EN

Wissenschaft
Wissenschaftlerinnen auf den Sockel

Denkmal Lise Meitner an der Humboldt-Universität in Berlin
Denkmal Lise Meitner an der Humboldt-Universität in Berlin © picture alliance / Bildagentur-online/Schoening | Bildagentur-online/Schoening

Wer den Ehrenhof der Humboldt-Universität in Berlin betreten möchte, muss zuerst an zwei Männern aus Marmor vorbei. Nach den mächtigen Statuen von Alexander und Wilhelm von Humboldt folgen im Innenhof gleich eine ganze Reihe weiterer Standbilder, darunter die von Eilhard Mitscherlich, Hermann von Helmholtz und Theodor Mommsen. Geradezu schmächtig mutet dagegen das einzige Denkmal einer Frau an – das Bildnis der Physikerin Lise Meitner(1878-1968) wurde zudem erst im Juli 2014 eingeweiht. Die Botschaft, die die Künstlerin Anna Franziska Schwarzbach mit dem breiten schwarzen Sockel aussenden wollte, könnte auch als Erklärung zum heutigen Internationalen Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft dienen. „Hervorragende Frauen wurden kaum auf Sockel gehoben. Wie schwer muss es für eine Frau gewesen sein, wissenschaftlich zu arbeiten, wie viel schwerer noch, wissenschaftlich geachtet zu werden“, erklärte Schwarzbach anlässlich der Einweihung des Meitner-Denkmals: „Dies brachte mich auf die Idee, den Sockel möglichst breit zu machen, um der vielen ‚Nichtaufgesockelten‘ gedenken zu können.“

Der Internationale Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft wurde 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen ins Leben gerufen, „um die volle und gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Mädchen an allgemeiner und beruflicher Bildung, Beschäftigung und Entscheidungsprozessen in den Wissenschaften zu fördern, jede Diskriminierung der Frauen zu beseitigen, namentlich im Bereich Bildung und Beschäftigung, und diesbezügliche rechtliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Barrieren zu überwinden.“ Der Lebenslauf und das späte Denkmal für Lise Meitner stehen dabei stellvertretend für den weiten Weg zu diesem Ziel. Meitner machte das Abitur, ohne ein Gymnasium besuchen zu dürfen, war erst die zweite Österreicherin mit einem Doktortitel in Physik und die erste Frau in Deutschland, die eine venia legendi in Physik erhielt. Trotzdem avancierte sie zu einer der führenden Kernphysikerinnen der Welt – dass nicht sie, sondern ausschließlich ihr Ko-Wissenschaftler Otto Hahn den Nobelpreis für die Entdeckung der Kernspaltung erhielt, gehört zu den großen Ungerechtigkeiten der Wissenschaftsgeschichte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Meitner freilich nicht nur als Frau, sondern auch als Jüdin schwer unter Diskriminierung zu leiden – 1938 wurde sie aus Deutschland vertrieben.

Im Vergleich zu Lise Meitner gestaltet sich die Situation von Frauen und Mädchen in der Wissenschaft heute deutlich besser – aber allein die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan zeigt, wie schnell einmal erreichte Fortschritte wieder verloren gehen können. Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass auch an anderen Orten noch viel zu tun ist. Weltweit sind Frauen als Wissenschaftler in der Minderheit, 2016 betrug der Anteil an Frauen in der Wissenschaft gerade einmal 29,3%. In Europa sind lediglich in Nordmazedonien, Lettland und Litauen Frauen in der Mehrheit.

In Deutschland ist der Frauenanteil unter den Studierenden immerhin kontinuierlich gestiegen. 2002 waren es noch 47,4%, 2010 waren es 47,8% und 2021 erstmal über die Hälfte. Im weiteren Verlauf der akademischen Karriere verringert sich der Frauenanteil dagegen erheblich. Unter den Promovenden betrug der Anteil der Frauen 2020 nur 45,1%, der Anteil der Habilitandinnen lag nur noch bei 35,1% und unter den C4-Professoren waren nur 11,6% Frauen. Besonders gravierend stellen sich die Unterschiede in den MINT-Fächern dar. Weltweit sind beispielsweise nur 22% der KI-Wissenschaftler Frauen. Wenn man berücksichtigt, dass es sich gerade bei der Künstlichen Intelligenz um eine Zukunftstechnologie handelt, die nicht zuletzt das ökonomische Gleichgewicht beeinflussen wird, zeigt sich, wie sehr Wissenschaftsteilhabe auch eine (wirtschaftliche) Machtfrage ist.

Die ursprüngliche UN-Resolution schlug „Bildungs- und Sensiblisierungsmaßnahmen“ vor und empfahl „die Entwicklung von bildungspolitischen Maßnahmen und Bildungsprogrammen, gegebenenfalls auch Schullehrplänen“. Das ist sicherlich nicht falsch, ebenso wenig wie die Social Media-Kacheln der Vereinten Nationen– ausreichend ist das allerdings noch nicht. Für einen wirklichen Wandel braucht es das Bewusstsein, dass ein ganzheitlicher Blick notwendig ist. Vom Rollenverständnis, das Kindern vermittelt wird, über die Bekämpfung von Sexismus bis hin zu einer modernen Führungskultur ist der Weg teils noch sehr weit. Außerdem lohnt sich ein Blick darauf, was Forscherinnen wie Meitner selbst zu dem Thema zu sagen haben. In einem sehr lesenswerten Vortrag vor  Studentinnen des Bryn Mawr College 1960 bemängelte Meitner, dass „wenn wir nach männlichen Befürwortern der höheren Bildung von Frauen und ihrer beruflichen Gleichstellung mit Männern suchen, es bemerkenswert ist, wie wenige Männer von allgemeinem Ruf wir finden“. Sie schlug gleichzeitig den großen Bogen von ungerechten Arbeitsbedingungen, der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bis hin zum Problem der Halbtagsstellen.[1] Und nicht zuletzt am Schlusssatz zeigt sich Meitners bleibende Aktualität:

“Wir können den Wert und die Notwendigkeit der akademischen Bildung der Frau für sich selbst, für die Familie und für die Menschheit nicht mehr bezweifeln. Lassen Sie mich mit den Worten von Matthew Vassar, dem Gründer des Vassar College, aus dem Jahr 1865 schließen: ‚Eine Frau, die von ihrem Schöpfer die gleiche intellektuelle Konstitution wie ein Mann erhalten hat, sollte die gleichen Rechte wie der Mann auf geistige Kultur und Entwicklung haben.‘“[2]

Im Ehrenhof der Humboldt-Universität ist auf jeden Fall noch sehr viel Platz für die Statuen von Wissenschaftlerinnen.

 

[1] “when we look for male supporters of the higher education of women and of their professional equality with men, then it is remarkable how few men of general reputation we find”

[2] „We can no longer doubt the value and indeed necessity of woman's intellectual education, for herself, for the family, and for mankind. Let me conclude with the words of Matthew Vassar, founder of Vassar College, spoken in 1865: ‘A woman having received from her Creator the same intellectual constitution as a man, should have the same rights as man to intellectual culture and development.`’”