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Krieg in Europa
Putins Machtinstrumente und Aktionsradius müssen eingedämmt werden

Die Eingrenzung des politischen Aktionsradius der russischen Regierung
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Russlands Präsident Wladimir Putin

© picture alliance / abaca | Jacovides Dominique/Pool/ABACA

Dr. Stefanie Babst, ehemalige stellvertretende beigeordnete NATO-Generalsekretärin, spricht mit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit über die Eingrenzung der staatlichen Machtinstrumente Moskaus sowie des politischen Aktionsradius der russischen Regierung.

freiheit.org: Sie haben in einem Ihrer jüngsten Interviews von der Notwendigkeit gesprochen, eine Roll Back-Strategie gegenüber Russland zu entwickeln. Was genau meinen Sie damit?

Babst: Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine befinden sich die westlichen Regierungen in einem politischen Krisenmanagementmodus. Das ist auch verständlich. Sie mussten schnell auf die Ereignisse in der Ukraine reagieren und damit auf eine ganze Vielzahl unterschiedlicher Herausforderungen: von der Koordinierung von Waffenlieferungen über Wirtschaftssanktionen, die Aufnahme von Flüchtlingen bis zur Frage, wie das westliche Bündnis im Zweifelsfall auf den Einsatz russischer Nuklearwaffen reagieren soll. Das alles sind sehr komplexe und schwierige Fragen, die oft unter sehr großem Zeitdruck entschieden werden müssen. Ich bin der Meinung, der Punkt ist nun gekommen, um die wesentlichen Elemente einer längerfristigen, global ausgerichteten und vernetzten Strategie gegenüber dem russischen Regime festzulegen.

Das heißt, Sie erwarten keine Änderungen in Russlands Machtsystem? Präsident Putin sitzt also fest im Sattel?

Es gibt gegenwärtig keinerlei Anzeichen, dass der russische Machtapparat Risse bekommen hat. Präsident Putin kann sich weiterhin auf die wesentlichen Systemstützen verlassen, das heißt die Geheimdienste, die Polizeiapparate und die Streitkräfte. Und die staatliche Propagandamaschine scheint gut zu funktionieren. Wie jüngste russische Umfragen zeigen, trägt die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft Putins Kurs mit und unterstützt den Krieg in der Ukraine. Unsere Grundprämisse muss also lauten, dass wir in Zukunft weder auf eine personelle Veränderung an der Spitze des Kremls noch auf eine irgendwie geartete politische Kursänderung hoffen dürfen. Solange Präsident Putin im Kreml sitzt, wird Russland seine strategischen Ziele mit militärischer Gewalt und brutaler Aggression verfolgen. 

Über die Ukraine hinaus?

Natürlich steht der Krieg in der Ukraine im Mittelpunkt und wird es wahrscheinlich noch eine ganze Zeit tun. Ich gehe davon aus, dass Russland mit aller militärischen Härte versuchen wird, die Donbas-Region und den Küstenstreifen am Asowschen Meer zu erobern und dauerhaft zu besetzen. Aber selbst wenn die Waffen irgendwann einmal schweigen sollten, wird der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ja weiter bestehen bleiben. Im schlimmsten Fall erwartet uns ein Syrien-ähnlicher Dauerkonflikt. Zudem sollten wir nicht vergessen, dass Moskau nach wie vor großes Interesse daran hat, seinen hegemonialen Einfluss in Belarus, Moldawien, Georgien und in der Balkanregion zu verfestigen. Notfalls mit militärischer Gewalt; auf jeden Fall aber mit hybriden Erpressungs- und Manipulationsmethoden. Und wir, der Westen, insbesondere die NATO, stellen in Putins Augen eine fundamentale Bedrohung russischer Interessen in Europa dar.

Wie könnte Russlands Einfluss denn in Zukunft zurückgedrängt werden? Mit weiteren Wirtschaftssanktionen gegenüber Moskau und mehr Waffenlieferungen für die Ukraine?

Eine ‚Rollback Russia‘-Strategie sollte zum Ziel haben, die staatlichen Machtinstrumente Moskaus zu begrenzen und seinen politischen Aktionsradius wo auch immer zu reduzieren. Dafür müssen wir unseren gesamten Instrumentenkasten aktivieren. Militärisch muss die NATO ihre Abschreckungs- und Verteidigungsbereitschaft mit der permanenten Stationierung von Großverbänden entlang ihrer Außengrenzen zu Russland glaubwürdig unterstreichen. Wirtschaftlich müssen Sanktionen langfristig angelegt werden und die Folgen für die Weltwirtschaft nüchtern berechnet werden. Hunderte Großunternehmen haben Russland ja zum Beispiel aus eigener Initiative verlassen, warten aber darauf, irgendwann wieder mit und in Russland Geschäfte machen zu können. Wir sollten mit Unternehmensgiganten wie Google, Apple, PayPal oder Nokia und natürlich auch deutschen Unternehmen einen engen Dialog führen und sie in den politischen Entscheidungsprozess für weitere Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland so gut wie möglich einbetten, zumindest eng mit ihnen koordinieren. Und natürlich müssen wir unsere Abhängigkeiten von vitalen Rohstoffen aus Russland und anderen autoritären Regimen wie China reduzieren. Letzteres ist ein gewaltiges und schwieriges Unterfangen: Aber wenn wir darauf hoffen, dass wir im Sommer „back to normal“ gehen können, liegen wir falsch. Auch wirtschaftlich, vor allem energiepolitisch, ist der Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende.

Darüber hinaus sollten wir auf internationaler Ebene weiter mit den Staaten kooperieren, die ebenfalls kein Interesse daran haben, dass ein unberechenbares und aggressives Russland auf globaler Ebene ungehindert schalten und walten kann. Dazu gehören insbesondere unsere asiatisch-pazifischen Partner wie Japan, Australien, Neuseeland und Südkorea. Wo auch immer möglich, sollte Russland international isoliert werden, zum Beispiel keine Teilnahme mehr an G 20-Treffen.

Und schließlich: Wir müssen uns auch innenpolitisch besser gegen Russland wappnen und unsere Resilienz weiter verstärken. Das betrifft den Ausbau des Katastrophenschutzes in Deutschland genauso wie unsere Verteidigungsfähigkeit gegen Cyberangriffe und Versuche, unseren gesellschaftlichen Diskurs zu manipulieren.

Der amerikanische Diplomat George Kennan gilt ja allgemein als der Architekt der westlichen Containment-Strategie gegen die damalige Sowjetunion. Müssen wir uns auf einen neuen Kalten Krieg mit Russland einstellen? Und kann es uns heute helfen, das ‚Long Telegram“ noch einmal zu lesen, das George Kennan 1946 von Moskau nach Washington schickte?

Uns muss klar sein, dass wir uns in einer fundamentalen Auseinandersetzung mit einem totalitären Regime befinden, das sich an keine Regeln hält und unser liberal-demokratisches Ordnungsmodell als existenzielle Bedrohung betrachtet. Der Kreml setzt darauf, und das nicht erst seit gestern, dass er die politische Einheit des Westens aufspalten, unsere Gesellschaften und Eliten infiltrieren und uns mit Drohungen jeglicher Art, notfalls auch mit militärischer Gewalt zu einer Neuordnung der politischen Landkarte Europas zwingen kann. Wie man diese Auseinandersetzung am Ende nennen will, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass wir begreifen, dass wir uns mit all unseren Instrumenten und Fähigkeiten dagegen entschlossen wehren und Russland, wo es auch immer geht, in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränken müssen.

Und hat das die Bundesregierung Ihrer Meinung nach bislang nicht genügend getan?

Auf mich macht die deutsche politische Diskussion seit dem Beginn der Krise - und das auch schon vor dem 24. Februar - den Eindruck, dass es nur zögerlich, beinahe widerwillig die Ukraine unterstützt und sich nicht auf eine Konfrontation mit Russland einlassen will. Das zieht sich von der unselig langen Entscheidung über die Aussetzung von Nord Stream 2 bis zur tagesaktuellen Diskussion, ob Deutschland schweres Gerät in die Ukraine liefern will oder nicht. Bei vielen Verbündeten, aber vor allen Dingen in der Ukraine selbst hat sich der Eindruck verfestigt, dass Deutschland eher am Rande des Spielfeldes stehen möchte, jedes Eskalationsrisiko vermeidet und geradezu Angst vor Putin hat. Unser politisches Handeln sollte aber nicht von Angst bestimmt sein. Ob wir es wollen oder nicht, wir sind Partei in diesem Krieg. Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung diese Tatsache klar kommuniziert und der Öffentlichkeit gegenüber ehrlich sagt, welche Folgen dieser Krieg nach ihrer Einschätzung für uns hat und dass sie einen langfristigen und umfassenden Plan hat.

 Und die NATO? Was erwarten Sie von dem bevorstehenden Gipfeltreffen im Juni in Madrid?

In Madrid wollen die NATO-Chefs ja vor allen Dingen ein neues strategisches Konzept verabschieden. Bislang verfolgte das Bündnis drei wesentliche Kernfunktionen: Kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und kooperative Sicherheit durch Partnerschaften. Ich gehe davon aus, dass es in Zukunft nur noch eine primäre Kernfunktion geben wird, auf die sich die NATO konzentriert: die Verstärkung ihrer kollektiven Verteidigungsfähigkeit gegenüber Russland. Krisenmanagement und Partnerschaften werden sich dieser Hauptaufgabe unterordnen müssen. In der Realität wird es für die Bündnispartner nicht einfach sein, diesen strategischen Paradigmenwechsel umzusetzen: Zum einen verfügen viele Verbündete nach wie vor nur über begrenzte militärische Fähigkeiten; und zum anderen beteiligen sich etliche an Krisenmanagement-Operationen außerhalb des Bündnisgebietes, zum Beispiel in der Sahelzone und im Irak. Sie werden also in Zukunft militärische und politische Prioritäten setzen müssen.

Politisch heikel wird die Frage bleiben, wie das Bündnis in Zukunft den sogenannten „Partnerstaaten mit besonderen Risiken“ helfen kann, also Moldawien, Georgien und Bosnien-Herzegowina. Die Sicherheit Moldawiens und Georgiens ist besonders gefährdet. Falls es Putin einfällt, könnte er dort ebenfalls militärisch intervenieren, wohlwissend, dass die NATO in einem solchen Falle nicht viel mehr machen würde, als Waffen zur Selbstverteidigung zu liefern. Und selbst wenn die NATO diese Länder durch Partnerschaftsaktivitäten noch enger ans sich bindet, würde es ihnen im Zweifelsfall nicht viel bei einer russischen Aggression helfen. Das ist ein echtes strategisches Dilemma für den Westen. Wie viele „Ukraine-ähnliche‘ Szenarien wären wir bereit, in Europa zu tolerieren? Gegenwärtig sehe ich aber keinen Konsens im Bündnis, diesen Staaten, auch der Ukraine eine reale und kurzfristige NATO-Beitrittsperspektive zu geben.

Und gibt es bei all diesen düsteren Aussichten auch ein paar positive Entwicklungen, die Sie sehen?

Ja, die gibt es durchaus. Zum einen werden in wenigen Wochen Finnland und Schweden ihr jeweiliges Beitrittsgesuch im NATO-Hauptquartier abgeben. Für mich ist das eine sehr gute Nachricht. Beide Länder sind starke Demokratien, haben erstklassig ausgebildete und ausgerüstete Streitkräfte und sind bereits seit Jahren eng mit der NATO verbunden. Ihre Mitgliedschaft wird das Bündnis politisch und militärisch stärken.

Zum anderen bietet uns dieser furchtbare Krieg in der Ukraine auch die Chance, einige politische Wände zu durchbrechen und in größeren strategischen Zusammenhängen zu denken. Wenn die Europäer im Bündnis in Zukunft ihre militärischen Fähigkeiten nachhaltig erhöhen wollen, macht es Sinn, dass NATO und EU ihre jeweiligen Streitkräfteplanungsprozesse und Rüstungsbeschaffungsvorhaben institutionell zusammenlegen. Zwei weitgehend parallel geführte bürokratische Prozesse sind eher dysfunktional, nicht wahr? Überhaupt sollte die Arbeitsteilung zwischen beiden Organisationen neu gedacht werden, denn es gibt immer noch sehr viele thematische Überlappungen und Duplizierungen.

Wie sollte denn eine bessere Arbeitsteilung zwischen beiden Institutionen idealtypisch mit Blick auf die Ukraine aussehen?

Ganz grob gesagt: die EU sollte sich an die Entwicklung eines Marshall-Plans für die Ukraine und die von den Flüchtlingen am stärksten betroffenen Nachbarstaaten machen, und die NATO sollte eine langfristig angelegte Roll Back-Strategie gegenüber Russland verabschieden. Alle zusammen müssen wir den Mut aufbringen, Putins strategisches Kalkül auf allen Ebenen zu durchkreuzen. Dass wir bereit sind, an einem freien und demokratischen Europa festzuhalten, müssen wir nicht nur mit Worten, sondern praktischen Taten und einem langen Atem unter Beweis stellen.