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Ukraine-Krise
„Putins Ideologie ist eine Sakralisierung des Krieges“

Russlands Präsident Wladimir Putin spricht auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler O. Scholz (SPD) nach einem mehrstündigen Vier-Augen-Gespräch im Kreml.
© picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Mit den russischen Drohungen gegenüber der Ukraine und dem Westen ist der Kalte Krieg zurückgekehrt, und niemand weiß, ob es dabei bleibt. Der Philosoph Michel Eltchaninoff kennt die ideengeschichtlichen Hintergründe der Putinschen Ideologie. Im Interview erklärt er, wie der russische Präsident denkt und kalkuliert – und was er wirklich will.

Karen Horn: Warum ist der russische Machthaber Wladimir Putin ausgerechnet jetzt so aggressiv, greift nach der Ukraine und fordert Unmögliches vom Westen, insbesondere von der NATO?

Michel Eltchaninoff: Schwer zu sagen. Innenpolitisch ist es so, dass er im Wahlkampf 2018 ein „Russland für die Menschen“ versprochen hat: Das war sein Slogan. In den bald vier Jahren seither hat er allerdings nicht viel auf die Beine gestellt. Er hat die Verfassung geändert, um bis zum Jahr 2036 im Amt bleiben zu können; er hat das Rentensystem auf eine höchst unbeliebte Weise reformiert; er hat seinen Kritiker und Konkurrenten Alexej Nawalny vergiftet und verhaftet. Aber er hat es nicht geschafft, eine politische Bewegung zu seinen Gunsten in Gang zu setzen. Seine Popularität erodiert zusehends.

Ist das für ihn von Belang? Schert er sich um die Meinung der russischen Bevölkerung?

Der Kreml braucht die Bevölkerung nicht. Putin muss niemanden für sein Handeln um Erlaubnis bitten. Aber seine Stärke fußt schon auf seiner Anziehungskraft für die Menschen, auf seiner Fähigkeit, sie für sich zu gewinnen und sie zu mobilisieren. Das legitimiert sein Handeln. Diese Anziehungskraft ist jetzt schwächer als 2014, als Russland die Krim annektierte. Die Bevölkerung ist der Propaganda und der Kriegsdrohungen ebenso müde wie der Korruption und der schwierigen wirtschaftlichen Lebensumstände im Land. Mit Blick auf die Wahlen 2024 muss er allmählich etwas tun. Ich denke, das ist der innenpolitische Hintergrund, vor dem er seine NATO-Operation, wenn ich das mal so nennen kann, schon seit einigen Monaten gründlich vorbereitet und eingeleitet hat.

Ist der innenpolitische Antrieb aber wirklich so stark? Hat Putin nicht auch geopolitische Ambitionen, die für sich selber stehen?

Doch, das stimmt. Putin ist während der Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Donald Trump klar geworden, dass er Russland beim Kräftemessen zwischen den Vereinigten Staaten und China wieder mit ins Spiel bringen muss. Und seit dem Amtsantritt von Joe Biden, den man im Kreml so sehr verachtet wie alle anderen Präsidenten Amerikas aus den Reihen der demokratischen Partei, hat er wohl den Eindruck, der Moment sei dafür günstig. Allerdings muss man wissen, dass Putin langfristig denkt. Er ist seit dem Jahr 2000 Präsident und kann bis 2036 bleiben.

Was will Putin überhaupt?

Nach dem weithin als Demütigung empfundenen Trauma des Zusammenbruchs des Sowjetreichs unternimmt Putin alles, um eine fortgesetzte Aufsplitterung Russlands zu verhindern und ganz im Gegenteil eine neuerliche territoriale Ausbreitung zu ermöglichen. Er folgt dabei dem Denker Lev Goumilev in der pseudowissenschaftlichen Vorstellung, jedes Volk habe eine ihm eigene Lebensenergie, und das überlegene Wesen Russlands als junges, neues, von kosmischer Kraft erfülltes Land verlange nun einmal nach fortgesetzter Ausdehnung.

Wie bitte?

Ja, ganz im Ernst. Schon die Zaren haben das Territorium Russlands Stück für Stück vergrößert. Auch die Sowjetunion hat nach diesem Gesetz funktioniert; in ihre Zeit fiel nicht zuletzt die Eroberung des Weltraums. Das ist real und zutiefst sinnbildlich zugleich: Der Russe greift nach den Sternen. Es gibt in der russischen Kultur einen Messianismus, mindestens seit dem 16. Jahrhundert. Russland ist demnach mit einer universellen zivilisatorischen Mission betraut.

Verfängt das bei den Russen?

Diese Erzählung entspricht vielleicht nicht der öffentlichen Meinung, aber sie berührt durchaus etwas Tiefsitzendes in der russischen Kultur. Es gibt da diese gefährliche Vorstellung, man sei etwas ganz Besonderes und damit beauftragt, der Welt etwas zu zeigen, ihr etwas zu beweisen. Es ist kein Zufall, dass aus Russland seinerzeit die Sowjetunion wurde. Die Sowjetunion, das war eine Idee, ein Konzept.

Und bei diesem Imperialismus steht ihm der Westen im Weg.

Ja, ausgerechnet der Westen, der nach der Theorie Goumilevs alt, müde und ausgelaugt ist, dessen Lebensenergie sich also auf dem absteigenden Ast befindet. Putin verbreitet laufend die Erzählung von der Ungeheuerlichkeit, dass Russland in die Ecke gedrängt und kleingehalten werde. Der Westen wolle verhindern, dass Russland wieder zu der Größe finden könne, die diesem Volk wesensgemäß zukomme. Das hat er auch 2014 kurz vor der Krim-Annexion in einer höchst feierlichen Rede betont.

Eine Inszenierung Russlands als Opfer?

Genau, so ist es.

Geht es um eine Rückkehr zum Zarenreich oder in die Sowjetunion?

Weder noch. Und dennoch ist Putin in der Außenpolitik sowohl den Zaren als auch Stalin treu. All das ist getrieben von dieser Paranoia, die mit seiner KGB-Ausbildung zu tun hat.

Würden Sie Putin eher als KGB-sozialisierten Strategen beschreiben oder als intellektuellen Kopf, als philosophisch bewanderten Ideologen?

Nein, er ist kein halber Philosoph. Aber er hat begriffen, wie intellektuell desorientiert das russische Volk seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist. Die Leute hatten 70 Jahre mit dem Marxismus-Leninismus gelebt. Und selbst wenn sie nicht daran glaubten, hat sie diese Ideologie doch geprägt; das gilt auch für Putin selbst. Putin bietet ihnen nun mit einer neuen ideologischen Erzählung Halt. Der Putinismus ist nicht immer kohärent, aber er bedient verschiedene Befindlichkeiten, die in Russland eine Rolle spielen, zum Beispiel wenn er sich auf das orthodoxe Christentum stützt, das in der Sowjetzeit schließlich weitgehend unterdrückt war, auf die russische Volkszugehörigkeit, die erhabene slawische Seele, oder auf den Eurasismus, wonach sich Russland gen Asien wenden sollte.

Wie geht das alles zusammen?

Wesentliche Bestandteile dieses Putinismus sind Konservatismus, Antiamerikanismus und die Zurückweisung alles „politisch Korrekten“. Das Bindeglied in diesem Stückwerk sind der Hass auf den dekadenten Westen, der Imperialismus und die Kriegsbereitschaft. Mit dieser Botschaft will Putin aber nicht etwa nur das eigene Volk mitreißen, sondern die ganze Welt verführen. Dieser Exportehrgeiz, wenn man so will, unterscheidet diese Ideologie von anderen Doktrinen autoritärer Staaten wie China oder Iran.

Aber was soll denn an dieser Botschaft attraktiv sein?

Das Spirituelle. Die Russen sind demnach nämlich Idealisten. Sie haben eine religiöse, barmherzige Seele und sind bereit zu sterben. „In Russland ist selbst der Tod noch schön“, besagt ein Sprichwort, das Putin gern zitiert. Wir im reichen Westen sind nach seiner Auffassung Materialisten, wir suchen nur unseren Komfort. Wir kennen keinen Patriotismus, keine Opferbereitschaft, wir kämpfen für nichts.

In Ihrem Buch „In Putins Kopf“ erwähnen Sie auch die in Russland bizarre Formen annehmende Verherrlichung der Armee. Soll das auch auf diese Ideologie einzahlen?

Natürlich. Putins Ideologie ist im Kern genau das, eine Sakralisierung des Krieges. Wir beobachten eine Militarisierung der russischen Gesellschaft. Die Kinder bekommen schon in der Schule eine patriotische Grundausbildung und lernen, mit Waffen umzugehen. Außerdem wird die Armee gefeiert. Man muss sich nur das Zentralmuseum der russischen Streitkräfte in Moskau ansehen, eine mit Fresken und Mosaiken geschmückte Kathedrale der Armee, in der Panzer und Flugzeuge zur Schau gestellt sind, oder die Aufmärsche des „unsterblichen Regiments“ an jedem 9. Mai. Jede Familie ist gehalten, dort mitzulaufen und Fotos im Krieg gefallener Vorfahren vor sich her zu tragen. Hinzu kommt das kollektive Gedächtnis des Zweiten Weltkriegs. Man ist stolz, daraus als Sieger hervorgegangen zu sein.

Aber gerade das müsste doch eigentlich eine Brücke nach Westen bauen, schließlich haben die Russen den Sieg über Hitler-Deutschland ja nicht im Alleingang geschafft?

Putin blendet die Beteiligung der westlichen Alliierten völlig aus. Und dafür, dass die Sowjet-Soldaten den Nationalsozialismus besiegt haben, erwartet er vom Westen Dankbarkeit. Weil er die nicht so bekommt, wie er sich das vorstellt, sinnt er auf Revanche.

Wie wichtig ist Putin als Person bei alledem? Was würde geschehen, wenn er nicht mehr da wäre? Wäre der Kreml auch ohne ihn fähig, den Putinismus weiterzuführen?

Es ist schwer, sich Russland heute ohne Putin vorzustellen, schließlich ist er schon seit dem Jahr 2000 am Ruder und wird es aller Voraussicht nach auch noch lange sein. Aber natürlich gibt es in seiner Entourage mögliche Nachfolger, zum Beispiel Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Auf die Frage indes, ob es einen Putinismus ohne Putin geben kann, haben nur die Russen selbst eine Antwort. Wir werden sehen. Vielleicht hat Putin institutionell, ökonomisch und mental die Weichen schon gestellt. Und vielleicht ist es ihm auch schon gelungen, die Menschen in seinem Land zu überzeugen, dass die Idee wichtiger sei als die Realität. Vielleicht gäbe es aber auch, wenn er weg wäre, eine Befreiung in dem Sinn, dass die Leute begreifen würden, dass seine Ideologie eine Seifenblase war und dass ihr Land unter Putin und seiner Ideologie mehr verloren als gewonnen hat. Schwer zu sagen.

Das würde mindestens voraussetzen, dass man sich in Russland unabhängig informieren kann. Wie steht es damit?

Dem Kreml ist es zum Glück noch nicht gelungen, das Internet zu zensieren oder abzuschalten. Das erklärt auch den Erfolg Nawalnys, dessen Recherchen man auf Youtube bis heute ansehen kann. Nur die Hälfte der Russen lässt sich vom Staatsfernsehen indoktrinieren. Das sind Ältere, Ärmere, eher schlecht ausgebildete Menschen in der Provinz. Die andere Hälfte, die aus Jungen, Wohlhabenderen, Gebildeten in urbanen Zentren besteht, verbringt den Tag auf Telegram und Youtube. Immerhin.

Wie sollte sich der Westen verhalten? Wie mit Putin umgehen?

Man muss verstehen, dass Putin Taktiken der Desinformation und der Subversion einsetzt, die er im KGB gelernt hat. Seine Stärke liegt in der Kunst des Wortes. Es beherrscht die Technik, den Menschen etwas vorzugaukeln und eine selbstgeschaffene Erzählung zur Realität werden zu lassen. Es ist nicht leicht, mit jemandem zu verhandeln oder überhaupt einen Dialog zu führen, der einem ins Gesicht lügt und eine erfundene Realität zur Basis seiner Winkelzüge nimmt. Das heißt, man darf da nicht mitspielen, sondern muss die Dinge beim Namen nennen.

Das heißt konkret?

Wenn zum Beispiel der russische Außenminister Sergej Lawrow sagt, das Krim-Kapitel der Geschichte sei abgeschlossen, dann ist das schlichtweg Unsinn, und das muss man auch sagen. Russland hat die Krim widerrechtlich annektiert: Das und nichts anderes ist die Wahrheit, und natürlich verjährt dieses völkerrechtliche Unrecht nicht. Man muss Putins Märchen immer wieder die Fakten entgegenstellen. Und man darf keine Angst vor einer Konfrontation haben.

Auch militärisch?

Wir befinden uns längst wieder in einer Logik der Abschreckung. Putin ist ein kalter Krieger. Ich glaube, dass er keineswegs einen Atomkrieg will, aber er will uns mit dieser Gefahr Angst einjagen. Das Wichtigste ist, sich nicht beeindrucken zu lassen und in der Abschreckung standhaft zu bleiben.

Ist dem Westen das bisher gelungen?

Die Haltung insbesondere Amerikas erscheint mir durchaus richtig und zielführend: Es gilt Russland zu zeigen, dass dem Westen die Ukraine nicht gleichgültig ist und dass man sie tätig unterstützt. Man muss sich klar machen, dass die Ukraine niemals irgendein anderes Land angegriffen hat. Wir dürfen auch nicht durcheinanderbringen, wer hier der Angreifer ist und wer der Angegriffene. Der Angreifer ist eindeutig Russland. Es ist die moralische Pflicht und ein existentielles Interesse des Westens, dafür zu sorgen, dass man die Landkarte Europas nicht im Zuge militärischer Abenteuer neu zeichnen kann.

Die Ukrainer bleiben noch erstaunlich ruhig, nicht wahr?

Naja, manche Menschen verlassen das Land. Aber unter den vielen, die bleiben, erwerben immer mehr Leute jetzt Waffen aller Art und bereiten sich darauf vor, die Armee zu unterstützen und ihr Land auch in Zivil selbst zu verteidigen. Das ist einerseits natürlich bewundernswert und andererseits auch brandgefährlich. Putin spielt das in die Hände. Seine Taktik besteht ja gerade darin, die Ukrainer zu terrorisieren und Panik zu säen.

Auf diese Weise kann man einen unkontrollierbaren Bürgerkrieg in Gang setzen.

Genau. Putin will den Druck im Kessel der Ukraine immer mehr steigern, bis er explodiert.

 

 

 

Michel Eltchaninoff ist Chefredakteur des „Philosophie Magazine“, des französischen Pendants zum deutschen „Philosophie Magazin“, einer Zeitschrift für philosophische, gesellschaftliche, politische und lebensweltliche Themen. Wissenschaftlich hat er sich auf die russische Philosophie spezialisiert. Im Jahr 2015 erschien sein längerer Essay „Dans la tête de Vladimir Poutine“, der 2016 auch ins Deutsche übersetzt wurde („In Putins Kopf: Die Philosophie eines lupenreinen Demokraten“, Klett-Cotta).

Karen Horn lehrt ökonomische Ideengeschichte und Wirtschaftsjournalismus an der Universität Erfurt.