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Internationale Politik
Pakistan in der Krise

Eliten tanzen (weiter) auf dem Vulkan – und vergessen über ihrem internen Machtkampf die vielfachen Krisen im Land
Straßensperungen in Islamabad.

Straßensperungen in Islamabad.

© Shabaz Tariq

Pakistan sieht sich im Moment mehreren Krisen gleichzeitig gegenüber. Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 verschlechtert sich die Sicherheitslage zusehends, insbesondere in den westlichen Grenzregionen zu Afghanistan. Nach UN-Angaben sind  Terroranschläge in Pakistan in den letzten 12 Monaten um rund 25% gestiegen. Gleichzeitig erlebt das Land eine schwere Wirtschaftskrise. 2019 verhandelte Pakistan das 22. Rettungspaket seit seiner Gründung mit dem IWF. Die systemisch schwache Wirtschaft wurde durch die problematische Wirtschaftspolitik der damaligen Regierung von Imran Khan, die Auswirkungen der Pandemie, die verheerende Flut von 2022 und der Auswirkungen des Ukraine-Kriegs weiter geschwächt und befindet sich seit Sommer 2022 praktisch am Rande des Staatsbankrotts. Die Inflation schoss dramatisch in die Höhe und liegt heute schätzungsweise zwischen 30-40%, Tendenz steigend. Für die Menschen in Pakistan hat das existentielle Auswirkungen. Viele Menschen müssen sich in ihren Ausgaben der normalen Lebenshaltung wie Nahrungsmittel, Kleidung, Transport stark einschränken, verschulden sich und sehen sich in ihrer Existenz bedroht.

Vor diesem Hintergrund spielt sich seit April 2022 ein aggressiver Machtkampf auf der politischen Ebene ab, der mit der kurzfristigen Festnahme von Ex-Premier Imran Khan am 9. Mai und den darauf folgenden gewaltätigen Ausschreitungen und Strassenblockaden in zahlreichen Städten des Landes ihren vorläufigen Höhepunkt fand.

Zur Vorgeschichte: Cricket Star Imran Khan`s neue Partei bricht das etablierte Parteiensystem auf

Der ehemalige Cricket-Star Imran Khan wurde 2018 zum Premier-Minister Pakistans gewählt. Er hatte sich mit seiner neuen Partei PTI (Pakistan Tehreek-e-Insaaf) als frische, neue Alternative gegenüber dem klientelistischen Politikstil der etablierten Parteien Pakistan People´s Party (PPP) und Pakistan Muslim League Nawaz (PML-N) präsentiert, die sich in den vorhergehenden 20 Jahren in der Regierungsführung – nur unterbrochen von einer Periode der Militärherrschaft unter General Musharraf (1999-2008) - abgewechselt hatten. Imran Khan´s Wahlslogan von „Neya Pakistan“ (Neues Pakistan) und sein Wahlversprechen der Korruptionsbekämpfung kamen vor allem bei der städtischen Mittelschicht gut an und brachte ihm 2018 ein Wahlergebnis von 31% ein. Mit seiner Regierungskoalition – und dem Wohlwollen des einflussreichen Militärs – regierte er relativ unangefochten bis April 2022. Lange sah es so aus, als würde er der erste Premier-Minister Pakistan´s werden, der seine Amtszeit regulär beenden würde. Doch es kam anders. Imran Khan konnte seine Wahlversprechen kaum umsetzen.  Die Unzufriedenheit mit seiner Politik in der Bevölkerung stieg. Die problematische Wirtschaftspolitik seiner Regierung und Konflikte mit Pakistan´s einflussreicher Militärführung führten seine Regierung in die Krise. Am 10. April 2022 wurde Imran  schließlich als erster Regierungschef Pakistan´s durch ein Misstrauensvotum gestürzt.

Machtkampf seit dem Regierungswechsel im April 2022

Eine Vielparteienkoalition aus 13 Parteien stürzte seine Regierung in dramatischen Ereignissen im April 2022. Die Ereignisse vom 10. April 2022 waren nicht nur historisch in dem Sinne, dass Imran Khan als erster Premier des Landes durch ein Misstrauensvotum gestürzt wurde, sondern auch darin, dass erstmals eine Koalition aus allen anderen Parteien unter Führung von Shabaz Sharif (PML-N) an die Regierung kam, die kaum gemeinsame politische Ideen und Interessen haben.

Die Vielparteienkoalition hatte es von Anfang an schwer, einen Konsens über die drängenden Probleme zu finden, die die Vorgängerregierung hinterlassen hatte, insbesondere die Wirtschaftskrise und die drohende Staatspleite. In der polarisierten politischen Situation nach dem Misstrauensvotum konnte sich die Regierung bisher nicht zu den notwendigen, aber schmerzhaften grundlegenden Reformen durchringen, die für eine wirtschaftliche Konsolidierung notwendig wären. Da im Herbst 2023 turnusmäßige Parlamentswahlen anstehen, möchte die Regierung ihre geringe Popularität durch unpopuläre Massnahmen nicht noch weiter reduzieren.

Imran Khan, der mit seiner Partei PTI über eine große Massen-Mobilisierungskraft verfügt, führt seit dem Misstrauensvotum eine agressive Kampagne, um vorgezogene Neuwahlen zu erreichen. In seiner Rhetorik bezeichnet er die aktuelle Regierung als „importiert“ (Damit spricht er den weit verbreiteten Anti-Amerikanisums in der Bevölkerung an und diskreditiert die aktuelle Regierung als Marionetten der USA.) Er greift das Militär, auch bestimmte hochrangige Offiziere, offen an und macht sie für seinen Machtverlust sowie ein Attentatsversuch im November 2022 verantwortlich.

Die schwierige Wirtschaftslage und die steigenden Existenzsorgen der Menschen spielen Imran Khan´s Machtansprüchen und Regierungskritik perfekt in die Hände. Zum Zeitpunkt des Misstrauensvotums war seine Beliebtheit stark gesunken. Viele Wähler, die seiner Partei 2018 ihre Stimme gegeben hatten, waren von seiner Politik enttäuscht und hätten bei den anstehenden Wahlen nicht mehr PTI gewählt. Imran Khan konnte sich mit seiner geschickten Rhetorik jedoch inzwischen als Opfer eines Komplotts der „alten Eliten“ und des Militärs positionieren. Vielen Menschen gilt er inzwischen wieder als einzige Alternative zu den althergebrachten verkrusteten Machtstrukturen.

Für diesen Vertrauensverlust sind die etablierten Parteien selbst verantwortlich. Sie haben die Botschaft der Wähler, die 2018 PTI wählten und damit einen anderen Politikstil wollten, nicht verstanden. Statt das damalige Wahlergebniss selbstkritisch zu analysieren und die Oppositionszeit für eine Neuaufstellung zu nutzen, setzten sie ihre auf persönliche Loyalitäten gegründete Politik fort. Auf der einen Seite steht der Führungsanspruch der Familie Bhutto-Zardari (PPP), die ihre Machtbasis im ländlichen Sindh hat. Dem stehen auf der anderen Seite die Machtinteressen der Familie Sharif gegenüber, die die Interessen der industriellen Unternehmer des Punjab vertritt.

Als Bilawal Bhutto-Zardari, der PPP-Vorsitzende und aktuelle Aussenminister Pakistans, am 10. April 2022 nach dem Misstrauensvotum jubelte, dass „das alte Pakistan“ zurück sei, war das für viele Wähler kein Anlaß zur Hoffnung, und sicherlich kein Anlaß, um bei den nächsten Wahlen wieder einer der hergebrachten Parteien ihre Stimme zu geben. Denn gerade „das alte Pakistan“ wollen sie nicht mehr.

Das Militär gerät zusehens in die öffentliche Kritik

Einige Beobachter vermuten, dass es Imran Khan´s harte Kritik am Militär war, die am 9. Mai zu seiner Festnahme im Gerichtsgebäude des Islamabad High Court durch paramilitärische Einheiten führte. Es war eine neue Qualität der gewaltsamen Demonstrationen im Land, dass erstmals auch Einrichtungen des einflussreichen und gefürchteten Militärs massiv betroffen waren. In Rawalpindi drangen Demonstranten auf das Gelände des Generalstabes vor. In Lahore wurde die Residenz des Corps-Kommandeurs geplündert und in Brand gesetzt. Eine solche offene Missachtung und Demütigung des Militärs ist neu und macht die Armeeführung besorgt. Der neue Armeechef Asim Munir kündigte bereits an, dass man die Randalierer dess „schwarzen Tages in der Geschichte Pakistans“ konsequent zur Rechenschaft ziehen würde. Sicherheitskräfte in Islamabad und Punjab sollen Presseberichten zu Folge bereits mehrere hundert Personen festgenommen haben. Führungspolitiker der PTI, darunter der ehemalige Aussenminister Shah Mahmood Qureishi, der PTI-Generalsekretär und ehemalige Planungsminister Asad Umer sowie die ehemalige Ministerin für Menschenrechte Dr. Shireen Mazari wurden in Zusammenhang mit den Ausschreitungen ebenfalls festgenommen. Am 16. Mai trat der Nationale Sicherheitsausschuss – ein Regierungsgremium bestehend aus zivilen Regierungsmitgliedern und der Militärführung des Landes – zu einer Sondersitzung zusammen. Premier Shabaz Sharif kündigte auf dieser Sitzung an, die Verantwortlichen der Ausschreitungen des 9. Mai innerhalb von 72 Stunden dingfest zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Die Sicherheitskräfte scheinen entschlossen, auf die Vorfälle des 9. Mai konsequent zu reagieren und ihre Machtposition auch in der öffentlichen Wahrnehmung wieder herzustellen.

Imran Khan hat seinen Ton nach seiner vorläufigen Freilassung jedoch nicht gemäßigt. Er scheint aus diesem Vorfall eher gestärkt hervor gegangen zu sein. Inzwischen greift er den neuen Armeechef direkt an und macht ihn für die Vorfälle verantwortlich. Die gewaltsamen Ausschreitungen seien von „Agenten und Provokateuren der Sicherheitsorgane“ inszeniert worden, um die Opposition zu diskreditieren, so Imran Khan. Er ruft die Bevölkerung zu weiteren Protestaktionen auf und kündigte einen neuen Aktionsplan für die nächsten Monate an.

Die politische Polarisierung im Lande spitzt sich weiter zu . Inzwischen gerät auch die Justiz nach der Aufhebung des Haftbefehls gegen Imran Khan unter immer größeren politischen Druck.

Eine Entspannung der Situation ist kurzfristig nicht vorstellbar. Die Glaubwürdigkeit der politischen Institutionen und Akteure ist generell so stark geschwächt, dass es kaum vorstellbar ist, die verschiedenen politischen Lager an den Verhandlungstisch zu bringen, um einen tragfähigen Kompromiss auszuhandeln. Das ist keine gute Perspektive für das 50. Jubiläum der pakistanischen Verfassung von 1973, und erst recht keine für die Lösung der drängenden Probleme des Landes.