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Messung des Wohlstands
„Es herrscht eine merkwürdige Lust an der Apokalypse“

Karl-Heinz Paqué

WirtschaftsWoche: Herr Paqué, Wirtschaftsminister Habeck will den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung umkrempeln und ökologisch-soziale Faktoren stärker gewichten. Im Kern geht es um eine Neudefinition von Wohlstand. Wie finden Sie diesen Ansatz?

Karl-Heinz Paqué: Ich finde es prinzipiell gut, dass die Regierung diese alte Frage mit Leben füllen will. Wir alle wissen um die Schwächen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als zentralem Wohlstandsindikator. Das BIP bildet die aggregierten Marktwerte ab, nicht mehr und nicht weniger. Es hat eine klare und eindeutige quantitative Dimension, sagt aber nichts über Verteilungs- oder Umweltfragen aus. Ich warne nur vor der Versuchung, das BIP als Leitindikator durch eine willkürlich konstruierte Alternativgröße zu ersetzen. Das wäre fatal.

Warum? Kann man mit einer Erweiterung des BIP-Begriffs der ökonomisch-sozialen Wahrheit nicht näher kommen?

Qualitative Erweiterungen der Wohlstandsmessung haben eine immanente Schwäche: Sie sind eng verbunden mit den jeweiligen Präferenzen der Politik. Damit wird der politischen Willkür Tür und Tor geöffnet. Wer viele Wohlstandsfaktoren zusammenrührt, muss zwangsläufig gewichten. Damit wird der Indikator zum Spielball der Politik. Außerdem gibt es viele Bereiche, die sich nicht gewichten lassen. Wenn eine Regierung die Menschenrechte mit Füßen tritt, aber ein vorzügliches Bildungssystem bereitstellt: Ist das dann im Schnitt ein befriedigender Zustand? Wenn die Armut um ein Prozent sinkt und die CO2-Emissionen um ein Prozent steigen, ist die gesellschaftliche Wohlfahrt dann netto gleich geblieben?

Was ist dann die Alternative, um den Wohlstand einer Gesellschaft akkurater zu erfassen?

Zunächst mal muss das BIP als Leitindikator erhalten bleiben. Doch unterhalb der quantitativen Analyse sollten wir ein Dashboard mit acht bis zehn ergänzenden Wohlstandsindikatoren entwickeln, die wir systematisch mit den BIP-Zahlen abgleichen. Das könnten die Lebenserwartung sein, der Ressourcenverbrauch, die Biodiversität oder die durchschnittliche medizinische Versorgung. Dieses Indikatorenset könnte man alle paar Jahre überprüfen und aktualisieren. Heute müsste man sicher auch den Digitalisierungsgrad dazunehmen.

Das alles klingt trotzdem nach einer wissenschaftlichen Ehrenrettung des BIP.

Wenn Sie so wollen, ja. Man stellt im internationalen Vergleich immer wieder fest, dass viele Wohlstandsindikatoren mit dem BIP hoch korreliert sind. Das Pro-Kopf-Wachstum sagt im globalen Querschnitt überraschend viel aus. Innerhalb der OECD etwa finden Sie klare Zusammenhänge zwischen dem BIP und dem Gesundheitszustand der Bevölkerung, auch zum Bildungsniveau. Daher muss man schon hinterfragen, wieviel zusätzlichen Erkenntniswert zusätzliche Indikatoren bieten. Bei der intertemporalen Entwicklung im eigenen Land ist die Beziehung diffuser: Ein Land kann einen Boom erleben, aber zugleich in Bildungsrückstand geraten

Die Dashboard-Idee geht auf die ehemalige Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ zurück, in der Sie Mitglied waren. Was ist aus dem 850 Seiten starken Abschlussbericht geworden, den die Gruppe 2013 vorgelegt hat?

Wir haben zweieinhalb Jahre an dem Bericht gearbeitet, doch leider ist er am Ende in der Schublade gelandet und inhaltlich versandet. Die Wohlstandsdebatte wurde von anderen Themen völlig überlagert. Es gab eine Bundestagswahl, dann kam die Flüchtlingskrise.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Arbeit in der Kommission?

Eine gemischte. Ich war überrascht, wie anfangs manche Abgeordnete der politischen Linken glaubten, man könne am BIP herumbasteln und per Knopfdruck einen tollen neuen Indikator kreieren. Es gab aber auch auf Seiten der SPD und der Grünen eine Reihe von Leuten, die sehr sachkundig und konstruktiv mitarbeiteten. Insgesamt empfinde ich unsere Arbeit von damals noch immer als extrem nützlich. Man könnte das Gutachten nun wunderbar aus den Berliner Aktenschänken holen. Ich empfehle das der Koalition ausdrücklich.

Hinter der Kritik am BIP verbirgt sich häufig ein generelles Misstrauen gegenüber wirtschaftlichem Wachstum. Die „Degrowth“-Bewegung hat steigenden Zulauf. Kann es Wohlstand ohne Wachstum geben?

Ein Staat kann nur eine gewisse Zeit aus der Substanz leben und auf Wachstum verzichten. Auf Dauer führt dies zu massiven Wohlstandsverlusten der Menschen und zu schlechteren Produkten und Dienstleistungen. Man darf eines nicht vergessen: Der Kern des Wachstums in entwickelten Volkswirtschaften ist Innovation, es sind die Produkte, die am Markt erfolgreich sind und eine höhere Wertschöpfung kreieren als vorangegangene Güter. In einem hochentwickelten Industrieland ist Wachstum heutzutage fast ausschließlich qualitativer Natur, es geht um vertikal bessere Qualität oder horizontal diversifizierte Produkte. Auch eine höhere Ressourceneffizienz gehört dazu.

Warum ist Wachstumskritik trotzdem auch jenseits der grünen Klientel so populär?

Vielleicht, weil wir sie uns als reiches Land leisten können? In Deutschland herrscht seit Jahrzehnten eine merkwürdige Lust an der Apokalypse. Wer hier ein Katastrophenszenario entwirft, hat sofort eine große Anhängerschar. Ich führe daher seit Jahren einen Werbefeldzug für richtig verstandenes Wachstum. Wachstum ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, damit jeder wohlhabender werden kann. Wachstum und individueller Wohlstand sind Voraussetzungen für eine gute Lebensqualität. Von daher finde ich es beruhigend, dass im Koalitionsvertrag keine Anti-Wachstumsideologie verbreitet wird. Wachstum soll vielmehr in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden. Und da habe ich als Liberaler überhaupt nichts gegen.

 

Das Interview erschien am 26. Januar 2022 in der WirtschaftsWoche und ist online hier zu finden.