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30 JAHRE EUROPÄISCHER BINNENMARKT

Geopolitische Krisen

Das wohl folgenschwerste Ereignis des Polykrisenjahrzehnts ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auf die Konsequenzen für die Menschen in der Ukraine und die daraus resultierende humanitäre Krise haben die EU und fast alle Mitgliedsstaaten mit Solidarität, Waffenlieferungen und entschlossenen Sanktionen gegen das Putin-Regime reagiert. Mit den ökonomischen Folgen und der neuen geopolitischen Weltlage wird die EU noch lange zu kämpfen haben. Energiepreise haben auf dem Binnenmarkt in 2022 einen historischen Höchststand erreicht und lagen zeitweise über 35 Prozent über dem Vorjahresniveau. Noch höher sind die Preise für Gas und Wärme in einigen Mitgliedsstaaten gestiegen. Um die gestiegenen Energiekosten in den Griff zu bekommen, hat der Rat der EU im Oktober Maßnahmen zur Senkung der Stromnachfrage und die Umverteilung von Überschusserlösen für Haushalte sowie Unternehmen vereinbart. Gleichzeitig wird daran gearbeitet, die Energieversorgung unabhängiger von Russland zu machen, und dieses Vorhaben trifft in der Umfrage auf Unterstützung. Eine verstärkte EU-Zusammenarbeit bei der Energieversorgung mit dem Ziel, unabhängiger von anderen Staaten wie Russland zu sein, befürworten bei allen Befragten 86,0 Prozent, dabei stimmen gleich 72,8 Prozent „eindeutig“ zu.

Allerdings gibt es bei einer knappen Mehrheit der Befragten Zweifel daran, dass sich die EU-Mitgliedsstaaten tatsächlich auf ein gemeinsames Vorgehen für eine von Russland unabhängige Energieversorgung einigen. Etwas mehr als die Hälfte (50,9 Prozent) halten das für unwahrscheinlich, davon 27,3 Prozent für eher unwahrscheinlich. Die gut gefüllten Gasspeicher und der zügige Rückgang der Energieimporte aus Russland scheinen bisher eher den 46,8 Prozent der Befragten recht zu geben, die das gemeinsame Vorgehen für eher oder sehr wahrscheinlich halten. Allerdings versucht Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orban, die Bestrebungen der restlichen EU-Mitgliedsstaaten zu unterminieren. So wird es weiterhin eine Herausforderung für die EU sein, zu verhindern, dass Europa wieder in Abhängigkeit von russischen Rohstoffen gerät.

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© Eigene Darstellung basierend auf CIVEY-Umfrage

Noch tiefgreifender als bei der Energieversorgung sind die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die geopolitische Gesamtlage. Der Überfall einer aggressiven Autokratie auf die souveräne Ukraine stellt eine neue Eskalationsstufe im Systemkonflikt zwischen liberalen Demokratien und autokratischen Regimen dar. Angesichts der mindestens impliziten Billigung dieses Vorgehens durch den chinesischen Staatschef Xi Jinping sowie der Bekräftigung der engen Beziehung den beiden Staaten trotz immer weiterer Kriegsverbrechen des Kremlchefs und seiner Armee, hat sich auch der Blick der europäischen Öffentlichkeit auf die Volksrepublik China verändert. Seit Jahren hat China die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) missachtet und versucht mit Subventionen, Dumping und dem strategischen Einsatz chinesischer Unternehmen und Investitionen asymmetrische Abhängigkeiten aufzubauen (Hilgers 2022). Doch lange waren chinesische Investitionen, auch in kritische Infrastruktur, willkommen. Erst allmählich haben Kommission, Mitgliedsstaaten und Parlament begonnen, die Wirtschaftsbeziehungen mit Europas wichtigstem Handelspartner unter die Lupe zu nehmen. Spätestens die Auswirkungen der einseitigen Abhängigkeit von Russland haben auch in der Bevölkerung den Wunsch nach einer stärkeren Abkopplung von der größten Wirtschaftsmacht Asiens intensiviert. In der Umfrage stimmen 90,8 Prozent aller Befragten der Aussage zu, dass die EU-Staaten bei technischer Infrastruktur auf europäische Partner setzen sollten, um unabhängiger von Zulieferern aus Asien zu sein. Nur drei Prozent der Befragten stimmen der Aussage eindeutig nicht zu.

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© Eigene Darstellung basierend auf CIVEY-Umfrage

Allerdings sind die Befragten weniger optimistisch, was die Einigkeit der EU im Hinblick auf China angeht. Ein gemeinsames Vorgehen der EU-Staaten für wirtschaftliche Unabhängigkeit von China halten bei allen Befragten nur 30,1 Prozent für „wahrscheinlich“; zwei Drittel sind gegenteiliger Auffassung.

Diese Ergebnisse sind dabei einerseits Ergebnis eines uneinheitlichen Vorgehens der europäischen Mitgliedsstaaten. Der Kurzbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Volksrepublik China hat im November 2022 für viel öffentliche Kritik gesorgt und steht auch im Kontrast zum Vorgehen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der in der Vergangenheit Wert darauf gelegt hat, dass er gemeinsam mit der EU-Spitze und deutscher Bundesregierung mit China interagiert. Von einem geschlossenen Vorgehen der EU versuchen sich Macron und andere Spitzenpolitikerinnen und -politiker in eine bessere Verhandlungsposition mit der aufstrebenden und zunehmend aggressiver auftretenden Supermacht zu bringen.

Im Jahr vor dem russischen Angriffskrieg hat die europäische Kommission bereits erste Schritte, wie zum Beispiel die Einführung einer drittstaatlichen Subventionskontrolle, unternommen, um sicherzustellen, dass chinesische Handelspraktiken strikteren Regeln unterliegen. Vielversprechend ist auch die europäische Standardisierungsstrategie, mit der die Kommission den europäischen Einfluss auf technische Standards sicherstellen möchten (Rühlig 2022). Mehrere Mitgliedsstaaten haben zudem chinesische Investitionen in kritische Infrastruktur untersagt oder beschränkt. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten können mit koordiniertem Vorgehen und der (Durch-)Setzung von Standards einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der regelbasierten Welthandelsordnung leisten.

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© Eigene Darstellung basierend auf CIVEY-Umfrage
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© Eigene Darstellung basierend auf CIVEY-Umfrage

Insgesamt klafft bei den geopolitischen Herausforderungen eine Lücke zwischen dem Wunsch der Befragten nach stärkerem gemeinsamen Vorgehen der EU-Mitgliedsstaaten und dem Vertrauen in das Zusammenwirken innerhalb der EU. Für Kommission, Parlament und Mitgliedsstaaten steckt in dieser Bestandsaufnahme der klare Auftrag, stärker zusammenzuarbeiten, um den Binnenmarkt auch in diesen stürmischen geopolitischen Zeiten zu einem sicheren Hafen für die eigene Bevölkerung zu machen. An der Rückendeckung der Wählerinnen und Wähler wird es nicht scheitern, wie diese Umfrage gezeigt hat.