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Italien
Stabile, italienische Verhältnisse

Italian Prime Minister, Mario Draghi
© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Chigi Palace Press Office/Filipp

Auch wenn die italienische Republik in vielen Bereichen nicht so schlecht dasteht, wie sie sich selbst (und die deutsche Presse) oft empfindet – Nachrichten über ein Land im Krisenmodus ist man aus Italien gewohnt. Schuldenberg, Reformstau, politische Instabilität und zuletzt die Coronavirus-Pandemie lasten schwer. Doch im Frühling 2022 blickt Europa mit viel Optimismus nach Italien. Das Land schwimmt seit Beginn 2021 auf einer Erfolgswelle: Im vergangenen Jahr hat Italien fast alles gewonnen, was es zu gewinnen gab: vom Nobelpreis für Physik über dem EM-Titel der „Squadra Azzurra“ und Olympia-Gold im Sprintwettbewerb der Männer bis zum Gewinn des „Eurovision Song Contest“. Im Korruptionswahrnehmungsindex von Amnesty International hat sich Italien verbessert.

Und auch politisch erlebte das Land mit der Amtsübernahme Mario Draghis einen politischen Wendepunkt. Zudem ist seit der Wiederwahl Sergio Mattarellas zum Staatspräsidenten klar: Italien bleibt stabil. Keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem Parteien- und Machtkämpfe seit Jahrzehnten regelmäßig zum Zusammenbruch der Regierung führten. Allzu oft lässt sich eine chronisch zerstrittene, egozentrische Führungsriege von persönlichen Interessen anstelle von Kriterien für das Gemeinwohl leiten. Fast sah es nach einem langwierigen Wahlprozess zum Staatspräsidenten aus, als würde man in alte, lähmende Muster zurückfallen; „das Orchester spielt, während die Titanic sinkt“. Doch wieder einmal riss Italien im Angesicht der Krise das Steuer herum und schaffte es, in letzter Minute politisch handlungsfähig zu bleiben.

Der alte und neue Staatspräsident Mattarella sichert Kontinuität für die Fortführung der Regierung Draghi bis zum Ende der Legislaturperiode 2023. Es wäre Zeit für eine Nachfolgerin im Quirinalspalast gewesen, wie z.B. die pro-europäische Justizministerin Cartabia, Juraprofessorin und ehemaliges Mitglied des italienischen Verfassungsgerichts. Sie wurde von den Liberalen im Parlament gewählt. Die liberalen Parteien Più Europa und Azione befürworteten von Anfang an Draghis Verbleib im Ministerpräsidentenamt, denn sein Abzug hätte eine Regierungskrise auslösen, die Umsetzung von Reformen verzögern, vorgezogene Neuwahlen und einen Rechtsruck bedeuten können. Draghi wurde zwischenzeitlich als ein aussichtsreicher Kandidat gehandelt und wäre mit seiner verbindlichen Art und Ansehen sicherlich auch ein guter Präsident der Republik gewesen, denn italienischen Staatspräsidenten kommt neben repräsentativen Aufgaben in Situationen politischer Instabilität eine zentrale Rolle als stabilisierende Kraft zu.

Dreamteam Mattarella und Draghi

Es war Mattarella, der nach dem Bruch der Conte-Koalition, den früheren Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi beauftragte, ein Expertenkabinett zu bilden, um Stabilität zu garantieren. Der parteilose Technokrat Draghi sollte das Land aus der Coronakrise führen und die Ausarbeitung des Wiederaufbauplans sicherstellen, einer mehrjährigen, detaillierten Verpflichtung zu Investitionen und Reformen, die von jeder Regierung in den nächsten Jahren befolgt werden muss, um Zugang zu EU-Geldern zu erhalten. Italien ist der größte Empfänger der Mittel aus dem Corona- Konjunkturpaket der EU in Höhe von rund 200 Mrd. Euro. Die EU zahlt die Hilfen in Tranchen aus. Damit das Geld fließt, muss detailliert nachgewiesen werden, wie die Gelder investiert und welche Fortschritte dabei gemacht werden. Angesichts der beispiellosen Summe eine einmalige Chance, dass Geld und Reformen zusammenfallen, um das Land zu modernisieren.

„Für die Reformen garantiere ich“, sagte Draghi bei Amtsantritt und hielt Wort. Mit tiefgreifenden Strukturreformen will er fast alle langjährigen Probleme Italiens auf einmal angehen: von der Reform des Steuersystems über Marktliberalisierung bis zur Modernisierung der Verwaltung und Justiz, nachhaltiges Wachstum sicherstellen, digitale und grüne Transformation vorantreiben und der Entwicklung des strukturschwachen Südens mehr Gewicht verleihen. Jüngst drückte er eine Justizreform durch das Parlament, die das notorisch schwerfällige Rechtssystem beschleunigen soll. Die Frührente und das Bürgergeld der populistischen Vorgängerregierungen wurden angepasst. Auch ein Gesetz zur Vereinfachung von Behördengängen, eine Reform der sozialen Sicherungsnetze und der Rente hat er sich vorgenommen.

Die Wirtschaft kommt voran

Die Stimmung in der Wirtschaft ist gut, das Konsum- und Geschäftsklima sind auf Vor-Corona-Niveau. Das Konjunkturprogramm schlägt an. Italien hat mit einem Wirtschaftswachstum im Jahr 2021 von 6,5% viele Prognosen übertroffen. Dies ist laut dem Statistikbüro Istat das höchste Wirtschaftswachstum seit knapp 30 Jahren. Natürlich handelt es sich auch um eine Konjunkturerholung, weil der vorangegangene Abschwung 2020 infolge der Pandemie so dramatisch war (die italienische Wirtschaft schrumpfte um fast neun Prozent) und Italien hat, wie viele andere Staaten, mit Inflation und hohen Energie- und Lebensmittelpreisen zu kämpfen. Eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft ist ausschlaggebend, um die Schuldenspirale zu stoppen. Laut dem IWF dürfte die italienische Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP von 155% auf 150% im Jahr 2022 und 146% im Jahr 2026 sinken. Dem dauerhaften und strukturellen Wachstum verschrieben ist auch der Etatentwurf für 2022, der Steuersenkungen, Investitionen und eine Neuordnung der Sozialausgaben vorsieht, die auf eine höhere Beschäftigungsquote insbesondere von Frauen und jungen Menschen zielt.

Stoisch setzt Draghi unbequeme Entscheidungen durch und organisierte mit Hilfe eines Armeegenerals als Logistikchef eine der erfolgreichsten Impfkampagnen, aber auch die strengsten Maßnahmenpakete in Europa. Mit einer Impfquote von 90% (mindestens 1 Impfdosis) weit über dem europäischen Durchschnitt hat er sein Ziel fast erreicht, Herdenimmunität sicherzustellen. Es gilt eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen und die 2G-Regel in weiten Teilen des öffentlichen Lebens. Wegen sinkender Infektionszahlen wurde zuletzt die Maskenpflicht im Freien aufgehoben. Vermutlich Mitte März könnte es je nach Datenlage zu weiteren Lockerungen kommen und der seit gut zwei Jahren verhängte Ausnahmezustand aufgehoben werden.

Draghis unaufgeregter, verbindlicher Regierungsstil hat Vertrauen und Ansehen im In- und Ausland geschaffen. Das Misstrauen der italienischen Bürger in die Politik sitzt traditionell tief, doch die große Mehrheit unterstützt Draghi. Auch auf europäischer Ebene hat er Italien als glaubwürdigen, verlässlichen Partner rehabilitiert. Draghi besitzt Autorität über Parteigrenzen hinweg. Doch es gibt Anzeichen für Reibereien und Rebellionen innerhalb der riesengroßen Koalition der „nationalen Einheit“ mit völlig unterschiedlichen Parteien, die eigentlich hoffnungslos zerstritten sind.

Die italienischen Liberalen formieren sich neu

Die Kapriolen der italienischen Politik sind für den deutschen Beobachter schwer nachzuvollziehen. Wechselnde Parteizugehörigkeiten und ein Hang zur Personalisierung machen die zersplitterte Parteienlandschaft unübersichtlich und dauerhafte Bündnisse schwer. Nach langen Verhandlungen schlossen sich die beiden liberalen, pro-europäischen Parteien Più Europa und Azione zu einem politischen Bündnis zusammen. Das ist ein wichtiger Schritt, um eine geeinte, reformorientierte liberale Partei zu schaffen, denn den zahlreichen liberalen Kleinstparteien kann es nur vereint gelingen, einen Platz in der politischen Mitte wirkungsvoll zu füllen. Den ersten Stresstest, die Wahl zum Staatspräsidenten, haben sie in engem Austausch und mit der Veröffentlichung einer gemeinsamen Stellungnahme bestanden. Più Europa und Azione verfügen zusammen über drei Abgeordnete in der Abgeordnetenkammer und drei Senatoren. Die neue liberal-demokratische Allianz liegt in Umfragen konstant bei fünf Prozent.

Erklärtes Ziel ist es, bei den nächsten Wahlen mehr als zehn Prozent der Stimmen zu gewinnen. Dafür soll ein gemeinsames Wahlprogramm und Kommunikationsinitiativen erarbeitet und unter Wahrung der jeweiligen Identität und programmatischen Merkmale im Rahmen der Allianz auf nationaler und lokaler Ebene eng zusammengearbeitet werden. Più Europa ist Mitglied der europäischen Liberalen ALDE, die Partei Azione, die sich als liberaler Flügel vom Partito Democratico abgespalten hat, hat einen Aufnahmeantrag gestellt. Die Allianz unterscheidet sich von den derzeitigen Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Koalitionen und stellt sich entschieden gegen den Populismus in Italien. „Es geht jetzt darum, ein gemeinsames Programm auf der Basis gemeinsamer Werte auszuarbeiten“, erklärte Azione-Gründer Carlo Calenda, der zuletzt für das Amt des Bürgermeisters von Rom kandidierte und fast 20% der Stimmen erhielt. „Unser Mandat wird darin bestehen, Populisten und Nationalisten eine Absage zu erteilen. Die Zukunft Italiens hängt davon ab.“ Emma Bonino, ehemalige EU-Kommissarin, italienische Außenministerin und Mitglied von Più Europa, sagte bei der Pressekonferenz: „Noch haben wir die Zahlen nicht, aber wir haben die richtigen Ideen.“ Bleibt zu hoffen, dass Draghis Reformkurs auch nach den nächsten Parlamentswahlen durch die pro-europäischen Kräfte in Italien weiter vorangetrieben werden kann und den Parteien der politischen Mitte neuen Zulauf beschert.

 

Rahel Zibner ist Projektassistentin im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für Spanien, Italien und Portugal mit Sitz in Madrid.