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Einheit und Freiheit

Es ist nicht zuletzt das Verdienst der deutschen Liberalen, insbesondere von Hans-Dietrich Genscher, dass die Deutsche Frage als großes Problem der Weltpolitik nach 1945 friedlich und im Einklang mit den Nachbarn gelöst wurde. Dabei knüpften sie an zwei wichtige Traditionen des deutschen Liberalismus an: Dieser verstand sich zum einen seit Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur als Anwalt der Freiheit, sondern auch als „Partei der (deutschen) Einheit“. Zum anderen begründete die Neue Ostpolitik der FDP in den 1960er Jahren die nachfolgende Entspannungspolitik. So verkörperte Wolfgang Schollwer für die FDP das, was Egon Bahr für die SPD war. Dies gilt es zu bedenken, wenn den Umbruch von 1989/90 verstehen möchte.

Dr. Jürgen Frölich, ehemaliger Mitarbeiter im Archiv des Liberalismus, geht den verschlungenen Wegen der liberalen Deutschland- und Entspannungspolitik in der neuen Public History-Broschüre „Einheit und Freiheit“ nach.

Dies ist ein Auszug aus unserer Veröffentlichung, die Sie in unserem Shop herunterladen können.

Wandlungen eines liberalen Vordenkers

Exemplarisch für den Prozess, der sich in den 1960er Jahren bei den Freien Demokraten vollzog, steht Wolfgang Schollwer (1922-2020). Der Potsdamer Arztsohn wurde nach dem Abitur zum Kriegseinsatz eingezogen, welchen er, wiewohl persönlich eigentlich ganz unmilitärisch, als Reserveoffizier beendete. Das wiederum verhinderte nach der Rückkehr in seine Heimatstadt das angestrebte Medizinstudium, weshalb Schollwer auf das Angebot der örtlichen LDP einging, die Geschäftsführung des Stadtverband zu übernehmen. Bald stieg er zum brandenburgischen Landessekretär auf und betrieb schwerpunktmäßig Jugendpolitik. Das war ein Feld, auf dem es vor allem wegen der Zwangsmitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) die wohl schärfsten Auseinandersetzungen um den Führungsanspruch der SED gab. Auch Schollwer geriet in diese Konflikte hinein und entzog sich den Repressionen von Seiten der sowjetischen Besatzungsmacht und ihrer deutschen Helfer 1950 durch Flucht in den Westen.

1951 bot die FDP-Bundesgeschäftsführung ihm einen Posten in ihrem Bonner „Ost-Büro“ an. Dessen Aufgaben waren die Betreuung von DDR-Flüchtlingen einerseits sowie „Aufklärungs- und Infiltrationsarbeit“ in der DDR selbst andererseits, jeweils mit den Liberaldemokraten als Hauptzielgruppe. Der Job war für beide Seiten riskant: Auf die Ost-Büro-Mitarbeiter wurden Agenten des DDR-Staatssicherheitsdienstes angesetzt, die auch vor Entführungen nicht zurückschreckten, und Liberaldemokraten drohten bei Bekanntwerden von West-Kontakten drakonische Strafen.

Wolfgang Schollwer war in dieser Zeit ein Anhänger der „Politik der Stärke“, die auf Zurückdrängung der Sowjetunion und den nachfolgenden Zerfall ihres Imperiums setzte. Ihm waren Gespräche mit dem „Osten“ nicht ganz geheuer, selbst wenn sie wie 1956 in Garmisch und Weimar von der eigenen Partei geführt wurden, weil sie eine Aufweichung der westlichen Position mit sich bringen konnten.

Die FDP muss auf jeden Fall unverzüglich die deutsche Lage von Grund auf neu durchdenken und zunächst für sich ... die unvermeidlichen Entscheidungen in der deutschen Frage treffen.

Wolfgang Schollwer am Rednerpult anlässlich der Tagung der LDP-Landes- beiräte Hessen und Rheinland-Pfalz am 12.4.1966 in Frankfurt/M.
Wolfgang Schollwer

Gleichwohl gegen seinen Willen stellte die FDP-Führung zur Jahreswende 1956/57 die Arbeit des Ost-Büros weitgehend ein, weil die Risiken einfach zu hoch waren. Schollwer wechselte in die FDP-Pressestelle. Die Schließung des Ost-Büros war aber insofern vorausschauend, als spätestens mit dem Bau der Berliner Mauer die Möglichkeiten von direkten Ost-West-Kontakten „auf privater Ebene“ weitgehend unterbunden wurden und eine entsprechende Ostarbeit unmöglich wurde. Die dadurch erfolgte endgültige Schließung der innerdeutschen Grenze war es dann auch, die Wolfgang Schollwer grundsätzlich zum Umdenken bewog.

13 Aug.
13.08.2022 10:00 Uhr
Bonn

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Erinnerung und Ausblick zum 100. Geburtstag von Wolfgang Schollwer

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Die Bemühungen von Wolfgang Schollwer und der liberalen Spitzenpolitiker Genscher, Scheel, Mischnick und Rubin um eine „neue Ostpolitik“ bereiteten den Boden für die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition nach 1969, die in die Ostverträge mit der Sowjetunion, Polen (beide 1970), der Tschechoslowakei und den Grundlagenvertrag mit der DDR (beide 1973) mündete.

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