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Türkei
Lieferdienstkuriere haben es satt – Streiks inmitten der Wirtschaftskrise

Die Kuriere von Yemeksepeti forderten in einem organisierten Streik höhere Löhne und riefen zum Boykott des Lieferdienstes auf 

Die Kuriere von Yemeksepeti forderten in einem organisierten Streik höhere Löhne und riefen zum Boykott des Lieferdienstes auf 

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picture alliance / ZUMAPRESS.com | Tolga Ildun

Seit Beginn der Pandemie haben Lieferdienste und Online-Versandplattformen nicht nur in der Türkei Hochkonjunktur. Während Millionen Menschen aufgrund der Pandemiebeschränkungen zu Hause festsaßen, arbeiteten Kuriere aller Art fleißig weiter, um Bestellungen zeitnah zuzustellen und Kundinnen und Kunden zufriedenzustellen. Nun kam es erstmals zu Streiks unter den Lieferdienstkurieren, die angesichts der kritischen Wirtschaftslage, der hohen Inflation und der prekären Arbeitsbedingungen eine angemessene Bezahlung verlangen.

Die jährliche Inflationsrate, die vom türkischen Statistikministerium Türkstat inzwischen mit 48,7 Prozent beziffert wird, resultiert aus dem globalen Preisanstieg als Nebenprodukt der Covid-19-Pandemie, den Preissteigerungen im Energiesektor und der Abwertung der Türkischen Lira. Als eine Gegenmaßnahme hat die Regierung erst kürzlich den Mindestlohn für Alleinstehende um rund 50 Prozent auf 4.250 TL (ca. 274 Euro) netto erhöht. Unternehmen machten sich die Mindestlohnerhöhung zunutze, indem sie sie als ihre eigene Lohnerhöhung verkauften. Ali Rıza Küçükosmanoğlu, Vorsitzender der Logistikarbeitergewerkschaft Nakliyat-Iş, gibt an, dass der türkische Lieferdienstriese Yemeksepeti seine Gehaltserhöhung auf die von der Regierung angekündigte Mindestlohnerhöhung von 50,4 Prozent festgelegt habe: „Hier gibt es außer dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn keine Lohnerhöhung. Die hier praktizierte Lohnpolitik lag jahrelang immer mindestens 20-30 Prozent höher als der Mindestlohn.“

Die Kuriere von Yemeksepeti, erkennbar an pinkfarbenen Westen und Motorrollern, legten ihre Arbeit für mehrere Tage nieder, forderten in einem organisierten Streik vor den Türen des Hauptgebäudes in Istanbul höhere Löhne und riefen zum Boykott des Lieferdienstes auf – laut Nakliyat-Iş gingen die Bestellungen daraufhin zweitweise um 70 Prozent zurück. Die Angestellten fordern gewerkschaftliche Organisierung sowie knapp 30 Prozent mehr Geld, als das Unternehmen, 2015 vom deutschen Lieferservice-Giganten Delivery Hero aufgekauft, bereit ist zu zahlen. Doch auch nach mehr als zwei Wochen Streik hat sich das Unternehmen noch nicht öffentlich zu den Forderungen geäußert.

Ein weiteres Problem ist die steigende Anzahl an „selbstständigen“ Kurieren, die nicht direkt bei den Lieferfirmen angestellt sind. Allein in Istanbul sind es mindestens 20.000. Diese müssen sich von der Arbeitskleidung bis zu den Sozialversicherungsprämien um alle anfallenden Kosten in Eigenverantwortung kümmern und stehen unter enormem Zeitdruck, denn ein großer Teil ihres Einkommens ist abhängig vom Trinkgeld und der Anzahl der Zustellungen pro Stunde. Um die geforderten Zustellungen auszuliefern, seien sie zudem gezwungen, Überstunden zu machen und die Verkehrsregeln zu missachten, wie ein Kurier berichtete. Laut der Gewerkschaft für Logistik Nakliyat-Iş sind in den ersten 13 Monaten der Pandemie mindestens 190 Kuriere bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen.

Die Streiks lösten eine Kettenreaktion aus: Es gab innerhalb von 40 Tagen 65 Streiks im ganzen Land – die meisten davon in Istanbul und Gaziantep. Sie beschränkten sich nicht nur auf Lieferdienste, sondern auch auf andere Online-Versandplattformen und Lieferfirmen. So haben Angestellte des großen Online-Versandhauses Trendyol nach Streiks eine Lohnsteigerung von 40 Prozent erwirkt. Kürzlich wurde auch die Supermarktkette Migros bestreikt. 257 Angestellten eines Lagerhauses in Istanbul wurde daraufhin fristlos gekündigt. Ihre Forderungen beliefen sich dabei lediglich auf eine Lohnsteigerung um 4 TL pro Stunde, was derzeit dem Preis eines Laibs Brots entspricht. Inzwischen wurde den Forderungen nachgegeben, die Lohnerhöhung gewährt, und alle 257 streikenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden wieder eingestellt.

Eigentlich ist die Türkei nicht für Arbeiterstreiks bekannt. „Das liegt an den hohen innenpolitischen Sicherheitsstandards“, sagt Erdem Yörük, Assistenzprofessor für Soziologie an der renommierten Koç-Universität. Die Menschen seien lange zurückhaltend gewesen, da Streiks in der Vergangenheit immer wieder verboten wurden. Aufgrund der Zunahme der Armut würden Streiks nun aber begünstigt. Dazu kommt, dass Kuriere eine wichtige Position im Dienstleistungssektor einnehmen: „Neben Armut und sinkenden Löhnen in allen Sektoren haben sie im Vergleich zu anderen Teilen der Erwerbsbevölkerung eine viel größere Verhandlungsmacht“, meint Yörük.

2022 könnte also ein Jahr der Streiks in der Türkei werden. Die schwierige wirtschaftliche Lage birgt durchaus gewisse Chancen für die Arbeitnehmerseite, da auch Arbeitgeber mehr und mehr unter Zugzwang geraten, ihre Kundinnen und Kunden auf der einen und ihre Angestellten auf der anderen Seite zufriedenzustellen. Für eine langfristige Verbesserung der Arbeitsbedingungen könnte aber die Forderung nach gewerkschaftlicher Organisierung noch wichtiger werden, von der sich die Menschen über einmalige Lohnerhöhungen hinaus eine Stärkung ihrer Rechte erhoffen.