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Wirtschaft
Mehr als ein verlorenes Jahrzehnt für Lateinamerika!

Seehafen Buenaventura an der kolumbianischen Pazifikküste
Seehafen Buenaventura an der kolumbianischen Pazifikküste © picture alliance / imageBROKER | Florian Kopp

Ökonomie ist hart. Es dauert Jahre, um in kleinen Trippelschritten voranzukommen. Aber es braucht nicht mehr als eine Krise, um wiederum alles zu verlieren, was vorher mühsam erreicht worden ist. Die grausame Wahrheit zeigt sich einmal mehr exemplarisch in Lateinamerika. Keine andere Weltregion wird durch Covid-19 (sozio-)ökonomisch stärker beeinträchtigt werden.

Nimmt man die makabre Rangliste der Verbreitung des Coronavirus und der Opferzahlen, findet sich Lateinamerika ganz weit oben. Mit Brasilien, Mexiko, Peru, Kolumbien und Chile liegt die Hälfte der zehn am schwersten getroffenen Länder in Lateinamerika.

Gleichzeitig prognostiziert der Internationale Währungsfonds, dass Covid-19 auch wirtschaftlich die lateinamerikanischen von allen aufstrebenden Volkswirtschaften am weitesten zurückwerfen wird. So wird für 2020 ein Rückgang des realen Bruttoinlandprodukts (BIP) für Lateinamerika von 9,4 Prozent vorausgesagt, für weite Teile Asiens jedoch lediglich von rund fünf Prozent, für Indonesien, Malaysia, Philippinen, Thailand und Vietnam insgesamt von gar nur zwei Prozent und selbst für Afrika südlich der Sahara auch nur von etwas mehr als drei Prozent.

Ausgedrückt in Pro-Kopf-Größen wird Lateinamerika somit Ende 2020 wieder auf das Einkommensniveau Ende der 2010er Jahre zurückgeworfen.Nichts anderes als ein ökonomisch verlorenes Jahrzehnt ist dann das brutale Ergebnis der letzten Dekade.

Aber auch jenseits der nackten Zahlen wird Covid-19 Lateinamerika in ganz besonderer Weise tiefe Bremsspuren verursachen. In Vorcorona-Zeiten lief zwar auch manches schief. Viele der Mängel ineffizienter Staatswirtschaften wurden jedoch durch einen nach marktwirtschaftlichen Mechanismen gut funktionierenden informellen Sektor aufgefangen und kompensiert.

Die durch Covid-19 veranlassten Notstandsmaßnahmen trafen hingegen nun vor allem die kleinen Selbständigen, die Straßenhändler, das Wachpersonal, das Kleingewerbe, den Einpersonenbetrieb, die Putzhilfen, Gärtner und haushaltsnahen Dienstleister für die wohlhabende Oberschicht und viele andere, die in den Metropolen den Alltag der Massen am Laufen halten. Sie alle waren durch Lockdown der Wirtschaft, Einfrieren des gesellschaftlichen Lebens und Isolierung von ihren Netzwerken und Verbindungen abgeschnitten. Von praktisch einem Tag auf den anderen wurde der informelle Sektor lahmgelegt. Millionen von Menschen verloren ihre ökonomische Lebensgrundlage, viele ihre Einkommensquellen, manche ihren Job. Ein soziales Desaster, das auch die politischen Strukturen erschüttert(e).

Der informelle Sektor sorgt in Lateinamerika für jene Flexibilität und Freiräume, die dem formalen Bereich durch überbordende Bürokratie, Verwaltung und Regulierungen verwehrt sind. So verschmelzen formelle und informelle Aktivitäten im Tagesgeschäft symbiotisch – ganz besonders bei Kleinst-, Klein- und mittelständischen Betriebe. Sie dürften in allen lateinamerikanischen Ländern für zwei Drittel bis drei Viertel aller Arbeitsplätze sorgen (formelle und informelle Jobs zusammen). Wie auch andernorts – so in Europa – nicht anders, bevorzugten jedoch die Covid-Hilfen der Regierungen zur Wiederbelebung der Wirtschaft die Großbetriebe – das gilt insbesondere für Peru, aber auch in den anderen Andenländern mit Ausnahme Chiles. Die meisten der formellen und nahezu alle informellen Kleinst-, Klein und mittelständischen Betriebe jedoch gehen leer aus. Viele werden nicht nur kurzfristig vor der Pleite gehen, sondern sich auch längerfristig nicht wieder so rasch erholen. Deshalb werden Arbeitsplätze in Masse wegbrechen -im formellen Sektor sowieso aber eben auch im fürs nackte Überleben mancher Familien existenziell wichtigen informellen Sektor.

Die sich abzeichnende Wirtschafts- und Beschäftigungskrise wird die Lebensbedingungen der Massen negativ beeinträchtigen. Eine partielle Rückkehr von Armut wird nahezu zwangsläufig die (Klein-)Kriminalität ansteigen lassen. Aber gerade mit dem ökonomischen Kollaps im informellen Sektor werden auch eine Reihe für die Maßen unverzichtbaren Gemeinschaftsgüter entfallen. Dazu gehören all jene quasi-öffentlichen Güter der Daseinsvorsorge, die in Lateinamerika - anders als in Europa -schwergewichtig durch private Kartelle, Clans und Großfamilien hergestellt werden – von lokaler Energie- und Wasserversorgung, Verkehrs- und Transportangebote bis zu Gesundheits-, Bildungs- und Sicherheitsdienstleistungen. Als Folge dürfte sich das Niveau des alltäglichen Lebens, der Sicherheit und der Grundversorgung in naher Zukunft dramatisch verschlechtern.

Absehbar ist, dass grassierende Armut und Kriminalität bei gleichzeitig implodierender Qualität öffentliche Daseinsvorsorge bis weit in Mittelschicht und Mittelstand militante Forderungen nach radikalen Richtungswechseln provozieren wird. Rufe nach einer Politik der starken Hand und einer machtvollen Regierung dürften lauter werden. Selbst wenn die historische Erfahrung Lateinamerikas offenbart, dass Staatswirtschaft mehr Probleme verursacht als löst, schwingt das Pendel in Richtung mehr Macht dem Staat und weniger Freiheit für Einzelne.

Weder Populisten noch Sozialisten haben es vermocht, für eine bessere Politik, weniger Korruption und mehr Teilhabe der Massen zu sorgen – im Gegenteil. Die Ungleichheit bleibt die Geißel Lateinamerikas. Nirgendwo sonst auf der Welt ist der Reichtum ungleicher verteilt als in Lateinamerika. Wenige Wohlhabende haben einen größeren Anteil am Vermögen und viele Arme einen geringeren als sonst wo. Viele Gründe erklären die Ungleichverteilung des Wohlstandes in Lateinamerika. Der wichtigste ist die fehlende Rechtsstaatlichkeit. Sie aber wird eben gerade nicht von Populisten gesichert, sondern muss und müsste von starken Bürgergesellschaften erkämpft werden.

Die Tragik Lateinamerikas wird somit durch Covid-19 gleichermaßen offenbart wie verstärkt. Von Venezuela im Norden bis Brasilien im Süden zeigt sich, dass autoritäre Regierungen auf dem Vormarsch und individuelle Freiheitsrechte gefährdet werden. Aber weder linke noch rechte Ideologie haben brauchbare Strategien anzubieten – nicht für den Kampf gegen die Pandemie und auch nicht für die immensen Folgekosten von Lockdowns und Isolationsstrategien. Dennoch suchen die Massen die Lösung der wachsenden Probleme in einer Stärkung der Staats- und einer Schwächung der Marktwirtschaft.

Als Folge von Coivd-19 droht Lateinamerika somit nicht nur eine Dekade zurückgeworfen zu werden (wie es die nackten Daten offenbaren). Vielmehr droht ein weit dramatischer Absturz. Das ist nicht nur für die Betroffenen eine Tragödie. Es ist auch für Europa keine Bagatelle. Denn wie immer man Geschichte dreht und wendet, war, ist und bleibt Lateinamerika ein europäischer Sprössling. Er hätte mehr verdient (auch im Selbstinteresse Europas) als ein vielleicht bedauerndes, letztlich aber folgeloses Schulterzucken