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Auch in der Covid-19-Pandemie haben inhaftierte Studierende den weitesten Weg zur Bildung

p24 imprisoned students

Elif Akgül

Die anlässlich der Covid-19-Pandemie geführte Diskussion über die Zugänglichkeit des Online-Unterrichts sowie der Prüfungen vernachlässigt eine Gruppe: Studentinnen und Studenten in Gefängnissen.

Das Thema „Studieren im Gefängnis“ rückte stark in das Licht der Öffentlichkeit, als Cihan Kırmızıgül, Student der Universität Galatasaray, im Jahr 2015 für 25 Monate ins Gefängnis kam, weil er ein poşu trug, ein Tuch mit Fransen, wie es kurdische Männer um den Kopf oder den Hals wickeln.

Die Kernprobleme von inhaftierten Studentinnen und Studenten bestehen im schwierigen Zugang zu den  Studienmaterialien, der finanziellen Belastung , die der Transport zu den Präsenzprüfungen mit sich bringt und dem fehlenden Zugang zu Technologien, die ein Fernstudium überhaupt ermöglichen, wie etwa ein Internetanschluss. Am Ende sämtlicher bürokratischer Schritte für die Teilnahme an der Präsenzprüfung entstehen Kosten von 600 bis 700 Türkisch Lira. Zudem besteht ein Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus dem Jahr 2019, in dem die Türkei schuldig gesprochen wird, „das Recht der Studierenden auf Zugang zur Bildung“ verletzt zu haben.

Das Ministerium gibt die Zahl Schüler und Studenten in Gefängnissen nicht bekannt

Gesprochen wird von „tausenden“, aktuelle Zahlen zu den Studentinnen und Studenten in Gefängnissen gibt es jedoch nicht – jedenfalls werden diese nicht veröffentlicht. Im Rahmen des Rechts zur Information fragten wir das Justizministerium nach der Zahl der inhaftierten Studierenden, erhielten aber keine Antwort. Die gleiche Frage richteten wir über das Kommunikationszentrum der Präsidentschaft (CİMER) an das Hochschulgremium YÖK – die Antwort war: „Die Zahl der Studierenden in Haftanstalten wird nicht extra erhoben.“

Der stellvertretende Generaldirektor der Justizvollzugs- und -haftanstalten Namık Kemal Varol informierte im November 2019 die Unterkommission „Rechte der Straf- und Untersuchungshäftlinge“ der Menschenrechtskommission, dass 2.792 Straf- und Untersuchungshäftlinge eine formale und 51.458 eine non-formale Ausbildung absolvieren, während 329 einem Fernstudium nachgehen.

Die „aktuellste“ Information des Justizministeriums zu der Zahl der Inhaftierten, die eine Aus- und Weiterbildung absolvieren, ist aus dem Jahr 2016. Auf die Anfrage der CHP-Abgeordneten Gamze Ilgezdi im Jahr 2017 bezifferte der Justizminister Abdülhamit Gül die Zahl der Schüler und Studenten in Gefängnissen per 2016 mit 69.301.

Für die Situation dieser Gruppe interessierte sich auch Filiz Kerestecioğlu, Abgeordnete der HDP aus Izmir. In ihrer Anfrage vom 21. September 2020 wollte sie wissen: die Zahl der Inhaftierten, die sich im Sommersemester 2019/2020 an einer Hochschule eingeschrieben hatten, die Zugangsmöglichkeiten der inhaftierten Schüler und  Studenten zu den Online-Prüfungen sowie den Zugang von Kindern zwischen null und sechs Jahren zu den Vorschulen, die mit ihren inhaftierten Eltern in Gefängnissen leben. Die Antworten des Justizministeriums auf diese Fragen stehen bis heute aus.

„Wie kann es sein, dass der Staat über diese Statistik nicht verfügt?“

Berna Akkızal vom Sivil Alan Çalışmaları Derneği (ein Verein zur Erforschung des öffentlichen Raums), die an einer Studie zur „Meinungsfreiheit im Campus“ arbeitet, erzählt, sie hätten das Justizministerium mehrmals nach der Zahl der Schüler und Studenten in Gefängnissen gefragt, aber nie eine Antwort bekommen: „Das Ministerium veröffentlicht keine Zahlen und das macht uns Angst. Ist diese Zahl sehr hoch? Wie kann es sein, dass der Staat über diese Statistik nicht verfügt? Die Zahl der inhaftierten Schüler und Studierenden muss man doch auch so wissen, ohne es extra erheben zu müssen.“

Akkızal meint, dass der Druck auf Schüler und Studierende „im Jahr 2015, nach der Beendigung des sogenannten Lösungsprozesses“[1] besonders gestiegen ist, „wer studiert, möchte seine Meinung kundtun, nicht ausschließlich zur Politik. Aber auch wenn ein Student, eine Studentin die steigenden Mensapreise protestiert, kann er oder sie in Untersuchungshaft genommen werden. Diese Verhaftungen werden dann mit angeblicher Terrorpropaganda begründet.“

Akkızal unterstreicht auch, dass Ermittlungen, Fahndungen und Verhaftungen dazu führen, dass Studierende ihr Recht auf Stipendien oder Studentenheime verlieren. Zahlreiche Universitäten entziehen Studierenden in Disziplinarverfahren das Recht auf das Studium, wenn gegen sie ermittelt wird.

„Ich hatte nicht das Gefühl, wirklich zu studieren“

İdil Aydınoğlu, die im jahr 2012 während ihres Masterstudiums verhaftet wurde, beschreibt ihre Erfahrung als inhaftierte Studentin mit folgenden Worten: „Du hast nicht das Gefühl, wirklich zu studieren. Studieren bedeutet, im Unterricht präsent zu sein, die Chance zu haben, mit dem Lehrenden in direkten Kontakt zu treten. Studieren bedeutet nicht nur, an Prüfungen teilzunehmen, Fachliteratur zu lesen und das eigene Wissen zu prüfen. Ich las die Quellen, die mir zugestellt worden waren und trat zu den Prüfungen an. Ich war aber mit dieser Situation sehr unzufrieden und habe daher das Studium unterbrochen. Die Fächer mit Anwesenheitspflicht kannst du sowieso nicht absolvieren, das ist ein Problem für sich.“

Aydınoğlu unterstreicht, dass sie die Prüfungen absolvieren konnte, weil ihre damalige Universität eine „liberalere und sensiblere Uni“ war und ergänzt: „Nicht auf jeder Universität haben Studierende dieses Glück.“

Aydınoğlu wurde Anfang 2012 im Rahmen des strafgerichtlichen KCK-Hauptverfahrens von Istanbul in Untersuchungshaft genommen und anschließend verhaftet.[2] Die Bilder, die die heutige Juristin in Begleitung eines Gendarmen in Prüfungssituation zeigen, fanden ihren Weg in die Medien. Ähnlich wie später beim Verfahren gegen Cihan Kırmızıgül, waren auch bei Aydınoğlus Verhaftung Studierende im Gefängnis ein öffentliches Thema. Laut den damaligen offiziellen Zahlen war Aydınoğlu eine von 600 inhaftierten Studierenden.

 

„Ich habe mit aller Kraft versucht, im Gefängnis Student zu bleiben“

Auch Ufuk Aydın, der als Student zu 12 Jahren und 8 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde und 8 Jahre und 4 Monate davon in Haft verbrachte, sagt: „Leider ist es nicht wirklich möglich, im Gefängnis ein richtiger Student zu sein. Man könnte Ihnen auch ohne Verhaftung den Prozess machen, aber Sie werden verhaftet und der Universität entrissen.“ Obwohl Aydın die Zwischenprüfungen erfolgreich absolviert hatte, wurde er zu den Abschlussprüfungen wegen „Abwesenheit“ nicht zugelassen, „das war der Beschluss des Universitätssenats“, sagt er.

Er sei mehrere Male zur Universitätsaufnahmeprüfung angetreten, erzählt Aydın, um einen Studienplatz ohne Anwesenheitspflicht zu bekommen. Unbedingt wollte er mit dem Studium fortfahren: „Ich habe mich sehr bemüht, um auch im Gefängnis Student zu bleiben, ich habe alles dafür gegeben“, sagt er, „das Studentendasein hatte für mich auch Aspekte, die das Leben im Gefängnis erleichterten. Das war aber ausschließlich meine Leistung, denn das Studieren in Haft ist keine vom Staat ermöglichte Kategorie. Etwas produzieren zu können, Wissensdurst, Forschungswille, das hat alles mit Studieren zu tun, und das aufrechtzuerhalten hat mich gegen das schwierige Leben in Haft immunisiert.“  

Aydın fährt fort: „Als mit der Zeit das Eingesperrt-Sein zur Qual wurde, wurde es immer schwieriger, unter diesem Stress zu lernen“, und ergänzt: „Ich träumte immer wieder, dass ich zur Vorlesung oder zur Prüfung zu spät kam, dann wachte ich auf und realisierte, dass ich im Gefängnis war. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte, mich doch nicht verspätet zu haben, oder traurig sein sollte, im Gefängnis aufgewacht zu sein.“

„Wir haben keine Daten dazu, wie viel Prozent der Studierenden das Studium abbrechen“

Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği (CISST) ist eine zivilgesellschaftliche Organisation zur Beobachtung des Strafvollzugssystems und eine der aktivsten NGOs, die sich um Studierende in Gefängnissen kümmern. Serdar Usturumcalı von CIIST erzählt, dass sich inhaftierte Studierende an den Verein wenden, um Mitschriften und Bücher für Prüfungsvorbereitungen zu bekommen, um Informationen zu Stipendien zur Deckung der Studiengebühren zu erhalten sowie um die Transportmöglichkeiten zu den Universitätsstädten zu checken.

„Aus den Briefen der Studierenden erfahren wir von den Problemen, mit denen sie konfrontiert sind. Sie bemühen sich, das Studium unter viel schwierigeren – ungleichen –Voraussetzungen als „freie“ Studierende zu absolvieren. Wir wissen beispielsweise, dass sie es sich, insbesondere in letzten Jahren, schwertun, in den vollen Zellen zu lernen“, erzählt Usturumcalı. In den Strafvollzugsanstalten gibt es neben Studentinnen und Studenten auch solche, die eine formale Ausbildung absolvieren. Usturumcalı betont jedoch, dass man nicht weiß bzw. nicht erfahren kann, wie viel Prozent der veröffentlichten Zahlen diese ausmachen.

„Aus den Briefen, die uns erreichen, wissen wir, dass manche Schüler und Schülerinnen, die während ihrer formalen Ausbildung verhaftet und in geschlossene Strafvollzugsanstalten gesteckt werden, aufgrund der Abwesenheit sitzenbleiben und die Schule verlassen oder im besten Fall unterbrechen müssen. Da wir aber auch dazu keine Zahlen haben, haben wir keine Übersicht, wie viele mit der Schule aufhören bzw. unterbrechen.“

„Im Gefängnis verliert man das Interesse an Bildung“

Einer der Schüler, der sich im Gefängnis auf die Universitätsaufnahmeprüfung vorbereitete, ist Ulaş Budak. Budak, der im November 2019 verhaftet wurde. Er verbrachte die Zeit bis zu seiner Entlassung im März 2020 in einem Gefängnis des Typs „T“ in Tarsus. Seine Gefangenschaft fiel in die Zeit, in der er sich auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorbereitete.

„Wir waren zu 24 Personen in einem Saal“, erzählt Budak, „ich hatte keine Chance, in Ruhe zu lernen oder Probeprüfungen zu machen. Sobald ich mit den Tests anfing, kam der Gefängniswächter, um mich zurück in die Zelle zu begleiten“ und ergänzt:

„Ich musste sehr lange auf Bücher warten, weil diese vorher kontrolliert werden mussten. Außer Bücher hatte ich keine Materialien, um zu lernen. Zudem verringert sich im Gefängnis die Motivation, um sich auf die Uni vorzubereiten. Im Gefängnis verliert man das Interesse an Bildung. In der Gefangenschaft sind Sie mit der Zukunftslosigkeit konfrontiert.“

Budak erzählt, dass ihn trotzdem der Ehrgeiz gepackt hat. Er habe sich für sein Recht auf Bildung bemüht, statt das Interesse an einem Hochschulstudium zu verlieren. Schlussendlich bekam er einen Studienplatz an der Abteilung für Kartographie an der Technischen Universität Yıldız in Istanbul.

Die größte Schwierigkeit ist die finanzielle Last

An der Spitze der Probleme der inhaftierten Studierenden kommen finanzielle Schwierigkeiten. Usturumcalı sagt, dass viele Studentinnen und Studenten im Gefängnis das Studium abbrechen oder gar nicht beginnen, weil sie die Studiengebühren nicht bezahlen können, und erinnert, dass die Studiengebühren früher entsprechend einem Protokoll zwischen dem Justizministerium und dem Ministerium für Familie und Soziales vom letzteren übernommen wurden.

„Seit 2017 wurde dieses Protokoll nicht erneuert. Die regionalen Stiftungen ‚für soziale Unterstützung und Solidarität‘ übernahmen die Stipendienvergabe. Nun entscheidet das Kuratorium der jeweiligen Stiftung, welcher Studentin oder welchem Studenten die Studiengebühr bezahlt werden soll. Das macht alles schwieriger.“

Zu den finanziellen Problemen kommen noch die Schwierigkeiten, Studienmaterialien zu erhalten und an den Prüfungen teilzunehmen. Usturumcalı erzählt von Studierenden, die aus finanziellen Gründen keinen Zugang zu Mitschriften und Lernmaterialien haben.

„Ich bemühe mich, damit Schüler und Studenten die Bildung nicht loslassen“

Die „Reise“ der Studienmaterialien zu den inhaftierten Schülern und Studenten ist ein Abenteuer für sich. Die Juristin und Akademikerin Ipek Özel übernimmt seit langen Jahren die Vormundschaft für Schüler und Schülerinnen in Strafvollzugsanstalten und kümmert sich um sie, damit sie „die Bildung nicht loslassen“.

In ihrer Eigenschaft als „Vormund“ übernimmt Özel die Einschreibung in die Bildungseinrichtungen, da die betroffenen Jugendlichen dies nicht persönlich vornehmen können und auch keine Unterschriftsberechtigung haben. Die Auswahl der Unterrichtsfächer, die Besorgung der Lernmaterialien und Bücher, die Vorbereitung und Beschaffung von früheren Prüfungsfragen, die erforderlichen Anträge für die Zulassung zu Prüfungen – das alles macht Özel für ihre Schützlinge.

„Ich setze alles in Bewegung, damit sie die Bildung nicht loslassen“, sagt Özel und macht auch auf die finanziellen Probleme aufmerksam:

„Im Gefängnis verdient man kein Geld, im Gegenteil: Gefangenschaft kostet Geld. Der Staat schickt nach der Entlassung eine Rechnung: für die Miete, den Strom und das Essen, das man in der Gefangenschaft konsumiert hat. Inhaftiert zu sein ist ein großer finanzieller Aufwand. Nehmen wir den Fall des Lyrikers İlhan Çomak. Ich kann nicht sagen, ich bringe ihm ein Haufen Papier mit. Ich muss es im Gefängniskiosk kaufen, wo ich viel mehr zahlen muss als im Papiergeschäft.“

Ein weiterer großer finanzieller Aufwand betrifft den Transport zur Prüfung. Als ersten Schritt muss sich die betreffende Universität an das Gefangenenhaus wenden. Gleichzeitig stellt auch der inhaftierte Student oder die inhaftierte Studentin einen Antrag. Die Gefängnisleitung leitet die Anträge an das Justizministerium weiter. „Das Ministerium gestattet in der Regel die Teilnahme an der Prüfung“, sagt Özel.

„Man zahlt für den Gefangenentransportwagen und für die Gendarmen“

Die Fahrt zur Prüfung ist eine zusätzliche finanzielle Last für Studierende. Nachdem das Justizministerium grünes Licht gegeben hat, geht ein Schreiben an die Gendarmerie-Kommandantur, damit sich die Gendarmen, die den Studenten zur Prüfung begleiten müssen, bereithalten.  Der Student muss den Gefangenentransportwagen, die Gendarmen und auch eine Nacht Übernachtung zahlen, wenn die Universität in einer anderen Stadt ist als das Gefängnis.

„Ein Student wird von acht Gendarmen begleitet. Wenn er für sie zahlt, kann er zur Prüfung fahren. Es ist schon vorgekommen, dass wir für den ganzen Transport 650 bis 700 Türkisch Lira zahlen mussten. Der Student kann aber nicht sagen, ich habe es bezahlt, fahre mich wie ein Taxi hin und zurück. Der Transportwagen nimmt auch andere Personen mit,  die zum Gefängnis gefahren werden müssen. Eine vierstündige Strecke kann somit 14 Stunden dauern.“ 

Auch der Prüfungsprozess ist nicht einfach. Özel fasst zusammen: „Der Student betritt das Universitätsgebäude in Handschellen. Der Gendarm geht in den Prüfungssaal vor und kontrolliert die Türen und die Fenster. Dann stellen sich die Gendarmen an die Türen und an die Fenster. Der Student wird in Handschellen in den Saal geführt. Jeder, der hineinkommt, muss angekündigt werden. Ebenso der Prüfungsaufseher. Der Student darf vor Ort nichts zum Essen oder zum Trinken kaufen, er kann mitgebrachtes Wasser oder mitgebrachte Kekse konsumieren. Er muss nämlich sowohl beim Verlassen des Gefängnisses als auch   bei seiner Rückkehr einen Gesundheitscheck machen. Und nur in Begleitung von Gendarmen darf er auf die Toilette gehen. Das kann für Studentinnen zu einem Problem werden, weil in diesem Fall eine Gendarmin anwesend sein muss. Das zu organisieren ist nicht immer einfach.“

Es ist eine besondere Erfahrung für Jugendliche, die Schule oder die Uni, in der sie mit ihren Mitstudierenden Jahre verbracht haben, in Handschellen zu betreten. Aydınoğlu erzählt, dass der Prüfungstag, von dem ein Foto Eingang in die Medien gefunden hatte, der erste Tag nach ihrer Verhaftung war, an dem sie das Gefängnis verließ: 

„Der Prüfungstag war für mich sehr interessant, weil das ein sehr emotionaler Moment war, das erste Mal, dass ich das Gefängnis verlasse. Du verlässt das Gefängnis in Begleitung von Kommandanten. Du betrittst die Uni, die du vorher hunderte Male betreten hast, mit Menschen, deren Status du nicht kennst. Was mich am meisten beschäftigte, war die Frage, ob ich im Zugang auf das Recht auf Bildung meinen Mitstudierenden gleichgestellt war. Ich denke, das war nicht der Fall.“

Abgesehen von den bürokratischen Details, Schwierigkeiten und der finanziellen Last liegt das eigentliche Problem beim Hochschulgesetz YÖK, unterstreicht Ipek Özel. „YÖK erkennt zwar das Recht auf Bildung und Teilnahme an Prüfungen an“, sagt sie, ergänzt aber auch, dass viele Gefangenenhäuser und auch Universitäten – insbesondere staatliche – wegen „Sicherheitsbedenken“ inhaftierten Studenten nicht gestatten, Prüfungen zu absolvieren:

“Viele – staatliche – Universitäten handeln je nach der politischen Lage. Wenn sich politische Entscheidungsträger zu einem bestimmten Thema äußern, heben sie eigenwillig das Recht auf Prüfungen auf. Momentan herrscht etwa Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, es kann durchaus sein, dass Studenten der Geschichte nicht zu Prüfungen zugelassen werden. So unglaublich absurd das ist, es passiert oft, dass man die Studenten nicht zur Prüfung fährt, aus Sorge, sie könnten Parolen skandieren.

Das “Recht auf Bildung” ist per Verfassung und Gesetzgebung geschützt

Das Recht auf Bildung ist ein per Verfassung und durch internationale Abkommen geschütztes Recht. 

Serdar Usturumcalı von CISST macht auf den Artikel 42 der Verfassung aufmerksam: „Niemandem kann das Recht auf formale und non-formale Bildung aberkannt werden.“ 

In diesem Zusammenhang ist laut dem Gesetz zur Vollstreckung von Straf- und Sicherheitsmaßnahmen das Ziel der Bildung die Entwicklung der Persönlichkeit, die Festigung der Bildung, die Ermöglichung des Erwerbs neuer Fertigkeiten, die Tendenz für die Begehung von Straftaten abzuschwächen und Vorbereitung auf ein Leben in Freiheit. Die Bildungsprogramme, die zur Erreichung dieser Ziele vorgesehen sind, werden als Grundausbildung, mittlere und höhere Ausbildung, Berufsausbildung, Religionsausbildung, körperliche Ertüchtigung, Bibliothek und psychosoziale Dienste klassifiziert.

Laut Artikel 2 der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mit dem Titel „Recht auf Bildung“, die für die Türkei bindend ist, darf „niemandem (…) das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.“

İdil Aydınoğlu weist jedoch an den Artikel 67 des Gesetzes Nr. 5275 über die Strafvollstreckung und Sicherheitsmaßnahmen hin, der zwar den Bildungsauftrag vorsieht, zugleich aber einräumt, dass dieses Recht insbesondere bei denjenigen, die nach dem Gesetz zur Terrorismusbekämpfung verhaftet wurden, nicht zuzuerkennen sei. In diesem Fall „darf der Gefangene in seiner Zelle keinen PC nutzen. Im Falle einer Zustimmung des Justizministeriums kann in der Strafvollzugsanstalt der Zugang zu einem PC zwecks Bildung und Kultur gestattet werden. Dieses Recht kann jedoch bei Personen, die wegen ihrer Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation verurteilt wurden, beschränkt werden.“ Dieser Artikel eröffnet die Möglichkeit, eben diesen Personen, die wegen der Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation verurteilt worden waren, den Zugang zu Computern oder audiovisuellem Material zu beschränken.

Der Beschluss nach dreizehn Jahren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kommt zum Schluss: Verletzung des Rechts auf Bildung

Die Gefangenen haben eigentlich das Recht auf PC-Nutzung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Türkei aufgrund einer Beschwerde verurteilt. Doch die lange Dauer des Beschwerde- und Urteilsprozesses macht dieses Recht „unbrauchbar.“

Die Antragsteller der betreffenden Akte waren Mehmet Reşit Arslan und Orhan Bingöl. Arslan wurde im Jahr 1992 und Bingöl im Jahr 1995 zu lebenslanger Haft verurteilt. Arslan studierte vor seiner Verurteilung an der medizinischen Fakultät der Universität Istanbul, Bingöl war Student an einer anderen Universität.

Arslan und Bingöl beantragten am 13. März bzw. am 1. August 2006 bei der jeweiligen Verwaltung des Gefängnisses des Typs „F“ in Izmir und des Gefängnisses des Typs „F“ in Kocaeli die Nutzung eines Computers. Beide Gefängnisverwaltungen haben den Anträgen aufgrund des oben zitierten Absatzes nicht stattgegeben. Die Beschwerde gegen diesen Beschluss, die Arslan und Bingöl beim EGMR erhoben haben, wurde erst nach dreizehn Jahren, im Jahr 2019 entschieden. Der EGMR kam zum Schluss, dass in diesem Fall eine Verletzung des Artikel 2 1. Prot. der Europäischen Menschenrechtskonvention – das „Recht auf Bildung“ –   stattgefunden hatte.

Aydınoğlu meint: „Es mussten dreizehn Jahre vergehen, bis die Rechtswidrigkeit dieses Beschlusses festgestellt werden konnte. Die Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtsmöglichkeiten sowie die endgültige Urteilsfindung des EGMR nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Ein Grund, warum die Gefängnisverwaltungen durch aktive Entscheidungsfindung das Recht auf Bildung schützen müssen.“

Aydınoğlu betont, dass Gefängnisse die Häftlinge je nach politischer Atmosphäre behandeln: „Die gesellschaftliche Stimmung darf keine Auswirkungen auf den Anspruch der Menschen auf ihre Rechte haben. Und wenn doch, muss dies vernünftig begründet werden können“, und fährt fort:

„Rechte von Studenten, die wegen Terror oder Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation vor Gericht gestellt oder verurteilt werden, werden leichter beschnitten. Aber was bedeutet „Sicherheitsbedenken“ in diesem Zusammenhang? Kann es gerechtfertigt werden, dass ein Student der Politikwissenschaft, der aus politischen Gründen in Haft sitzt, wegen „Sicherheitsbedenken“ Karl Marx nicht lesen darf? Die Lehre von Marx ist ein Teil seines Studiums. Das sind Autoren, deren Bücher offiziell zugänglich sind. Warum sollten Gefangene keinen Zugang zu den Quellen haben, die uns zugänglich sind? Die Frage sollte eher lauten: Warum sollen Rechte beschnitten werden?

Wir müssen die Inhaftierung als Ausnahmesituation begreifen und mitdenken, welche Auswirkungen die Haft auf das Leben der Menschen haben kann. Allein indem Sie einem inhaftierten Studenten ermöglichen, zu Prüfungen anzutreten, ermöglichen Sie ihm nicht die Fortführung des Studiums. Der inhaftierte Student muss zu allen Rechten Zugang haben, über die seine Mitstudierende verfügen. Wer seiner Freiheit beraubt wird, dem müssen die Rechte besonders geschützt werden. Das bedeutet im Zusammenhang mit dem Recht auf Bildung die Ermöglichung des Zugangs zu allen Ressourcen, des Zugang zu Bildungsanstalten, der gleichberechtigten Teilnahme am Studium, ohne als „Fremdkörper“ wahrgenommen zu werden.

Dieser Artikel von Elif Akgül, erschienen auf T24, wurde durch das von der unabhängigen Plattform für Journalismus (P24) mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung vergebene Stipendium für Recherchejournalismus für das Recht auf Information ermöglicht.

 

[1] auch Friedensprozess genannt, ein Prozess, der durch die AKP zur Beendigung des Konflikts zwischen der PKK und der Türkei initiiert wurde (Anm. Übersetzerin).

[2] KCK (Koma Civakên Kurdistan) ist die Union der Gemeinschaften Kurdistans, gilt als neue Organisationsform der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). In den 213 Verfahren gegen KCK waren 2.146 Personen angeklagt.