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Liberalismus
Das Schollwer-Papier und die Anfänge der „neuen Ostpolitik“

Alte Papiere
© picture alliance / ZB | Jens Büttner

Nach dem Mauerbau 1961 und der Kuba-Krise kurz darauf war es weitsichtigeren Betrachtern klar, dass der Status quo im Ost-West-Verhältnis sich nicht schnell ändern würde und dass es sogar geboten schien, diesen nicht mit aller Macht ändern zu wollen, weil daraus schnell ein atomares Inferno hervorzugehen drohte. Die damit verbundene vorläufige Akzeptanz der deutschen Teilung fiel vielen schwer, zumal man allgemein in der Bundesrepublik vom Recht auf eine Wiedervereinigung überzeugt war, wie es auch im Grundgesetz 1949 festgeschrieben worden war.

Der zeitgenössische Liberalismus

Gerade im Lager der Liberalen wurden nun zunächst noch verborgen Überlegungen angestellt, wie der „Eiserne Vorhang“, also die stark befestigte Ost-West-Grenze zwischen Ostsee und Adria, „löchriger“ gemacht und das Gemeinschaftsgefühl der Deutschen in Ost und West erhalten bzw. verstärkt werden könnte. Als einer der ersten legte der Referent für die Außen- und Deutschlandpolitik der FDP, Wolfgang Schollwer (1922-2021), im April 1962 ein internes Positionspapier hierzu vor. Unter Wiederaufnahme von Vorschlägen, die schon zuvor der baden-württembergische FDP-Abgeordnete Karl-Georg Pfleiderer und der mit ihm befreundete Altministerpräsident Reinhold Maier vorgebracht hatten, forderte Schollwer ein Zugehen auf die Interessen der sowjetischen und der DDR-Führung. Durch solche „Klimaverbesserungen“ sollten die Gräben zwischen Ost und West allmählich zugeschüttet und die beiden deutschen Staaten wieder mehr miteinander „verklammert werden“. Ende Juni 1962 präsentierte er eine überarbeitete Fassung.

Der Inhalt des Schollwer-Papiers widersprach dem Kurs der deutschlandpolitischen Traditionalisten in der FDP, die weder die DDR in irgendeiner Form anerkennen noch auf die ehemaligen deutschen Gebiete östlich von Neiße und Oder verzichten wollten. Deshalb distanzierte sich auch der damalige FDP-Vorsitzende Erich Mende, selbst in Schlesien geboren von Schollwers Papier, als dies 1964 öffentlich bekannt wurde. Andere FDP-Politiker wie Walter Scheel, Wolfgang Mischnick und Hans-Dietrich Genscher sahen jedoch ebenfalls die Zeit für eine Neuorientierung gekommen. Mischnick, wie Schollwer ursprünglich Liberaldemokrat, nahm 1966 demonstrativ an einem Treffen von Freidemokraten mit Liberaldemokraten in Bad Homburg teil und sah fortan die Beziehungen zur ehemaligen Schwesterpartei im Osten als seine zentrale Aufgabe an. Hans-Dietrich Genscher, ein weiteres ehemaligen LDP-Mitglied, entwarf im selben Jahr 1966 mit einer Rede in Stuttgart den Grundriss für eine neue europäische Sicherheitsordnung. Sie sollte alle Staaten in Europa umfassen, von den beiden Weltmächten UdSSR und USA garantiert sein und auch Raum für eine Wiederannäherung der Deutschen in Ost und West eröffnen.

FDP-Programmatik

In ähnliche Richtung gingen kurz darauf Wolfgang Schollwer mit einem zweiten Positionspapier und FDP-Schatzmeister Hans Wolfgang Rubin mit einem Aufsatz unter dem Titel „Die Stunde der Wahrheit“. Beide forderten explizit die Anerkennung aller bestehenden Grenzen einschließlich der an Oder und Neiße, also den Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete und Verhandlungen mit der DDR-Führung über Verbesserungen im innerdeutschen Austausch bei faktischer, völkerrechtlicher, aber nicht staatsrechtlicher Anerkennung des zweiten deutschen Staates.

Mit der Übernahme der FDP-Führung durch Walter Scheel – und mit Genscher und Mischnick als seinen Stellvertretern – konnten diese Positionen ab 1968 offiziell in die FDP-Programmatik eingehen. So legte Anfang 1969 die FDP-Bundestagsfraktion einen Entwurf für ein Abkommen mit der DDR vor, der neben offiziellen diplomatischen Beziehungen – die aus rechtlichen Gründen anders genannt werden sollten – vor allem Abmachungen zum innerdeutschen Reiseverkehr einschließlich des Zugangs nach West-Berlin sowie zu Handel, Kommunikation etc. vorsah. Wenig später reiste die FDP-Spitze nach Moskau, wo sie, obwohl seit Ende 1966 in der Opposition von der sowjetischen Führung empfangen wurde. Beides waren eindeutigen Signale, in welche Richtung die FDP gehen wollte, wenn sie nach der anstehenden Bundestagswahl wieder zur Regierungspartei werden sollte.

Die Bemühungen Schollwers und der liberalen Spitzenpolitiker Genscher, Scheel, Mischnick und Rubin um eine „neue Ostpolitik“ bereiteten schließlich den Boden für die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition nach 1969, die in die Ostverträge mit der Sowjetunion, Polen (beide 1970), der Tschechoslowakei und den Grundlagenvertrag mit der DDR (beide 1973) mündete.

Denkschrift von Wolfgang Schollwer