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Slowakei
Koalitionskrise: Quo Vadis Slowakei?

Roberto Fico
© picture alliance / NurPhoto | Mateusz Wlodarczyk

Der Ausbruch des Angriffskrieges in der Ukraine hat die meisten europäischen Länder zu einer Kursänderung gegenüber Russland gezwungen. In der Slowakei sind die Gesellschaft und die politischen Eliten in dieser Frage sehr gespalten, und die aktuelle Koalitionskrise verschärft diese Spaltung noch mehr. Die rechtskonservative Koalition hat zwar von Anfang an eine mehr oder weniger klare proeuropäische und antirussische Orientierung der Auslandspolitik beibehalten, zerbricht aber förmlich an ihren langandauernden und erschöpfenden internen Konflikten. Die Opposition unter der Führung der sozialdemokratischen Partei SMER-SD („Richtung-SD“) und der rechtsextremistischen Republika („Republik“) gewinnt wieder an Wählerpotenzial, wobei diese Parteien ihre Sympathie zu Russland nicht nur nicht verbergen, sondern aktiv propagieren und verteidigen.

SMER-SD, unter der Leitung des ehemaligen langjährigen Premierministers Robert Fico, sowie die neue Partei Hlas („Die Stimme“ - ein abgespaltener Reformflügel von SMER) mit dem ehemaligen Premierminister Peter Pellegrini an der Spitze, wünschen sich nichts sehnlicher als vorzeitige Neuwahlen, welche sie laut der letzten Wahlumfragen wahrscheinlich auch gewinnen würden. Wie ist die jüngst noch hoffnungsvolle Slowakei unter der liberalen Präsidentin Zuzana Čaputová und unter der neuen, aus Antikorruptionsprotesten hervorgegangenen Regierung in eine solche Pattsituation geraten? Was bedeutet das für die Zukunft der Slowakei?

Parteimitglieder von SMER-SD, vorne Robert Fico während der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Slowakischen Nationalaufstands (28.08.2022), zu dem er den russischen Botschafter (3. Person rechts von Fico) und den Vertreter der belarussischen Botschaft (5. Person rechts von Fico) eingeladen hatte. In der Volksmenge konnte man russische Flaggen sehen.

Parteimitglieder von SMER-SD, vorne Robert Fico während der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Slowakischen Nationalaufstands (28.08.2022), zu dem er den russischen Botschafter (3. Person rechts von Fico) und den Vertreter der belarussischen Botschaft (5. Person rechts von Fico) eingeladen hatte. In der Volksmenge konnte man russische Flaggen sehen

© https://fb.watch/foc_Z6SVr1/

Koalitionsstreit seit Ewigkeiten: die Sperenzchen von Igor Matovič

Nach den Parlamentswahlen im Februar 2020 erreichten die zuvor oppositionellen Parteien einen historischen Sieg über die seit zwölf Jahren regierende Partei SMER-SD, die mit Korruption, Mafia sowie mit dem Mord an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten im Jahr 2018 in Verbindung gebracht wird. Die Siegerpartei der Wahlen, die rechtskonservative Bewegung OĽANO (Obyčajní ľudia a nezávislé osobnosti – „Einfache Menschen und unabhängige Persönlichkeiten“) formierte mit über 24 % der Stimmen unter ihrem Vorsitzenden Igor Matovič rasch eine rechtskonservative Koalition aus vier Parteien, die sich sogar die Verfassungsmehrheit im slowakischen Parlament sicherte (95 von 150 Sitzen).

Die Koalitionsarbeit war jedoch von Anfang an von Streitigkeiten über verschiedene Themen begleitet, die insbesondere von einem persönlichen Konflikt zwischen Koalitionschef Igor Matovič und seinem Koalitionspartner Richard Sulík, Wirtschaftsminister und Vorsitzender der Partei SaS (Sloboda a Solidarita – „Freiheit und Solidarität“), dominiert wurden. Bald nach den Wahlen zeigte sich der „wahre“ Igor Matovič, der inmitten der Pandemie seinen Kollegen und Experten kaum zuhörte und das Land nur nach seinem persönlichen Gutdünken und frei nach Laune regierte – letztere konnte wechseln wie Aprilwetter.

Der Höhepunkt seiner Amtszeit war ein Großeinkauf des russischen Impfstoffs Sputnik V. im Frühling letzten Jahres - ohne jegliche vorherige Absprache mit sämtlichen Koalitionspartnern. Nach langem Streit musste Matovič vor allem unter dem Druck der SaS von der Position des Regierungschefs zurücktreten. Er verschwand aber nicht völlig von der Bildfläche, sondern tauschte geschickt den Platz mit seinem Parteikollegen, dem damaligen Finanzminister Eduard Heger, der seither amtierender Premierminister ist.

Sommerliche Tragikomödie

Igor Matovič sicherte sich damit einen ungebrochenen Einfluss auf die Regierung und das ganze Land. Neben einer seiner zentralen Position als amtierender Finanzminister steht er nach wie vor an der Spitze seiner Partei, deren Mitglieder seine treuesten Anhänger sind. Sie stehen in jeder Situation hinter ihren Parteichef und unterstützen seine willkürlichen Ideen, inklusive Premierminister Heger, der oft auch als Matovičs „Marionette“ bezeichnet wird.

Am letzten von Matovič vorgeschlagene Gesetz, das einen monatlichen Steuerbonus für Kinder einführen und Familien eine Entlastung in Zeiten der rapiden Inflation bringen sollte - gleichzeitig aber die slowakische Staatskasse Millionen von Euro kosten wird - zerbrach letztendlich die Koalition. Das Gesetz wurde zu Beginn des Sommers zunächst von den Koalitionspartnern und dann auch von der Präsidentin abgelehnt. Matovič gelang es aber, das Veto mit Hilfe von Stimmen aus der rechtsextremen Opposition zu durchbrechen. Als Reaktion darauf zog sich die Partei SaS aus dem Koalitionsvertrag zurück und Wirtschaftsminister Sulík stellte ein Ultimatum: Sollte Igor Matovič nicht bis zum 31. August zurücktreten, würde die Partei SaS die Regierung verlassen.

Matovič weigerte sich jedoch wiederholt zurückzutreten. Seinen Rücktritt machte er von der Erfüllung seines inzwischen ausgedachten 10-Punkteprogramms für die Entlastung der slowakischen Gesellschaft in Milliardenhöhe abhängig. Wirtschaftsminister Sulík trat dann am 31. August zurück, und da  Matovič nicht bereit war, über diese Punkten zu verhandeln, traten am 5. September auch die anderen Minister von der SaS zurück. 

Premierminister Heger entschied sich, mit einer Minderheitsregierung (70 von 150 Sitzen) und mit Matovič weiterzuregieren. Ein Vertrauensvotum für die „alt-neue“, verkleinerte Regierung lehnt Heger deutlich ab, obwohl sich die SaS dafür ausgesprochen hat, die Regierung auf jeden Fall in einem Votum unterstützen zu wollen. Dies allerdings vor allem, um vorzeitigen Wahlen vorzubeugen, bei der die sozialdemokratische Opposition Gewinnchancen hätte. Dies hätte fatale Konsequenzen für die Slowakei.

Zukunft der Slowakei ungewiss?

Experten und proeuropäische Eliten machen sich inzwischen ernsthafte Sorgen, sowohl über die innenpolitische Entwicklung als auch über die außenpolitische Orientierung der Slowakei. Eins ist eng mit dem anderen verbunden. Sollte die Koalitionskrise nicht durch eine Regierungsumbildung abgewendet werden, droht eine Rückkehr der alten Kader unter Fico und Pellegrini an die Macht. Beide Politiker bemühen sich schon seit Längerem um vorzeitige Wahlen, sammeln Unterschriften für ein Referendum, reisen mit einer großen Antikampagne gegen die Regierung durch das Land und organisieren Proteste, wo in der Menge außer slowakischen Fahnen immer wieder auch russische zu sehen sind.

Peter Pellegrini, „der SMER-Nachwuchs“, dem die meisten Bürger vertrauen, ist momentan der beliebteste Politiker in der Slowakei. Laut Aussage von Pellegrini hat die angeblich revolutionäre, ursprünglich vielversprechende Koalition völlig versagt. Leider hat er nicht ganz unrecht; das Scheitern der gegenwärtigen Regierung hat sogar eine doppelte Bedeutung für die slowakische Gesellschaft (s.u.).

Die Sieger der Parlamentswahlen 2020 und die spätere Koalition präsentierten sich als neue nicht-korrupte und reformorientierte Kraft, die die Transformation der Slowakischen Republik zu einer liberalen Demokratie mit funktionierendem Rechtsstaat und liberaler Marktwirtschaft nach dem Vorbild der westlichen Demokratien vorantreiben wollten. Nach der Aufdeckung mehrerer mafiösen Affären der SMER-Regierung nach dem Mord an Journalist Kuciak wünschte sich die Mehrheit der slowakischen Bürger nichts sehnlicher als die Erfüllung dieser Versprechungen. Obwohl die neue Regierung vor allem in der Außenpolitik einen zuverlässigen Kurs verfolgte, überwogen in der Innenpolitik populistische Lösungen und interne persönliche Konflikte.

Hinzu kamen die zwei größten Weltkrisen in der jüngsten Geschichte: die Pandemie und Energiekrise als Folge des Angriffskrieges in der Ukraine. Große Teile der slowakischen Gesellschaft radikalisierte sich unter dem Druck neuer existenzieller Probleme und aus Enttäuschung über die Regierung, die anstatt effektive Lösungen für die akuten Probleme anzubieten, nur ihren Streitigkeiten nachging. Zur Polarisierung und Radikalisierung der slowakischen Gesellschaft trägt auch die russische Propaganda und Desinformation bei, die in der Slowakei stark präsent ist und die sogar von führenden Politikern der Opposition unterstützt und verbreitet wird.

Hier hat die Regierung gleich doppelt versagt. Nicht nur, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Hoffnung der Menschen auf einen Neubeginn zu erfüllen und einen echten Wandel in der Slowakei anzustoßen. Sie verliert durch ihr Verhalten zudem auch Wähler an gerade die Parteien, die sie nach langen Jahren eines „entführten Staates“, wie man die Ära der SMER in der Slowakei nennt, hätten ersetzen sollten.

Falls es zu vorzeitigen Wahlen kommt und sich die Wahlprognosen bestätigen, wird die Slowakei nicht nur von populistischen Kräften „entführt“, sondern vielleicht auch von Putins Russland.

Barbora Krempaská ist Projektmanagerin im Büro Mitteleuropäische und Baltische Staaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Prag.