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Malaysia
Aufbruch oder Enttäuschung?

Malaysia im zweiten Jahr nach dem historischen Regierungswechsel
Answar Ibrahim gilt in Malaysia als "Prime Minister in waiting".
Answar Ibrahim gilt in Malaysia als "Prime Minister in waiting". © picture alliance / AA

Die 2018 neu gewählte Regierung Malaysias trat ihr Amt mit zahlreichen Versprechen an. Sie wollte Korruption bekämpfen, die Wirtschaft antreiben, die Menschenrechtslage verbessern und für Meinungsfreiheit sorgen. Eineinhalb Jahre später zeigt sich die Bevölkerung ernüchtert. Hat sie sich zu viel erhofft oder bleiben für die Reformen noch genügend Zeit?

Bald eineinhalb Jahre ist es her, dass die Wahlen zum Unterhaus im Mai 2018 in Malaysia ein politisches Erdbeben auslösten. Der historische Machtwechsel von der 61 Jahre lang regierenden Barisan Nasional (Nationale Front) zum Oppositionsbündnis Pakatan Harapan (Allianz der Hoffnung) ging mit hohen Erwartungen an die neue Regierung einher, die sich große Ziele gesetzt hatte und von der Bevölkerung mit starkem Vertrauen belohnt wurde. Doch dieses hielt nicht lange an: Genoss die Regierung unter Ministerpräsident Mahathir Mohamad kurz nach dem Machtantritt noch eine Zustimmungsrate von 79 Prozent, so hatte sie sich ein Jahr später auf 39 Prozent halbiert. Gerade viele der jungen Wähler, die sich von dem Regierungswechsel schnelle Reformen und politische Erneuerung erhofft hatten, zeigen sich in Umfragen enttäuscht, hinzu kam noch im Juni/Juli 2019 das Bekanntwerden eines Videos, das angeblich Wirtschaftsminister Azmin Ali bei homosexuellen Handlungen mit einem Parteikollegen zeigt. Auch wenn bald nachgewiesen werden konnte, dass Azmin Ali entgegen aller Anschuldigungen nicht im Video auftaucht, rief es doch bei den Malaysiern Erinnerungen wach. Denn der „Premierminister in Wartestellung“, Anwar Ibrahim, war sowohl 1999 als auch 2010 etliche Jahre wegen verbotener homosexueller Handlungen als auch Sodomie im Gefängnis. Das Video spielte also ganz klar in die Hände der Opposition, auch wenn bislang noch nicht nachgewiesen werden konnte, wer hinter dem Video steckt.

Ganze 60 Wahlversprechen wollte man in der fünfjährigen Legislaturperiode erfüllen. Weitreichende Gesetzesänderungen und Verbesserungen sollten in den Bereichen Lebenshaltungskosten und wirtschaftliche Entwicklung erfolgen. Außerdem hatte man sich institutionelle und politische Reformen, Investitionen in unterentwickelte Regionen sowie eine Aufwertung des nationalen Images vorgenommen. Nach dem ersten Jahr in Regierungsverantwortung ließ Mahathir jedoch verlauten, dass es sich bei dem vor der Wahl herausgegebenen Manifest mit den 60 Versprechen mehr um einen Leitfaden als um eine festgeschriebene politische Agenda handle.

Zu viel versprochen?

Zumindest eines ihrer wichtigsten Projekte konnte die Pakatan Harapan bereits erfüllen: Wie angekündigt wurde die unbeliebte „Goods and Service Tax“ abgeschafft. Wie sinnvoll dieser Schritt war und ob die Steuer tatsächlich die Hauptverantwortung für die steigenden Lebenshaltungskosten trug, ist unter Ökonomen allerdings umstritten.

Im Zuge der Anstrengung, die wirtschaftliche Situation der Bevölkerung zu verbessern, wurden Initiativen für mehr Wohnraum und besseren öffentlichen Nahverkehr gestartet. Außerdem werden Maßnahmen getroffen, um das Gesundheitssystem des Landes zu reformieren und zugänglicher für die breite Bevölkerung zu machen. Jedoch existiert im Land nach wie vor eine große finanzielle Ungleichheit, und für die wichtige junge Wählergruppe gestaltet sich die Existenzgründung weiterhin schwierig. Das Versprechen, die Maut für private Fahrzeuge auf den Bundesstraßen abzuschaffen, hat Pakatan Harapan inzwischen zurückgezogen. Zu groß wäre die finanzielle Bürde für den Staatshaushalt, so die Erklärung.

Wie im Bereich Lebenshaltungskosten konnte Pakatan Harapan auch in der Wirtschaftspolitik zwar Verbesserungen, aber noch keine vollständige Trendwende erzielen. Schuld daran trägt auch die weltweit angespannte Wirtschaftslage. Malaysias ökonomisches System ist eng mit China verbunden. Faktoren wie der Handelskrieg mit den USA, die sich negativ auf die chinesische Wirtschaft auswirken, schaden auch Malaysia enorm. Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich, doch diese Entwicklung begann bereits vor dem Machtwechsel im vergangenen Jahr und kann nicht Pakatan Harapan alleinig angelastet werden. Die neue Regierung versuchte ihr mit Plänen für Entbürokratisierung und einer Steuerreform entgegenzutreten.

Im Bereich Meinungsfreiheit erfüllte die Regierung ihre Versprechen bislang nicht. So kündigte die Pakatan Harapan im Wahlkampf an, kontroverse Gesetze wie der Sedition Act und der Printing Presses and Publications Act, die die Meinungs- und Pressefreiheit bedeutend einschränken, abzuschaffen. Bisher gab es diesbezüglich keine handfesten Resultate.

Initiative zu tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen zeigte die neue Regierung, als sie im Oktober 2018 ankündigte, die Todesstrafe abzuschaffen und ein Moratorium über alle bereits beschlossenen Todesurteile zu erlassen. Seitdem ist die Koalition jedoch auch hier wieder zurückgerudert: Im Frühjahr 2019 gab sie bekannt, die Gesetzeslage, die Richter bei gewissen Urteilen zum Verhängen der Todesstrafe zwinge, zwar zu ändern, die Strafe selbst jedoch vorerst beizubehalten. Das könnte sich hinderlich erweisen für  Pakatans Ziel, die Rechtsprechung und das politische System des Landes an internationale Standards anzupassen und Malaysias Reputation in Sachen Menschenrechte weltweit Ansehen zu verschaffen.

Ministerpräsident Mahathir selbst sieht in der effektiven Bekämpfung der Korruption den größten Erfolg seines politischen Bündnisses. Auch Anwar Ibrahim, der Präsident der liberalen Parti Keadilan Rakyat (PKR) und erkorener Nachfolger Mahathirs, betrachtet die Antikorruptionsmaßnahmen Pakatan Harapans als wichtige Errungenschaft. Wiederholt lobte er das nüchterne Vorgehen der neuen Führung, die Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit und ohne Rachegefühle gegen den politischen Gegner verfolge. Anwars Partei PKR stellt den größten Teil der Pakatan Harapan dar; er ist eine der wichtigsten Figuren innerhalb der Koalition. Nach langjähriger politischer Diskriminierung und Verfolgung, die in international kritisierten Haftstrafen von 1999 bis 2004 sowie 2015 bis 2018 mündeten, konnte Anwar nach dem Sieg seines Bündnisses auf die politische Bühne zurückkehren. Den Weg hierzu ebnete die Aussöhnung mit seinem ehemaligen politischen Gegenspieler Mahathir. Dieser hatte angekündigt, den Posten des Ministerpräsidenten nach zwei Jahren zu räumen und an Anwar zu übergeben. Seither wird der PKR-Chef oftmals als „Prime Minister in waiting“ bezeichnet. Wann er das Amt übernehmen wird, erscheint zum jetzigen Zeitpunkt unklar.

Ein historischer Machtwechsel

Seit der Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich im Jahre 1957 hatte die Barisan Nasional ununterbrochen das Land geführt. Die Koalition, dominiert von den Parteien UMNO, MCA und MIC, die jeweils als Repräsentanten der dominierenden ethnischen Gruppierungen Malaysias fungieren, hatte in ihrem Regierungsstil zunehmend autoritäre Tendenzen erkennen lassen. Unter Ministerpräsident Najib war die Koalition umfangreich in den 1MDB-Skandal verwickelt, der das politische System des Landes tief erschütterte. 2015 kamen Vorwürfe auf, dass sich hochrangige Politiker und Beamte aus einem Fonds bedient haben, der ursprünglich für die Finanzierung eines großangelegten Projektes zur Verbesserung der ökonomischen Zukunftsperspektiven und Infrastruktur bestimmt war. Über viereinhalb Milliarden US-Dollar wurden insgesamt veruntreut. 681 Millionen davon flossen in die Tasche des Ministerpräsidenten, wie dieser selbst einräumte. Er behauptete später, dass das Geld auf einem mit ihm in Verbindung gebrachten Konto eine Spende des saudischen Königshauses gewesen sei und dass er es größtenteils zurückgezahlt habe. Viele Mitglieder der alten Regierung, darunter auch Najib selbst, sind im Fokus dieser Korruptionsermittlungen und könnten für ihre Rolle im 1MDB-Skandal verurteilt werden.

Öffentliche Empörung über die massive Korruption sowie Unzufriedenheit mit dem Politikstil der Barisan Nasional begünstigten schließlich das oppositionelle Bündnis Pakatan Harapan und den früheren Ministerpräsidenten Mahathir Mohamad. Dieser hatte das Land von 1981 bis 2003 als Chef der Barisan Nasional geführt und den späteren Ministerpräsidenten Najib mit aufgebaut. Über ein Jahrzehnt später meldete er sich jedoch als Konkurrent seines ehemaligen Protegés aus dem Ruhestand zurück.  Am 14. Mai 2018 schließlich konnte Pakatan Harapan bei den Wahlen zum Unterhaus des Parlaments 121 von 222 Sitzen erringen und somit die Abstimmung für sich entscheiden und eine Regierung formen. Mahathir wurde mit 92 Jahren erneut zum Ministerpräsidenten ernannt.

Was nicht ist, kann noch werden

Die Pakatan Harapan Koalition hat noch einen weiten Weg vor sich, um die Versprechen, Wünsche und Träume von 2018 zu erfüllen. Gerade in den Bereichen finanzielle Ungleichheit und Menschenrechte hinkt sie ihren Beteuerungen hinterher. Mehr Bewegung und Fortschritt wünschen sich progressive Gruppen im Land auch bei der weiterhin stark an ethnische Zugehörigkeit gebundenen Klientelpolitik. Gerade unter den chinesischen und indischen Minderheiten erhoffte man sich nach dem Regierungswechsel eine graduelle Beendigung  der von der Verfassung vorgeschriebenen Bevorzugung der malaiischen Bevölkerung. Vor allem Ministerpräsident Mahathir stützt sich mit seiner „Malaysian United Indigenous Party” allerdings auf die Stimmen von malaiischen Bewohnern ländlicher Gebiete. Diese mit zu radikalen Reformen zu verschrecken und in die Arme der Barisan Nasional zu treiben, könnte sich für die neue Regierung als gefährlich erweisen. Umfragen sehen aktuell Malaien als die ethnische Gruppierung, die bisher am wenigsten zufrieden mit der Arbeit Pakatan Harapans ist. Um dieser wichtigen Wählergruppe entgegenzukommen, kündigte die politische Führung im November 2018 an, anders als bislang vorgesehen eine UN-Konvention gegen Rassendiskriminierung nun doch nicht ratifizieren zu wollen.

Ein wichtiger Grund, weshalb Pakatan Harapan in ihren Beliebtheitswerten abrutscht, so glauben viele, ist weniger eine ineffiziente politische Initiative, sondern vielmehr die mangelhafte Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Erzielte Fortschritte, wie die Demokratisierung diverser staatlicher Institutionen und die Antikorruptionsmaßnahmen, sind der Bevölkerung teilweise nicht ausreichend als Erfolge vermittelt worden. Wohl auch, weil im Besonderen die institutionellen Reformen einen langwierigen Prozess erfordern und oft nicht unmittelbar Resultate sichtbar sind. Zudem war die Regierung wiederholt mit internen Problemen wie dem Sexvideoskandal um Minister Azmin Ali beschäftigt und wird von dem Usus der Identitätspolitik, die in dem ethnisch tief gespaltenen Land unumgehbar ist, in ihrem Handeln stark eingeschränkt.

Trotz der gesunkenen Zustimmungswerte scheint eine Mehrheit der Bevölkerung Malaysias gewillt zu sein, der neuen Regierung eine weitere Chance zuzugestehen, um ihre Ziele zu erreichen. 67 Prozent der Wähler sind  laut Umfragen von Thinktanks der Meinung, dass die Koalition mehr Zeit benötige, um tiefgreifenden Wandel zu erzielen. Ebenso vertreten einige Ökonomen die Meinung, die wirtschaftliche Lage werde sich in absehbarer Zeit wieder stabilisieren und ein verstärktes Wachstum einsetzen. Dieser Umstand könnte Pakatan Harapan den nötigen Rückenwind verschaffen, den sie braucht, um ihre ambitionierten Reformen umzusetzen und Malaysia zu einem gerechteren und freieren Land zu machen.

 

Max Braunwarth und Patricia Maissen sind Praktikanten im Projektbüro Indonesien und Malaysia der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Jakarta.