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Krieg in Europa
Das Böse zugelassen

BAKHMUT, UKRAINE

Graves  in Bakhmut, Ukraine 

© picture alliance / AA | André Luís Alves

Der Krieg tötet nicht nur physisch

Es ist unmöglich, eine einzige rationale Erklärung dafür zu finden, aus welchem Grund alle diese Menschen sterben mussten. Der Krieg ist ungeheuerlich, aber er ist auch absurd. Die in Berlin lebende russische Schriftstellerin Ludmilla Ulitskaya ist der Meinung, dass man kaum einen sinnloseren Krieg in der Menschheitsgeschichte finden könne. Es ist bis heute nicht nachvollziehbar, welche Gründe Putin dazu bewogen haben, diesen Angriffskrieg zu beginnen. Aus menschlicher Sicht ist sein Verhalten nicht zu erklären. Mit einem Philosophenkollegium, die an dem Sammelband „Facing Disaster" beteiligt waren, haben wir den Versuch unternommen, nach Erklärungen zu suchen. Eine der interessantesten stammt von der russischen Philosophin Oksana Timofeeva: „Das vergangene Imperium versucht verzweifelt, sich selbst zu reanimieren, indem es den eigenen Todesdrang in militärische Aggression umwandelt.“ Aber woher kommt dieser kollektive russische Todesdrang, woher kommt diese selbstzerstörerische Strategie? Denn Russland fügt durch seine Aggression eindeutig auch sich selbst, seiner eigenen Wirtschaft und auch seiner eigenen Bevölkerung, Schaden zu, indem es Hunderttausende von Männern in den Tod schickt? Vor dreißig Jahren, nach dem Zusammenbruch der UdSSR, hatte Russland alle Chancen, ein blühendes Land zu werden, eines von der Weltspitze – und zum festen Teil Europas. Es hätte zu einem der führenden Staaten der Weltwirtschaft werden können.

Erstaunlicherweise gelang es Putin in zwanzig Jahren an der Macht keinen der wirtschaftlichen Vorteile, die Russland hatte, zu nutzen, um ein glückliches und wohlhabendes Leben für die Mehrheit seiner Bürger und Bürgerinnen möglich zu machen. Russland hat den Kapitalismus-Test, den Test der sozialen Privatwirtschaft, nicht bestanden. Da Russland für sein eigenes Dasein keinen Sinn finden konnte, begann es, diesen Sinn in der Aggression gegenüber der benachbarten Ukraine zu suchen. Das mag absurd erscheinen – wie kann der Sinn für die eigene Existenz im Tod gefunden werden? In der Zerstörung? Man könnte es als die letzte „Hysterie des Imperiums" bezeichnen.

Aber der Krieg tötet nicht nur physisch. Er tötet auch geistig. Dieser Krieg schaffte es, unsere Vergangenheit zu zerstören – all die Bemühungen derjenigen Russen, die es doch geschafft haben, die Vorteile der offenen Welt und der Privatwirtschaft zu nutzen. Diejenigen, die es in den letzten dreißig Jahren geschafft haben, Geld zu verdienen, beruflich Erfolg zu haben, die Welt draußen zu entdecken und zu lieben. Der Krieg hat all ihre Bemühungen zunichtegemacht. Selbst die Erinnerung an den Sieg im Zweiten Weltkrieg dient heute als falsches Pflaster für den aktuellen Wahnsinn; denn heute werden von der russischen Propaganda die ideologischen Konzepte der Vergangenheit bemüht, um die Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Dieser Krieg hat auch unsere Zukunft zerstört, denn wir, Russen und Russinnen, sind nun alle dazu verdammt, mit Schuldgefühlen gegenüber der Ukraine, den Ukrainerinnen und Ukrainern, zu leben – und zwar endlos, für den Rest unseres Lebens.

Schließlich hat dieser Krieg unsere Gegenwart – das ganze Dasein derjenigen Russen, die mit der Aggression nicht einverstanden sind – ins Sinnlose gewandelt. Seit einem Jahr existieren wir, aber wir leben nicht mehr. Die St. Petersburger Schriftstellerin Natalia Sokolowskaja beschrieb unsere Existenz als „post mortem". Putin hat es geschafft, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft von Millionen von Russinnen und Russen auszulöschen. Doch viele von ihnen sind sich der Folgen nicht einmal bewusst.

Die Gleichgültigkeit von Millionen unserer Landsleute

Um eine furchtbare neue Erkenntnis sind wir ein Jahr seit dem Beginn der Aggression reicher geworden: die Gleichgültigkeit, das Schweigen von Millionen unserer Landsleute. Sie tun weiterhin so, als ob nichts Schreckliches passieren würde. Nehmen wir zum Beispiel die russische Kulturszene, die ich gut kenne. Die Regisseure drehen weiterhin Filme und Theaterstücke. Die Schauspieler spielen in Komödien mit und posieren dann vor Kameras auf Partys. Es ist ein erstaunliches russisches Talent, das Schreckliche auszublenden. Das Wesentliche zu ignorieren. Das Unmenschliche nicht zu bemerken. Die Unfähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Unempfindlichkeit gegenüber dem Bösen – das ist es, was Putins Regime unseren Mitmenschen gelehrt hat. „Sie haben das Böse zugelassen", so hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij einmal über die Russen gesagt und dabei übrigens Leo Tolstoi zitiert. „Warum tun die Russen nichts, um den Krieg zu beenden?", wollten meine ukrainischen Freunde Anfang 2022 wissen. Natürlich habe ich ihnen geantwortet, dass Tausende von mutigen Menschen protestiert haben und weiter protestieren würden – in Moskau, in St. Petersburg und anderen Städten. Aber leider kann die Tapferkeit Einzelner die russische Gesellschaft als Ganzes nicht verändern. Das Problem ist – und dieser Krieg hat es nur noch deutlicher gemacht – dass es in Russland keine Bürgergesellschaft und keine politische Nation gibt. Die Struktur der Gesellschaft im heutigen Russland lässt sich am besten in den Kategorien des feudalen 16. Jahrhunderts beschreiben, nicht mit denen des 21. 

Das Entsetzliche besteht darin, dass die Ukraine nun den Preis für Russlands Sinnesverlust zahlt. Natürlich hat sich Putins Regime verkalkuliert. Es hat die ukrainische Fähigkeit zum Widerstand unterschätzt, aber auch die Tatsache, dass die gesamte zivilisierte Welt nun auf der Seite der Ukraine steht. Der Krieg zieht sich in die Länge, und heute sucht das Putin-Regime verzweifelt nach Erklärungen dafür – und sagt uns jetzt, dass „die ganze Welt gegen Russland im Krieg ist". In gewisser Weise stimmt das auch: Putin hat sich tatsächlich über den gesunden Menschenverstand hinweggesetzt. Er ist derjenige, der den Grundsätzen der menschlichen Nachkriegsordnung, des Zusammenlebens nach 1945, den Krieg erklärt. Gleichzeitig hat Russland, anders als die UdSSR, keine Ideologie, keine Prinzipien. Es gibt keine Allgemeingültigkeit. Putins Gewaltmaschine will einfach die Zeit selbst abschaffen. Sie will, dass die Zeit stehen bleibt, oder, noch genauer, dass alle freiwillig in die Vergangenheit zurückkehren.

Wir verstehen, dass Putins Regime, so brutal es auch sein mag, den Fortschritt nicht aufhalten kann. Es kann die Zeit nicht aufhalten. Welchen hohen Preis muss aber die Welt dafür zahlen, damit Russland begreift, was für einen ungeheuerlichen Fehler es begangen hat? Die meisten Russinnen und Russen haben immer noch keine Ahnung, dass sie für diese wahnsinnige Aktion jahrzehntelang werden bezahlen müssen – auch nach dem Ende des derzeitigen diktatorischen Regimes. Wir alle werden letztendlich die Verantwortung dafür tragen müssen, dass wir das Böse zugelassen haben.

 

Aus dem Russischen übersetzt von Peter Cichon