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Israel und der Nahostkonflikt
„Auch die USA weiß nicht, wie sie jetzt deeskalieren kann“

Secretary of State Antony Blinken in Israel
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Stefani Reynolds

freiheit.org: Was wird vom Besuch des amerikanischen Außenministers erwartet?

Julius von Freytag: Aktuell leider nicht viel. Es ist wichtig, dass der amerikanische Außenminister in so einer brisanten Lage vor Ort ist. Aber auch die USA weiß nicht, wie sie jetzt deeskalieren kann. Außer dem wichtigen Bekenntnis zu Zweistaatenlösung und der Bitte um Deeskalation führt Blinken keinen klaren Plan mit, wie beides mit amerikanischer Hilfe erreicht werden kann. Aber wir müssen hoffen, dass er Erfolg hat und die moderaten Kräfte stärken kann. Auch die neue rechte israelische Regierung ist gespalten zwischen denen, die auf Eskalation und Konfrontation zusteuern und dem klassischen Sicherheitsestablishment. Der Knessetabgeordnete Zvika Fogel, Parteigenosse des rechtsextremen Polizeiministers, forderte gestern radikale Maßnahmen von Häuserabrissen bis Ermordungen auch vom Umfeld von Attentätern. Dagegen steht der in Sicherheitsfragen eher bedacht abwägende Regierungschef Netanjahu. Blinken kann da hoffentlich deeskalierend wirken.

Sie deuten da auf eine Spaltung der israelischen Regierung hin. Für wie stabil halten sie die neue rechte Koalition unter Netanjahu?

Es wird sich vor allem in so einer Krisensituation zeigen, wie stabil diese Regierung ist. Im Sicherheitsbereich ist sie in jedem Fall gespalten, da stehen extremistische Positionen gegen Sicherheitslogik. Aber auch im Verhältnis Religion und Staat ist man sich uneinig. Nationalreligiöse wollen den Einfluss der eigenen religiösen Auslegungen im Staat stärken, säkulare Rechte wollen das noch weniger als unentschiedene Ultraorthodoxe. Und insbesondere die Rechtsreform, die die Macht der Gerichte drastisch beschneiden soll, spaltet. Während man sich in der Rechten über Reformen einig war, sind jetzt manche von deren Radikalität erschreckt. Und auch die Wirtschaft ist davon beeinflusst. Das ist ein ziemlich destabilisierender Cocktail. Während die Opposition gegen die geplanten Reformen und wegen der innenpolitischen Probleme auf die Straße geht, fehlt aktuell auch in Israel jede Idee, wie man die allgemeine Eskalationslogik wieder zurückdrehen kann.

Sie haben die Lage in Israel beschrieben, wie sieht es dagegen auf der palästinensischen Seite aus?

Fast zwei von drei Palästinensern im Westjordanland sind unter 25 Jahren. Immer weniger fühlen sich von der alternden Palästinensischen Autonomiebehörde mit ihrem 87-jährigen Präsidenten Mahmoud Abbas und den klassischen Parteien vertreten. Bedrohlich ist deswegen auch, dass die Terroranschläge der letzten Monate, vor allem von jungen Einzeltätern verübt wurden. Es bilden sich viele kleine bewaffnete Gruppen ohne zentrale Organisation, die das Westjordanland in eine noch größere Gewaltspirale reißen können. Man kann aktuell deswegen nur hoffen, dass Antony Blinken die Ernsthaftigkeit der Situation deutlich wird und er den US -Präsidenten Joe Biden davon überzeugen kann, den Nahostkonflikt wieder zu einer höheren Priorität der amerikanischen Außenpolitik werden zu lassen.

Julius von Freytag-Loringhoven ist Leiter des Jerusalemer Büros der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit

31 Jan.
31.01.2023 19:00 Uhr
Leipzig

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