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Wirtschaft
Gegen den Strom: Warum junge Marokkaner lieber bleiben als zu gehen

Im Gespräch mit jungen Gründern in Marokko
Marokko
© picture alliance / AA | Jalal Morchidi

Junge Menschen in Marokko wachsen häufig mit dem Wunsch auf, auszuwandern, in ein anderes Land zu gehen, auf der Suche nach besseren Möglichkeiten, sozialer Sicherheit und einem Gefühl von Freiheit. Dem Umfrageinstitut Arab Barometer zufolge möchten fast 70 % der Marokkaner unter 30 Jahren das Land verlassen. Tatsächlich liegt Marokko auf dem Index der Abwanderung von Menschen und Humankapital auf einem beeindruckenden 23. Platz von 177 untersuchten Ländern, obwohl es im nordafrikanischen Königreich weder Krieg noch politische Instabilität gibt. Ohne strenge Grenzkontrollen und harte Visabestimmungen würde Marokko vermutlich eine ganze Generation junger und vielversprechender Köpfe verlieren.

Doch nicht alle jungen Marokkaner wollen auswandern. Eine kleine, aber entschlossene Gruppe junger Gründerinnen und Gründer hat beschlossen, ihre Zeit und Energie in gesellschaftliches Engagement und Unternehmertum zu investieren und andere dazu zu inspirieren, es ihnen gleich zu tun. In diesem Artikel kommen einige dieser jungen Frauen und Männer zu Wort und teilen ihre Ansichten darüber, weshalb ihre Altersgenossen auswandern, warum sie selbst es nicht tun und was sie sich von ihrer Zukunft in Marokko erhoffen.

Europa als der Himmel

"Wir werden mit der Idee der Migration geboren, also haben wir nicht wirklich dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu unserem Land", sagt Hind (26), Wirtschaftsstudentin und Aktivistin für Frauenrechte. Stattdessen herrsche der weit verbreitete Glaube vor, dass Europa ein Paradies der Möglichkeiten sei, in dem alles einfach wird. Hakim*[1], Sozialunternehmer, teilt diese Ansicht. Er erklärt, dass der Wunsch, das Land zu verlassen, aus der kulturellen Mentalität und dem Gruppenzwang der Jugendlichen in Marokko resultiert. "Von Geburt an hören sie, Spanien sei der Himmel, Frankreich sei der Himmel, Europa sei der Himmel."

Was ist es also, das Europa in den Augen und Köpfen dieser Jugendlichen hat, was Marokko fehlt? Wie konnte sich der Wunsch zu migrieren in der marokkanischen Kultur so stark verfestigen? Eine der bekannten Triebfedern, die von allen jungen Marokkanern während unserer Gespräche genannt wurde, sind die schlechten wirtschaftlichen Aussichten. Die Arbeitslosenquote unter jungen Menschen in der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas (MENA) ist die höchste weltweit, und ein Universitätsabschluss verbessert die Chancen kaum. Diejenigen, die in Marokko einen Job finden, müssen sich mit einem Mindestlohn von 300€ pro Monat begnügen, während Studenten mit Hochschulabschluss in der Regel zwischen  400 und  600€ verdienen. Um das zu relativieren, sagt Hind: "Der Mindestlohn eines Marokkaners heute entspricht dem eines Franzosen im Jahr 1950“.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass junge Marokkaner ihre Chancen anderswo suchen. Vor allem, wenn sie in den sozialen Medien ständig Bilder von überbordendem Konsum, Popkultur und den scheinbar unbegrenzten Freiheiten der globalisierten Welt sehen. Außerdem gibt es bei denjenigen, die aus ärmeren Familien stammen, einen starken Wunsch und Druck, "ihre Eltern zu retten", wie Ihsane (20), Studentin der englischen Literatur und engagierte Menschenrechtsaktivistin, erklärt: "Manche Leute würden illegal auswandern und jede Art von Arbeit annehmen, nur um etwas Geld sparen und es ihren Familien, vor allem den Müttern, schicken zu können".

Die Aussicht auf bessere soziale Absicherung ist ein weiterer Faktor, der junge Erwachsene zum Auswandern motiviert. Wenn es um Gesundheitsversorgung, Rente und Altenpflege geht, sind viele Marokkaner in Ermangelung einer Sozialversicherung auf ihre Familienmitglieder angewiesen. Und selbst wenn soziale Einrichtungen vorhanden sind, wirkt die weit verbreitete Korruption als Hindernis. Hakim behauptet, dass die Korruption so tief in die Kultur eingedrungen sei, dass viele junge Marokkaner das Zahlen von Bestechungsgeld als Zeichen von Intelligenz und Verständnis für die Funktionsweise des Systems ansehen. Dieser Gedanke beunruhigt ihn, denn: "In den Köpfen der marokkanischen Jugend ist es jetzt dein Problem, wenn du kein Geld hast. Es ist nicht das Problem des Systems."

Mohammed (26), sozial engagierter Künstler und Gründer des in allen Kunstformen tätigen Vereins The Olive Writers, ist wahrscheinlich einer der wenigen jungen Marokkaner, die die Beschränkungen der Reisefreiheit als Segen empfinden. Er glaubt, wenn es einfacher wäre auszuwandern, bliebe niemand mehr im Lande. "Und wenn sie mehr Zeit haben, können sie vielleicht irgendwann etwas erreichen oder etwas aus ihrem Leben machen, das sie zum Bleiben bewegen wird.“ Er räumt jedoch ein, dass es auch beunruhigend sei, wenn Menschen blieben, die gar keine Motivation zum Bleiben hätten.

"Niemand will um des Weggehens willen gehen", betont Mohammed. Es ist eine komplizierte Mischung aus fehlender sozialer Sicherheit und begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten, gepaart mit mangelndem Zugehörigkeitsgefühl, Gruppenzwang und Auswanderungsmentalität, die den Wunsch junger Marokkaner hervorruft, ihr Heimatland zu verlassen. Ein Heimatland, das auf eine unglaublich reiche Geschichte kultureller Vielfalt, Toleranz und einer florierenden Wirtschaft zurückblicken kann - etwas, das die engagierten Menschen, mit denen wir gesprochen haben, nicht aufgegeben wollen.

Viel Hilfe, aber versteckt im bürokratischen Dschungel

Die marokkanische Regierung hat verschiedene Programme ins Lebens gerufen, um die Migration einzudämmen, darunter verschiedene Maßnahmen zur Förderung der wirtschaftlichen Eingliederung junger Menschen, die Einführung eines "Jugendpasses", der jungen Marokkanern einen vergünstigten Zugang zu kulturellen Einrichtungen ermöglicht, niedrige Zinssätze für Kleinunternehmer, Initiativen zur Förderung und zum Schutz der Rechte von Frauen und die Unterzeichnung von Vereinbarungen mit Partnern zur Förderung der Bildung. Doch trotz dieser Bemühungen sind viele junge Marokkaner weiterhin arbeitslos und fühlen sich ausgegrenzt. Unsere Gesprächspartner erklären, warum und beziehen sich dabei auf ihre eigenen Erfahrungen bei der Gründung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder Unternehmen.

Obwohl sie selbst beschlossen haben zu bleiben und ihren Altersgenossen als Beispiel dienen möchten, geben sie zu, dass der Start als Unternehmer oder Vereinsgründer in Marokko eine entmutigende Aufgabe sein kann. Wenige haben jemals gelernt, wie man ein Unternehmen oder einen Verein gründet oder sind darauf vorbereiten, wie mühsam und langwierig der Prozess zur Beantragung von öffentlichen Fördermitteln ist. Viele zögern deshalb, ein Unternehmen oder eine NGO zu gründen. Hinzu kommt, dass viele junge Marokkaner wenig Vertrauen in das politische System ihres Landes setzen, in welchem sie ohnehin massiv unterrepräsentiert sind. Systemische Korruption und die Risiken, die mit freier Meinungsäußerung einhergehen, haben zu einer allgemeinen Politikverdrossenheit und Desillusion beigetragen. Viele junge Marokkaner positionieren sich daher lieber erst gar nicht öffentlich zu gesellschaftlichen Themen. "Politik ist ein schmutziges Spiel. Wir wissen, dass Menschen dort verletzt werden können", erklärt Hind.

Diejenigen, die trotzdem Mut und Motivation finden, sich kritisch zu äußern und für gesellschaftliche Reformen einzusetzen, tun dies nicht selten im Bereich der Kunst und der Kultur. Doch besonders Künstler haben in Marokko oft Mühe, über die Runden zu kommen. Der Kunst- und Kultursektor wird von der Regierung immer noch als nicht vorrangiger Bereich betrachtet, was es für Gründer und Selbständige in dieser Branche schwierig macht, finanzielle Unterstützung zu erhalten. Infolgedessen sind viele Kunst- und Kulturvereine auf ausländische Mittel angewiesen, sei es durch internationale Fonds aus dem Ausland oder durch Unterstützung von internationalen Organisationen und Botschaften in Marokko. "Wir sind auf uns selbst angewiesen, um zu lernen, um Netzwerke aufzubauen und um das zu tun, was wir tun", sagt Mohammed.

Ein gemeinsamer Wunsch der Befragten ist, dass die marokkanische Regierung das Bildungssystem umgestaltet, um Unternehmertum, Kreativität und eine offene Denkweise zu fördern. Die Ausbildung von Lehrern und Professoren wäre ein erster Schritt. "Die Schüler werden in der Schule in ihrer Persönlichkeit geformt und geschärft. Investieren wir also in den Lehrer", sagt Ihsane. Ibrahim* (36), der nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt nach Marokko zurückgekehrt ist und dabei ist, sich als Kreativunternehmer selbstständig zu machen, merkt zu Recht an, dass es keine praktikable Lösung ist, einfach ein System aus einem anderen Land zu kopieren. "Wir müssen über den Tellerrand schauen und eine neue Strategie für die marokkanische Mentalität und Kultur entwickeln."

Um jungen Unternehmern zu helfen, könnte die Regierung in einem ersten Schritt ein früheres Programm wiedereinführen, das Kleinunternehmern grundsätzlich einen Steuersatz von nur 1 % abverlangt. Leider hat die neue Regierung vor kurzem ein Finanzgesetz verabschiedet, das diese Regelung ändert und Start-ups einem viel höheren Steuersatz von 30 % unterwirft, sobald sie einen Umsatz von € 8.000 überschreiten. "Das ist eine sehr niedrige Grenze; damit werden nur die großen Fische geschützt".

Was die Unterstützung durch ausländische Geldgeber und internationale Organisationen betrifft, so äußerten alle Befragten ihre große Wertschätzung dafür, dass sie die von ihrer Regierung hinterlassene Lücke schließen und Möglichkeiten für Basisinitiativen bieten. Sie sind jedoch auch der Meinung, dass noch mehr getan werden kann. Denn wie Mohammed betont, stellen Geldgeber zwar finanzielle Mittel für Projekte zur Verfügung, decken aber oft nicht die Kosten für die Menschen, die die Arbeit leisten. "Sie haben sechs Leute, die unermüdlich daran arbeiten, dieses Projekt zu verwirklichen. Und am Ende des Tages ist das Einkommen, das sie bekommen, so gering, dass es nicht zum Überleben reicht."

„Alle Voraussetzungen, um ein wirklich starkes Land zu werden“

Ali (23), der an verschiedenen Unternehmerprogrammen internationaler Organisationen teilgenommen hat und jetzt mit seinem Startup Train Up unermüdlich an der Veränderung des Bildungssystems arbeitet, hat die Erfahrung gemacht, dass sich die meisten Programme nur auf die Grundlagen der Unternehmensgründung konzentrieren. Nach Abschluss dieser Programme sind die Gründer auf sich allein gestellt, um sich in dem komplexen rechtlichen und finanziellen System Marokkos zurechtzufinden. Als Lösung würde er es lieber sehen, wenn Organisationen langfristig Mentoren bereitstellen und dabei bewährte Verfahren aus ihrem Land übernehmen und an den marokkanischen Kontext anpassen würden.

Allerdings sind nicht alle Bemühungen der Regierung vergeblich. Obwohl die Veränderungen gering sind, weisen mehrere unserer Gesprächspartner darauf hin, dass die Zahl der Programme und Möglichkeiten für Unternehmer in den letzten Jahren zugenommen hat. Darüber hinaus kündigte die marokkanische Regierung an, im Jahr 2021 mehr als 300 Mio. Euro für die Förderung von Beschäftigung und unternehmerischen Initiativen bereitzustellen. Obwohl sie den Mindestlohn und das anhaltende geschlechtsspezifische Lohngefälle kritisiert, bleibt Hind deshalb optimistisch, was die erzielten Fortschritte angeht. "Nun, Marokko ist Mitglied der Vereinten Nationen, und die Regierung hat viele Abkommen zur Verbesserung der Rechte und der Entwicklung unterzeichnet. Sie funktionieren."

Und auch die anderen sehen das Potenzial für einen positiven Wandel. "Ich vergleiche Marokko immer mit Australien, wo ich gelebt habe. Wir haben Landwirtschaft, wir haben Minen, wir haben zwei Ozeane, wir haben Landwirtschaft. Wir haben also alle Voraussetzungen, um ein wirklich starkes Land im Norden Afrikas zu werden", erklärt Ibrahim. Zusammen mit einer besseren Unterstützung durch das Ausland und die Regierung sollte sich die Einstellung der marokkanischen Jugend ändern. Für den Anfang hat Ihsane eine klare Botschaft an ihre Altersgenossen: "Ihr könnt erfolgreich werden, glaubt nicht an die Mythen und Stereotypen im Land, denn wir verändern uns ständig und die Möglichkeiten sind da, ihr müsst sie nur finden und an euch arbeiten."

Ronja Bossen ist Masterstudentin in Konfliktstudien und Menschenrechten an der Universität Utrecht und Fellow der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Marokko.

[1] Mit einem Sternchen markierte Namen wurden geändert, weil die jeweiligen Interviewpartner lieber anonym bleiben möchten.

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