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Wirtschaft und Krise
Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf Lateinamerika

Populismus und Polarisierung bedrohen Lateinamerikas Wirtschaft
Demonstration für soziale Gerechtigkeit, Asuncion, Paraguay, Südamerika

Demonstration für soziale Gerechtigkeit, Asuncion, Paraguay, Südamerika

© picture alliance / imageBROKER | Heiner Heine

Wenig optimistische Prognose für 2023: lediglich 1,7% Wirtschaftswachstum

Lateinamerika und die Karibik erwarten in diesem Jahr ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 3,5 %, wie der jüngste regionale Wirtschaftsausblick im Oktober vom IWF veröffentlicht, informiert. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine große Heterogenität: Die erdölexportierenden Länder in der Region werden im Jahr 2022 erhebliche Zuwächse verzeichnen. So wird Kolumbien im laufenden Jahr durchaus eine Wachstumsrate von 7,6 % erzielen können, während das erwartete Wachstum in Südamerika durchschnittlich weniger als die Hälfte betragen wird (3,6 %). Für das Jahr 2023 ist die Prognose für die Region mit lediglich 1,7 % geschätztem Wachstum weniger optimistisch.[1]

Verstärkte Polarisierung in der Region

Die negativen Aussichten für das Jahr 2023 sind auf eine Kombination interner und externer Faktoren zurückzuführen: Innenpolitisch sind viele lateinamerikanischen Länder mit komplexen politischen Szenarien und einer verstärkten Polarisierung konfrontiert. So hat beispielsweise der gescheiterte und kürzlich wieder aufgenommene chilenische Verfassungsreformprozess die Unsicherheit für Unternehmen erhöht, weshalb der IWF für das Andenland ein negatives Wachstum von -1% Bruttoinlandsprodukt für das Jahr 2023 prognostiziert.[2]

Erneute Unruhen nach Unterbrechung durch die Covid-19-Pandemie

Die Unzufriedenheit und das schwindende Vertrauen der Gesellschaft in Politik und in demokratische Institutionen drückte sich in vielen Ländern der Region in den letzten Monaten in wiederkehrenden (zum Teil gewaltsamen) Unruhen und Streiks aus. Hintergründe waren u.a. die Prekarisierung der Beschäftigung nach der Pandemie, eine chronisch defizitäre Lage der Rechtsstaatlichkeit sowie die – letztlich globale – Inflationswelle, die die Kraftstoff-, Energie- und Lebensmittelpreise stark erhöhte.

Auf der außenwirtschaftlichen Seite belasten die höheren Zinssätze aufgrund der restriktiven Geldpolitik der Zentralbanken die öffentlichen Haushalte. In diesem Szenario ist die Verabschiedung von Steuerreformen unerlässlich. Die technische Gestaltung wird aber oftmals zugunsten populistischer Ideen geopfert: Die in Kolumbien diskutierte Steuerreform, die eine Abgabe auf Kapitalströme vorsieht, hat zu massiver Kapitalflucht und einer weiteren Abwertung des kolumbianischen Peso geführt, der in den letzten zwölf Monaten nahezu 30%[3] seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren hat.[4]

Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise haben nur begrenzten Erfolg

Der Wirtschaftskrise in Lateinamerika wurde durch eine Kombination aus traditionellen und unorthodoxen Maßnahmen begegnet: Um Inflationsraten von bis zu 10% zu bekämpfen, haben die Zentralbanken in der Region die Zinssätze auf breiter Front erhöht – oftmals deutlich bevor in den Industrieländern mit Maßnahmen begonnen wurde, um Kapitalflucht zu verhindern. Auf der fiskalischen Seite wurde die Erhöhung der Staatsausgaben durch eine wachsende Staatsverschuldung, höhere Zinssätze und einem stärkeren Dollar begrenzt. In den meisten Ländern werden Steuerreformen diskutiert, die ein Schlüsselelement der laufenden oder kürzlich abgeschlossenen politisch stark polarisierenden Wahlkämpfe sind. Was unorthodoxe Programme angeht, so haben die Regierungen direkte Subventionen für Energie-, Transport und Lebensmittelpreise, Umsatzsteuersenkungen für sensible Produktpreise, Stabilisierungsfonds, Preiskontrollen und Maßnahmen für einen zunehmenden Ressourcennationalismus (z.B. Lithium in Bolivien und Mexiko) eingesetzt. Diese Maßnahmen haben nur einen sehr begrenzten Erfolg bei der Bewältigung der Probleme gezeigt und steigern das Risiko für zukünftige Krisen.

20 Millionen Menschen in Lateinamerika nach der Pandemie in Armut geraten

Die derzeitige Wirtschafts- und Inflationskrise hat die Erholung von der COVID-19-Krise noch schwieriger gemacht: Insbesondere die steigenden Energie- und Lebensmittelkosten haben in den lateinamerikanischen Entwicklungs- und Schwellenländern mit fast 48,8% einen hohen Anteil im Warenkorb der Haushalte (im Vergleich zu entwickelten Ländern: Europa mit 26,2%).[5] Es wird geschätzt, dass rund 20 Millionen Menschen in Lateinamerika nach der Pandemie in Armut geraten sind und dass nur 7 Millionen hiervon bis Ende 2022 wieder ein Einkommen über der Armutsgrenze erzielen werden.[6] Die strengen Lockdown-Maßnahmen führten zu erheblichen Produktionseinbußen und einem Anstieg der Armut, in Peru bspw. um über 13 Prozentpunkte (Armutsgrenze: 6,85 USD pro Tag), im Jahr 2020.[7]

Strukturelle Probleme und Ausblick

Auch wenn sich die wirtschaftliche Situation nach Aufhebung teilweise sehr strenger Lockdown-Maßnahmen erholt, haben sich strukturelle Probleme wie soziale Ungleichheit und Armut sowie vielfältige Herausforderungen im Sozial, Gesundheits- und Bildungssektor in der Region nach der Pandemie verschärft. Der ehemalige peruanische Bildungsminister und aktuelle Direktor für Bildung bei der Weltbank, Jaime Saaverdra, betont eindringlich die Gefahr, „dass sich die junge Generation nicht zu einer verlorenen Generation entwickeln darf. Peru hat mit zwei Jahren eine der längsten Schulschließungen der Welt hinter sich und die Lernverluste bei 80% der Schülerinnen und Schüler sind enorm.“[8] In anderen Ländern sieht es ähnlich aus. 

Bei dem Ausblick einer politisch und wirtschaftlich unsicheren Zukunft aufgrund eines geringen Wirtschaftswachstums und der bisher eingeschränkten Fähigkeit in der Region, eine ausgleichende Steuerpolitik zu fördern, spielen die Stärkung von Institutionen durch engagierte, gut ausgebildete und mutige Bürgerinnen und Bürger und der Zugang sowie die Qualitätssteigerung auf allen Ebenen des Bildungssystems eine Schlüsselrolle. Die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit für eine schnellere Erholung der Wirtschaft und die Mobilisierung des Potenzials zur Förderung eines integrativen, nachhaltigen Wachstums in der Region sind maßgeblich, um die Stärkung von politischen Außenseitern und Populisten zu vermeiden, was ansonsten zu einer weiteren Verschärfung der institutionellen Krise führen könnte.

Niome Hüneke-Brown ist Projektassistentin für Lateinamerika im Regionalbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Mexiko-Stadt.