozent.

Die ersten Studien lagen also nicht allzu weit daneben, als sie davon ausgingen, dass die Auswirkungen der Erdbeben auf das Wirtschaftswachstum begrenzt sein würden, wenn man den geringen Beitrag der Region zur türkischen Wirtschaft berücksichtigt. Allerdings gibt es zwei bemerkenswerte sektorale Ausnahmen: 17 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Türkei befinden sich in der Region, und die Preise für Obst und Gemüse, die aufgrund der unerwartet geringen Niederschläge bereits gestiegen waren, sind aufgrund der Beben in die Höhe geschossen. Außerdem stammen 35 Prozent der Textilausfuhren des Landes aus der Region.

Was den wirtschaftlichen Gesamtschaden angeht, ergibt sich inzwischen ein klareres Bild: Nach den ersten Wochen stellen sich die tatsächlichen Kosten als deutlich höher heraus. Laut dem Kahramanmaraş- und Hatay-Erdbebenbericht der Strategie- und Haushaltsdirektion des Präsidialamtes wurden 518.009 Wohnhäuser schwer beschädigt. Der Schaden an Wohngebäuden wird mit 56,9 Mrd. Dollar beziffert, die Zerstörung der öffentlichen Infrastruktur und die Beeinträchtigung des öffentlichen Dienstes mit 12,9 Mrd. Dollar, die Schäden im privaten Sektor mit 11,8 Mrd. Dollar. Unter Berücksichtigung der Verluste des Versicherungssektors, der Einkommensverluste der Gewerbetreibenden und der makroökonomischen Auswirkungen schätzen die Experten die Gesamtbelastung der türkischen Wirtschaft durch das Erdbeben auf 103,6 Mrd. Dollar, was neun Prozent des für 2023 prognostizierten BIPs entspricht.

Diese Zahlen liegen nicht allzu weit von zwei weıteren kürzlich veröffentlichten, gut recherchierten Studien entfernt: Der Akademiker Kamil Yılmaz von der Koç-Universität, der für den Istanbuler Think-Tank Betam schreibt, schätzt die Auswirkungen des Erdbebens auf den Gebäude- und Kapitalbestand auf 66 bis 86 Mrd. Dollar – unter Berücksichtigung der Produktionsverluste, der Auswirkungen auf den Tourismus und der Beseitigung von Trümmern und Schutt sogar auf 77 bis 105 Mrd. Dollar. Interessanterweise stellt er aber auch positive Auswirkungen auf das Wachstum fest: Es wird erwartet, dass die Investitionsausgaben für den Wiederaufbau das Wachstum im Jahr 2023 um 2,3 bis 2,6 Prozentpunkte erhöhen werden –die direkten negativen Auswirkungen auf das Wachstum bereits eingerechnet.

Der Think-Tank TEPAV aus Ankara verfolgt einen etwas anderen Ansatz. Dort kommt man zu dem Ergebnis, dass in den nächsten fünf Jahren ein Finanzierungsbedarf von fast 150 Mrd. Dollar besteht: 88 Mrd. für die Erneuerung der Infrastruktur und von Gebäuden; 35 Mrd. für Fahrzeuge, Lagerbestände, Anlagevermögen und Konsumgüter sowie 24 Mrd. Dollar für vorübergehende Unterbringung, Wohnen und Beschäftigung in den nächsten drei Jahren. Im Gegensatz zu Betam prognostiziert TEPAV ein negatives Wachstum von -1,2 Prozentpunkten.

TEPAV weist auch darauf hin, dass das Erdbeben nicht nur die Ungleichheit und Armut verschärfen wird, sondern auch die finanziellen Risiken der Türkei erhöht und Druck auf die Inflation ausübt. Schließlich wurde die Türkei von dem Erdbeben in einer prekären wirtschaftlichen Situation getroffen, in der sich die makrofinanziellen Risiken häufen und die Zentralbank ihre internationalen Reserven zur Verteidigung der Lira aufbraucht. Das Erdbeben hat diese Risiken noch weiter verschärft. Während die oben erwähnten Kosten eher langfristig von Bedeutung sind, werden diese Risiken in den Wochen vor den Wahlen am 14. Mai eine wichtige Rolle spielen.

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