Zwei-plus-Vier-Vertrag
„Sternstunde der Diplomatie“ - 35 Jahre Zwei-plus-Vier-Vertrag
Es erscheint wie ein Wunder – das erfolgreiche Ringen um Freiheit, das Ende des sozialistischen, SED-regierten Staates und der Wiedergewinn der Einheit. Was schon für die Menschen vor 35 Jahren eine unerwartete weltpolitische Wende war, wirkt angesichts der aktuellen Konflikte und Infragestellung der „westlichen Ideenwelt“ aus heutiger Sicht noch viel erstaunlicher.
Die gespaltene Nation wurde unter freiheitlich-demokratischen Vorzeichen wiedervereint und souverän. Und nicht nur das: Deutschland behielt seine gewachsenen Bindungen an den Westen und stand zugleich im Zentrum einer neuen Friedens- und Sicherheitsarchitektur für Europa. Gerade Letzteres war ein absolutes Novum, galt doch der deutsche Nationalstaat im 19. und 20. Jahrhundert in den Augen vieler als europäischer, ja globaler Unruheherd. Deshalb hatten die Wenigsten damit gerechnet, dass „eine Vereinigung Deutschlands zu westlichen Maximalkonditionen“ (Andreas Rödder) möglich sein würde.
Einer allerdings schon: Bereits Mitte der 1960er Jahre entwickelte der Liberale Hans-Dietrich Genscher ein Konzept, das auf eine konsequente Europäisierung der deutschen Frage hinauslief. Seitdem galt für ihn, was er als zentrale Botschaft bei seinem ersten öffentlichen Auftritt in seiner Hallenser Heimat formulierte: „Europa ist unsere Chance. Eine andere haben wir Deutsche nicht.“ Als Außenminister seit 1974 suchte er dieses Konzept mehrgleisig umsetzen, zum einen durch die Vertiefung der damals noch westeuropäischen Gemeinschaft. Zum anderen setzte er die Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock unbeirrt fort und konnte so nicht nur geschickt mit der Sowjetunion verhandeln, sondern vor allem auch bei den kleineren osteuropäischen Staaten Vertrauen aufbauen.
Möglicherweise wäre auch Genschers Beharrlichkeit und Findigkeit an den tiefen Gräben im Kalten Krieg zwischen Ost und West gescheitert, wenn ihm nicht ein tiefgreifender Politikwechsel in Moskau zu Hilfe gekommen wäre. Schneller als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl erkannte der deutsche Außenminister die Chancen für Deutschland und Europa, die durch das Auftreten des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow gegeben waren. Durch diesen änderte sich Ende der 1980er Jahre die weltpolitische Konstellation grundlegend: Endlich bot sich die einmalige Möglichkeit, die deutsche Einheit im Rahmen gesamteuropäischer Freiheit zu verwirklichen.
Natürlich wollte nicht nur Hans-Dietrich Genscher die Gunst der Stunde nutzen, ihm kamen aber in der sich hektisch und dramatisch verändernden Szenerie von 1989/90 – auch im Vergleich zum manchmal außenpolitisch unglücklich agierenden Kanzler – seine diplomatische Erfahrung und das große persönliche Vertrauenskapital zugute, das er in vielen Staaten genoss. Die Idee zu den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ging auf ihn und seine Berater zurück. Die Pointe dieses Formats und der griffigen Formel lagen in der Konzentration der Verhandlungsbeteiligten auf die entscheidenden Akteure: Die Beschränkung auf die beiden deutschen Regierungen und die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs verbürgten den Erfolg, denn so konnten unvermeidliche Querschüsse, die es zahlreich gab, in ihrer Wirkung gemindert werden; überdies verhinderte es Verzögerungen durch eine „große“ Friedenskonferenz. Zugleich sorgte Genscher aber durch Garantiezusagen für die bestehenden Grenzen dafür, dass sich die kleineren europäischen Nationen, insbesondere Polen, nicht „ausgegrenzt“ fühlten. Hilfreich war natürlich, dass die USA diesen von Genscher in Bonn maßgeblich durchgesetzten Kurs rückhaltlos unterstützten, weshalb manches Zögern in London und Paris nicht zum Tragen kam. Sowjetische Bedenken wurden wiederum durch sehr weitgehende finanzielle und wirtschaftliche Zugeständnisse überwunden.
So konnte Hans-Dietrich Genscher schon nach viermonatigen Verhandlungen am 12. September 1990 in Moskau gemeinsam mit seinen fünf Amtskollegen einen Vertrag unterzeichnen, mit dem der Zweite Weltkrieg endgültig beendet und die europäischen Verhältnisse auf eine völlig neue Basis gestellt wurden. Flankiert wurde er durch weitere bilaterale Abkommen Deutschlands mit Polen und der Sowjetunion, wo es jeweils die stärkste Skepsis gegenüber den vereinten Deutschen gegeben hatte. Mit der im November 1990 folgenden „Charta von Paris“ sicherten dann 32 europäische Länder, Kanada und die USA vertraglich die freiheitliche und friedliche Einheit des europäischen Kontinents. Sie erklärten die Menschenrechte zur Grundlage des vereinten Europas und die Demokratie zur gewünschten Regierungsform. Nicht zufällig assoziierte man dieses Dokument mit der historischen „Magna Charta“ von 1215, mit der in England erstmals Grundrechte allen Bürgern gesichert und die Herrschaftsbeziehungen friedlich geregelt wurden.
Für etliche Jahre gaben der Zwei-plus-Vier-Vertrag sowie die Charta von Paris der internationalen Staatenwelt die Gewähr für Stabilität und ein geregeltes Miteinander. Das Ende dieser Ordnung wurde mit dem Putinschen Systemwechsel auf gewaltsame Weise markiert; es benötigt Gegenwehr und wird dann erneute „Sternstunden der Diplomatie“ brauchen, um eine stabile Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die der neuen Gefahrenlage gerecht wird.