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Big Tech
Der aktuelle Tech Crackdown bedeutet die Abkehr von Chinas Wirtschaftsreformen

didi global
© mundissima@ShutterStock

Der Crackdown hat mit Chinas Big-Tech-Sektor angefangen - und setzt sich in allen anderen Sektoren fort. Das harte Durchgreifen der cinesischen Regierung macht klar: Nicht nur der Tech Sektor unter Druck, sondern die gesamte Privatwirtschaft. Das ist eine deutliche Abkehr von den Wirtschaftsreformen von Deng Xiaoping, die in den 1980er Jahren dazu beigetragen haben, China zu dem wirtschaftlichen Powerhouse zu machen, das es heute ist. Der aus dieser Abkehr resultierende Schaden für die chinesische Wirtschaft, die Innovationskraft des Landes und seine Privatunternehmen könnte das Land schlussenldich teuer zu stehen kommenanalysiert Charles Mok für freiheit.org.

Vor etwa zwei Monaten fing es an: Am 2. Juli wurden Sanktionen und Ermittlungen gegen Didi Chuxing eingeleitet, zwei Tage nach dem Börsengang des Mutterunternehmens Didi Global in den USA. Seit dann wurde die Kampagne gegen chinesische Tech Unternehmen immer heftiger, und hat sich auf immer mehr Sektoren ausgedehnt. Ein Ende ist aktuell nicht in Sicht.

Was von den Medien und der Öffentlichkeit zunächst als eine Kampagne gegen Big Tech wahrgenommen wurde, hat sich als weit mehr als das herausgestellt. Sicherlich waren viele führende Tech-Unternehmen involviert: Das "ersten Opfer” war Ant Financial mit der erzwungenen Absage seines Börsengangs in Hongkong im November 2020. Didi Chuxing und andere Giganten wie Tencent folgten, und dann dehnte die Kampagne sich auf weitere Sektoren aus.

Das harte Durchgreifen geht weiter - kaum ein Sektor bleibt verschont

Zur Verdeutlichung hier ein paar Beispiele

- Soziale Medien: Die Staatsanwaltschaft von Haidian, einem Verwaltungsbezirk in der Stadt Peking, reichte eine Klage von öffentlichem Interesse gegen Tencent ein, weil der "Jugendmodus" der Social-Media-Plattform WeChat angeblich nicht den Gesetzen zum Schutz von Minderjährigen entsprach.

- Online-Spiele: Die staatliche Zeitung Economic Information Daily, die Tencent und sein beliebtes Online-Spiel Honor of Kings anprangerte, veröffentlichte einen Artikel, in dem sie elektronische Spiele als "elektronische Drogen" und "geistiges Opium" kritisierte, - nur um diesen Artikel kurz darauf von ihrer Website wieder zu entfernen.

- Online-Musik: Der für 2021 geplante Börsengang der Tencent Music Entertainment Group in Höhe von 5 Mrd. US-Dollar wird gestoppt, obwohl der Plan eine Börseneinführung in Hongkong und nicht in den USA vorsah. Dies geschah, nachdem der wichtigste chinesische Konkurrent, Cloud Village von Netease, ebenfalls beschlossen hatte, seinen Börsengang in Hongkong für 1 Mrd. US-Dollar zu verschieben.

- Online-Streaming: Die Nationale Rundfunk- und Fernsehbehörde, die Medienaufsichtsbehörde des Landes, leitete eine einmonatige Überprüfung von Online-Varietésendungen ein, um gegen deren "zügellose Kommerzialisierung", Übertreibungen und extremes Verhalten von Fans, die Idole verehren, vorzugehen. Dazu nahmen sie die Online-Streaming-Plattformen ins Visier, die Tencent und iQIYI gehören. Unabhängig davon, aber dem selben Muster folgend, entfernte die chinesische Cyberspace Administration 150.000 "schädliche Online-Inhalte" und bestrafte mehr als 4.000 mit Fanclubs verbundene Online-Konten. Das hatte zur Folge, dass einige Social-Media-Dienste wie die "Star Power Ranking List" von Weibo und viele Fanclubs selbst abgeschaltet wurden. Darüber hinaus leitete das Handelsministerium eine Konsultation über weitere Vorschriften für die Online-Streaming-E-Commerce-Plattformen ein, um Betrug oder ungenaue Produktangaben zu verhindern und so die Verbraucher besser zu schützen.

- Karaoke: Das Ministerium für Kultur und Tourismus hat eine Richtlinie zur Einrichtung eines nationalen Karaoke-Inhaltsprüfungsmechanismus erlassen, um bestimmte musikalische Inhalte zu zensieren, die gegen die nationale Einheit, die ethnische Harmonie, die nationale Religionspolitik gerichtet sein könnten, oder die andere illegale Aktivitäten betreffen. Dieses neue System wird am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft treten.

- Ride-Hailing: Die Probleme von Didi Chuxing in China sind noch lange nicht vorbei, neben der laufenden Untersuchung seines Börsengangs in den USA. Das Unternehmen sieht sich mit zahlreichen Untersuchungen auf allen Regierungsebenen konfrontiert, die von der Überprüfung der Fahrer über die Fahrzeugsicherheit bis hin zu lokalen Lizenzen reichen. Die jüngste Anordnung, die alle Ride-Hailing-Plattformen betrifft, ist eine Überprüfung der Preisgestaltung, der Festlegung von Provisionen und der Beschäftigungspraktiken der Branche, um das Wohlergehen der Verbraucher und der Fahrer besser zu schützen, und zwar im Rahmen einer ressortübergreifenden Anstrengung unter der Leitung des Verkehrsministeriums.

- Bildung: Der Staatsrat und die Kommunistische Partei Chinas gaben am 24. Juli eine Erklärung ab, in der sie die Umwandlung von Bildungsunternehmen in gemeinnützige Organisationen verlangten und ihnen untersagten, Kapital zu beschaffen oder an die Börse zu gehen. Damit wurde ein dynamischer Wirtschaftssektor zerstört, zu dem große Unternehmen wie die TAL Education Group und die New Oriental Education & Technology Group gehörten, die zusammen eine Marktkapitalisierung von über 126 Milliarden US-Dollar an in- und ausländischen Börsen aufwiesen. Wall Street English, ein auf Englischunterricht spezialisiertes italienisches Unternehmen, gab Berichten zufolge den Konkurs seiner chinesischen Niederlassung bekannt und wurde damit zum ersten Opfer des harten Durchgreifens gegen den Bildungssektor. Außerdem kündigte die Stadt Shanghai an, dass sie von der dritten bis zur fünften Klasse in den örtlichen Grundschulen keine Abschlussprüfungen in Englisch mehr verlangen würde, so dass nur noch Chinesisch und Mathematik als Pflichtfächer übrig blieben.

- Lebensmittellieferungen: Die Behörde für Marktregulierung (SAMR) die Kartellaufsichtsbehörde des Landes, ist angeblich bereit, Meituan, einem Online-Marktplatz für Restaurants und dem größten Anbieter von Essenslieferungen, wegen Missbrauchs seiner marktbeherrschenden Stellung eine Geldstrafe in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar aufzuerlegen.

- Immobilien: Die SAMR leitete eine Überprüfung eines Übernahmeangebots der US-amerikanischen Private-Equity-Gesellschaft Blackstone Group für SOHO China, Chinas größtem Entwickler von Büroimmobilien im Wert von über 3 Milliarden US-Dollar, ein. Obwohl diese Überprüfung ein notwendiger rechtlicher Schritt im Übernahmeprozess ist, beobachtet der Markt zum jetzigen Zeitpunkt sehr aufmerksam, wie sich die strenge Durchsetzung des Kartellrechts durch die SAMR auf ihre Entscheidung in diesem Fall auswirkt.

- Versicherungen: Die chinesische Aufsichtsbehörde für das Bank- und Versicherungswesen (CBIRC) wies Versicherungsunternehmen an, ihre "unangemessenen Marketing- und Preisgestaltungspraktiken" sowie den Schutz der Privatsphäre ihrer Kunden zu überprüfen, andernfalls drohen ihnen "ernsthafte Strafen".

Diese Beispiele zeigen, dass die aktuelle Situation viel mehr ist als eine "Tech-Razzia”. Die ins Visier genommenen Sektoren haben einige Gemeinsamkeiten: Sie können erstens umfangreiche Kundendaten sammeln, zweitens haben sie einen ideologischen Einfluss auf die Öffentlichkeit, insbesondere auf die jüngere Generation, und drittens werden sie häufig von einigen wenigen einflussreichen Marktteilnehmern dominiert.

China
© Ivan Marc @ Shutter Stock

Kein Teil der Regierung will außen vor bleiben

Die Regulierungsmaßnahmen werden in naher Zukunft sicherlich fortgesetzt und sogar noch verschärft und ausgeweitet werden. Der Staatsrat und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas haben gerade gemeinsam ein Dokument veröffentlicht, in dem die Regierung auf allen Ebenen dazu aufgefordert wird, in ihrem kommenden Fünfjahresplan für 2021 bis 2025 "die Durchsetzung der Anti-Monopol-Gesetze zu verbessern und zu verstärken". Am 17. August veröffentlichte die SAMR außerdem eine Reihe von Verordnungsentwürfen zur Konsultation, die die Vorschriften gegen unlauteren Wettbewerb, illegale Handelspraktiken und die Einschränkung des Missbrauchs von Kundendaten weiter verschärfen sollen.

Zusätzlich zum Datensicherheitsgesetz (DSL), das im September in Kraft treten wird, soll in China 2021 ein neues Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten (PIPL) in Kraft treten. Dieses Gesetz befindet sich derzeit in der dritten Überarbeitungsphase bei der Kommission für Gesetzgebungsangelegenheiten des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses. Es werden Bestimmungen aufgenommen, um Praktiken wie mobile Apps, die übermäßig viele personenbezogene Daten sammeln, algorithmische Diskriminierung, die unterschiedliche und unfaire Preise beinhaltet, usw. zu unterbinden.

Neben den sektorübergreifenden Aufsichtsbehörden für Wettbewerb, Wertpapiere, Online-Dienste, Daten und den Schutz der Privatsphäre sind auch viele andere Regierungsbehörden aktiv geworden. Neben den bereits erwähnten Behörden wie der Medienaufsichtsbehörde und dem Ministerium für Kultur, Verkehr, Handel usw. hat auch das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie (MIIT) eine sechsmonatige Untersuchung angekündigt, um Verstöße gegen "unzulässige Kartell- und Verbraucherschutzpraktiken" zu sammeln. Im Rahmen dieser Bemühungen hat das MIIT gerade eine Richtlinie bekannt gegeben, in der 43 mobile Apps, darunter die WeChat- und Video-App von Tencent, die Streaming-App von iQIYI, die Reisebuchungs-App von Ctrip usw., aufgefordert werden, ihre illegale Nutzung des Telefonbuchs und der Standortdaten der Nutzer sowie die Verwendung von Pop-up-Fenstern, die die Nutzer belästigten, zu korrigieren. Ein solches Mikromanagement von Apps und Diensten aus einem breiten Spektrum von Sektoren, das auf relativ weit gefassten, aber vage definierten Grundsätzen beruht und bei dem den Behörden eine strenge Durchsetzungsbefugnis übertragen wird, ist in China zunehmend die Norm.

Eine solche umfassende Kampagne wird schwer zu koordinieren sein. Sich überschneidende Untersuchungen und Durchsetzungsmaßnahmen mit unklarer Abgrenzung der Zuständigkeiten werden zu unbeabsichtigten und unerwünschten Folgen führen und die allgemeine Marktverwirrung noch verstärken. Zu den weiteren potenziellen Fallstricken gehören auch höhere Kosten für die Einhaltung der Vorschriften durch die Unternehmen, wodurch ihre Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft untergraben wird, was möglicherweise unumkehrbare Folgen hat.

Ideologische Kontrolle ist das A und O

Kommen wir noch einmal auf die grundlegendste Frage zurück: Weshalb passiert das alles gerade jetzt?

Fairerweise muss man sagen, dass viele dieser großen Tech-Giganten mit ihren Handelspraktiken, ihrem monopolistischen Verhalten, der unkontrollierten Nutzung von Kundendaten usw. eine Menge Probleme haben. Ein Teil davon ist auf das Fehlen klar definierter Richtlinien und eine allgemeine Atmosphäre des "erst experimentieren, dann regulieren" zurückzuführen, die wohl von den Behörden und Regulierungsbehörden selbst geduldet und sogar gefördert wurde. Es ist noch nicht allzu lange her, dass die ungezügelte Nutzung von Daten in China durch Online-Firmen als Wettbewerbsvorteil bei der Entwicklung von Anwendungen der künstlichen Intelligenz und der Datenwissenschaft gegenüber dem Westen gefeiert wurde, wo die Nutzung solcher Daten strenger geregelt war.

Und es stimmt auch, dass die großen Technologieunternehmen in China mit ihrem rasanten und ungebremsten Wachstum in den letzten Jahrzehnten eine Unternehmenskultur entwickelt haben, die man nur als arrogant und frauenfeindlich bezeichnen kann, und dass die von ihren Mitarbeitern geforderte Arbeitsmoral zunehmend als unverschämt und übertrieben angesehen wird. In den letzten Jahren hat sich die öffentliche Meinung schnell gegen diese Tech-Milliardäre gewandt, von denen viele noch bis vor wenigen Jahren als Idole des Erfolgs bewundert wurden. Dieser Wandel in der Mentalität der Massen in China wird besonders deutlich angesichts der unvorhersehbaren wirtschaftlichen Aussichten in China, die durch die Verlangsamung des Wachstums und die Unsicherheiten und Veränderungen durch COVID-19 hervorgerufen werden.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass Chinas Präsident Xi Jinping dieses populistische Projekt “Zähmung von Big Tech" zeitgemäß und richtig empfand. Und so gibt es jetzt eine unerbittliche Kampagne um die Missstände in der Privatwirtschaft zu korrigieren, um die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher und das Wohlergehen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen. Auch die Kinder sollen vor Einpaukexzessen vor Prüfungen und der exzessiven Online-Spielen geschützt werden. Diese Kampagne trifft genau den Ton des paternalistischen Staates. Das wiederum gibt der Partei die Möglichkeit, mehr ideologische Kontrolle durchzusetzen: Indem sie zum einen das Bildungswesen auf nach außen hin wohlmeinende Weise korrigiert, und zum anderen die wirtschaftliche Kontrolle über die reichsten Privatunternehmen und Einzelpersonen im Land nach ein paar Jahrzehnten des ausufernden "Werde reich"-Kapitalismus zurückerlangt.

Unerwartete Verbündete für Xi - aber für wie lange?

Und hier scheint Xi in der chinesischen Jugend unerwartete Verbündeten gefunden zu haben: In einer Zeit des langsameren Wirtschaftswachstums, der sozialen Unsicherheit und der zunehmenden globalen Isolation Chinas sind die Öffentlichkeit und insbesondere die Jugend zunehmend frustriert über Themen wie Arbeitnehmerrechte sowie Bildungs- und Wirtschaftsungerechtigkeit. Wenn die Regierung also "hart gegen die Unternehmen vorgeht", ist das Musik in den Ohren vieler Menschen. Damit solche populistischen Kampagnen jedoch nachhaltig sind und nicht nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken, müssen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme mit konkreten, positiven Ergebnissen angegangen werden. Es müssen mehr Chancen und Arbeitsplätze geschaffen werden, was jetzt, da der private Sektor unter strenger Beobachtung steht und möglicherweise nicht mehr so unternehmerisch und risikofreudig ist wie früher, eine noch größere Herausforderung darstellen könnte. Folglich werden sich die Neueinstellungen eher zurückgehen.

Ebenso fraglich ist, wie nachhaltig die Unterstützung der Jugendlichen für die behördliche Kontrolle der Inhalte von Online-Spielen und der Spielzeit auf lange Sicht ist, um es vorsichtig auszudrücken. Zwar mögen viele Eltern die Kultur des Einpaukens vor Prüfungen nicht gutheißen, doch sind es auch viele dieser und anderer Eltern, die ihre Kinder zum Nachhilfeunterricht schicken, damit sie in den öffentlichen Prüfungen gut abschneiden, um an einer der Top-Universitäten aufgenommen zu werden. Letztendlich ist es die Regierung selbst, die die öffentlichen Prüfungen abnimmt und alle Universitäten kontrolliert und letztlich die Wirtschaft aufbaut, die die guten Arbeitsplätze schaffen kann. Die aktuellen Probleme auf die Nachhilfeschulen zu schieben, greift zu kurz.

Kürzlich sprach sich Xi auf der 10. Sitzung des Zentralen Ausschusses für Finanz- und Wirtschaftsangelegenheiten, einem hochrangigen Strategiegremium dessen Vorsitz er innehat, sogar offen für Gemeinsamen Wohlstand” aus. Das kann als Aufforderung verstanden werden, zur kommunistischen Philosophie einer Umverteilung des Reichtums in der chinesischen Gesellschaft zurückzukehren. Er rief dazu auf, "die Regulierung und Anpassung hoher Einkommen zu verstärken, legale Einkommen zu schützen, übermäßige Einkommen angemessen zu regulieren und einkommensstarke Gruppen und Unternehmen zu ermutigen, mehr an die Gesellschaft zurückzugeben", wobei Xi betonte, dass es sich dabei nicht um “angestrebte Gleichverteilung" handele. So populistisch und attraktiv dies für die Massen auch klingen mag, so ungewiss ist es doch, wie eine solche Strategie bei den Menschen ankommen wird, die in den letzten Jahrzehnten einen Vorgeschmack auf den Kapitalismus bekommen haben. Abgesehen von Populismus und nationalistischem Eifer wird es für Xis Regime eine große Herausforderung sein, Chinas Erfolg bei der kontinuierlichen Verbesserung des wirtschaftlichen Wohlergehens aller Gesellschaftsschichten, insbesondere der neuen Mittelschicht, aufrechtzuerhalten.

Unter Xi Jinping hat der Slogan 國進民退 ("die staatlichen Unternehmen rücken vor, die privaten Sektoren ziehen sich zurück") gegenüber den früheren reformistischen Schwerpunkten Marktliberalisierung und Unternehmertum enorm an Boden gewonnen.

Charles Mok
Charles Mok

Wirtschaftliche Kontrolle des Kapitals durch zentrale Planung und Umstrukturierung der digitalen Dienste

Neben der Ideologie dient die aktuelle Kampagne auch dazu, den Behörden die vollständige Kontrolle über die Wirtschaftsstruktur des Landes zurückzugeben. In vielerlei Hinsicht symbolisiert sie eine Umkehrung der Formel "Kapitalismus mit kommunistischen Merkmalen" und der wirtschaftlichen Reformstrategie der letzten mehr als vierzig Jahre, die von dem verstorbenen Deng Xiaoping vorangetrieben wurde. Unter Xi Jinping hat der Slogan 國進民退 ("die staatlichen Unternehmen rücken vor, die privaten Sektoren ziehen sich zurück") gegenüber den früheren reformistischen Schwerpunkten Marktliberalisierung und Unternehmertum enorm an Boden gewonnen.

Entscheidend für Xis Wirtschaftsphilosophie ist die zentrale Wirtschaftsplanung für alle Schlüsselsektoren in China. Damit entzieht die Regierung den reichen und einflussreichen Industriemagnaten und ihren in den letzten Jahrzehnten aufgebauten Beziehungsgeflechten und Machtzirkeln die Kontrolle. Dies betrifft vor allem diejenigen, die ihr Vermögen im Internet- und Technologiesektor vor allem durch inländische und internationale Börsengänge machen. In Verbindung mit dem Trend in den USA, Wertpapiergesetze und andere Rechtsvorschriften zu erlassen, um die Offenlegung von Finanz- und Kundendaten bei ausländischen Unternehmen durchzusetzen, die in den USA börsennotiert sind, ist die chinesische Regierung verständlicherweise zunehmend misstrauisch gegenüber solchen ausländischen Investitionen und Börsengängen. Die Aussage der Zentralregierung, die "unkontrollierte Kapitalausweitung" seit Ende 2020 eindämmen zu wollen, was später Anfang 2021 als politisches Ziel dokumentiert wurde, ist offensichtlich ein Schritt, um Chinas wahrgenommene Gefährdung durch solche Kapitalmaßnahmen zu begrenzen, die vom rasant wachsenden chinesischen Technologiesektor mit großer Geschwindigkeit und großem Umfang durchgeführt werden.

Die Zentralregierung ist außerdem eindeutig darum bemüht, die chinesische Industrie durch mehr zentrale Planung neu zu definieren. Die zuvor stark beworbene strategische Initiative "Made in China 2025", aus dem Jahr 2015, sah sich von 2016 bis 2020 mit einem feindseligen US-Präsidenten Donald Trump und dessen "Handelskrieg" konfrontiert und blieb am Ende weitgehend hinter den Erwartungen zurück. Angesichts des sich abzeichnenden und wahrscheinlich langwierigen "Technologiekriegs" zwischen China und den USA ist davon auszugehen, dass China seine Anstrengungen auf die Hightech-Produktion, insbesondere in den Bereichen Halbleiter, Elektronik und andere technologische Schlüsselkomponenten, sowie auf die Forschung und Entwicklung in kritischen wissenschaftlichen Bereichen wie fortges.

Einer der möglicherweise willkommenen Nebeneffekte der aktuellen Kampagne könnte darin bestehen, dass die kollektiven Anstrengungen und die Arbeitskraft der Nation auf diese kritischen Technologiebereiche und Grundlagenwissenschaften gelenkt werden. Und damit weg von den dienstleistungsorientierten Geschäftsmodellen der "digitalen Wirtschaft", die in den letzten zwanzig Jahren sowohl die Investitionen als auch den Arbeitskräfteverbrauch dominiert haben, während sie gleichzeitig eine Vielzahl von Problemen in Bezug auf Verbraucherinteressen, Datenschutz und monopolistische Handelspraktiken verursacht haben.

Eine solche Strategie der Neuausrichtung der Industrie mag durchaus sinnvoll sein, aber ihr Erfolg ist nicht garantiert. In den letzten Jahrzehnten ist der chinesische Halbleiter- und Elektroniksektor im oberen Marktsegment immer weiter hinter den westlichen Konkurrenten sowie Taiwan und Korea zurückgeblieben. Diese Sektoren haben in China bereits massive staatliche Unterstützung und Subventionen erhalten. Dennoch blieben sie im Inland hinter der privaten digitalen Wirtschaft und dem von privaten Unternehmen und Unternehmern geführten Dienstleistungssektor zurück, was die Investitionen, die finanziellen Erträge oder sogar die Zahl der geschaffenen Arbeitsplätze angeht. Die Zurückdrängung kommerziell erfolgreicher Unternehmen in einigen Sektoren wird sicherlich nicht unbedingt dazu führen, dass Unternehmen in anderen rückständigen Sektoren erfolgreicher werden, weil die zentrale Planung ohnehin nicht gut funktioniert hat.

Für die Unternehmen der digitalen Wirtschaft und des Dienstleistungssektors, die einige der erfolgreichsten und am weitesten verbreiteten Plattformen weltweit aufgebaut haben, wie zum Beispiel AliPay und WeChat, wird die Zentralregierung zusätzlich zu den aktuellen Regulierungskampagnen, schrittweise eine neue Marktstruktur anstreben, die von der Regierung diktiert und geleitet wird. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung der digitalen Zentralbankwährung (CBDC) in China, die weithin als weltweit führend angesehen wird und bei der die kommerziellen E-Wallets und Zahlungsdienstleister auf eine sekundäre und unterstützende Rolle reduziert werden, da die Kerntransaktionen und -daten weitgehend von staatlichen Akteuren, in diesem Fall der People's Bank of China, kontrolliert werden. Es ist nicht undenkbar, dass die Zentralregierung versuchen wird, eine solche Marktumstrukturierung zu wiederholen, um ihren Würgegriff auf private Firmen in anderen digitalen Dienstleistungsbereichen zu maximieren.

Es ist leicht, ein Feuer zu legen, aber schwer, es zu löschen

Darüber hinaus werden auch andere administrative Maßnahmen ergriffen, um die Kontrolle über private Unternehmen zu verstärken. Jüngsten Berichten zufolge hat Bytedance, der chinesische Eigentümer von TikTok, 1 % seiner Anteile an ein staatliches Unternehmen verkauft, das sich im Besitz der chinesischen Cyberspace Administration und zweier weiterer staatlicher Stellen befindet, so dass die Regierung faktisch einen Vertreter in den Vorstand entsenden kann. Solche Taktiken sind nicht ganz neu, aber sie werden wahrscheinlich immer häufiger angewandt.

Bedeutet das, dass die “Goldenen Zeiten" der chinesischen Technologieinvestitionen vorbei sind? Sehr wahrscheinlich: ja. Zumindest wird es nie wieder so sein wie früher. Seit Juli haben globale Investoren Milliarden mit Aktien vieler dieser chinesischen Tech-Unternehmen verloren, von der neu notierten Didi Global bis hin zu denen, die bereits zuvor in den USA, in Hongkong und sogar an den chinesischen Börsen notiert waren. Softbank, ein führender Investor in viele chinesische Tech-Unternehmen, darunter Alibaba, Tencent und Didi, hat vor kurzem zugegeben, dass es seine Investitionen in China angesichts der aktuellen Unsicherheiten "deutlich zurückfahren" wird. Richard MacGregor, ein Senior Fellow am Lowy Institute in Sydney, erklärte sogar unverblümt, dass "Xi viele Prioritäten hat. Der Aufbau des Sozialismus steht ganz oben auf der Liste. Die Unterstützung ausländischer Investoren ist es nicht".

Das größte Risiko bei dieser Kampagne besteht wahrscheinlich darin, dass sie sich zwar leicht in Gang bringen lässt, aber dann nur schwer wieder zu stoppen ist. Das Risiko wird noch verstärkt dadurch, dass so viele Ministerien, Aufsichtsbehörden und Agenturen involviert sind und intuitiv versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen - ganz abgesehen von den Schwierigkeiten bei der Koordinierung und der Sorge vor unerwünschten Nebeneffekten. Denn es ist deutlich einfacher, ein Feuer zu entfachen, als es zu löschen. Sollte die Kampagne wirklich ein Eigenleben entwickeln und der staatlichen Kontrolle entgleiten, könnten die Folgen für die chinesische Wirtschaft, die Innovationskraft des Landes und seine Privatunternehmen gravierend sein.

Charles Mok ist derzeit Direktor von Tech for Good Asia. Er war Internetunternehmer und vertrat von 2012 bis 2020 als Abgeordneter den Bereich Informationstechnologie im Parlament (LegCo) von Hongkong.