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Bildungspolitik
Sprache ist ein demokratisches Werkzeug

Kind mit Buch

Sprache ist die Grundvoraussetzung für Teilhabe an der Gesellschaft. Dass das 8. bildungspolitische Forum des „Leibniz-Forschungsnetzwerks Bildungspotenziale“ (LERN) die „gute sprachliche Bildung“ in den Vordergrund gestellt hat, ist erfreulich. Während der Konferenz diskutierten führende Bildungsforscherinnen und –forscher neue Trends und Erkenntnisse zum Erwerb von Sprachkompetenz. Der Fokus auf die KiTa als Teil des Bildungssystems deckt sich dabei auch mit unseren liberalen Forderungen.

Für Mark Twain war die Sache klar. Wer versucht, sich die furchtbare deutsche Sprache anzueignen, hat viele Gründe, zu verzweifeln: „Falls sie so bleibt, wie sie ist, sollte sie sanft und ehrerbietig zu den toten Sprachen gestellt werden, denn nur die Toten haben genügend Zeit, sie zu lernen." Auch 150 Jahre später bleiben die Geheimnisse von Geschlecht, Genitiv und Großschreibung alles andere als einfach zu entschlüsseln . Doch mit den von Twain veranschlagten 30 Jahren Lernzeit darf sich niemand zufriedengeben. Denn die Sprache ist die Tür zur Teilhabe an der Gesellschaft. Wirtschaft, Kultur, und Politik leben von Kommunikationen, die sich gerade in den Zeiten des Internets ganz wesentlich über das Lesen und Schreiben vollzieht. Michael Becker-Mrotzek, der als Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache in das 8. Bildungspolitische Forum einführte, wies deshalb zurecht darauf hin, dass eine erfolgreiche Sprachbildung wesentlich zur Demokratiebildung beiträgt.

Sprache ist ein demokratisches Werkzeug. Jeder könne sie benutzen, so Becker-Mrotzek, und sie würde nicht aufgebraucht, wenn sie verwendet würde, sondern im Gegenteil reichhaltiger. Sie ist ein Werkzeug zum Kommunizieren und zur Gemeinschaftsbildung, doch kann gerade deshalb auch ausgrenzend wirken. Dies spüren insbesondere die rund sechs Millionen Erwachsenen, die laut LEO-Studie „gering alphabetisiert“ sind. Doch auch viele Kinder und Jugendlichen, vor allem jene ohne muttersprachlichen Hintergrund, kämpfen mit der deutschen Sprache. Dank vielfältiger Studien – IGLU, den IQB-Bildungstrends, PISA, landesspezifischen Sprachstandsfeststellungen und eben auch LEO – gibt es dazu sogar einen recht klaren Faktenstand. Zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Prozent aller Schülerinnen und Schüler, so Becker-Mrotzek, verfügten nicht über die notwendigen Fähigkeiten, um an einer literalen Gesellschaft teilzuhaben. Dies ändert sich erschreckenderweise kaum im Verlauf der Schulzeit. Laut der PISA-Studie 2018 erreicht, abseits des Gymnasiums, jeder Dritte höchstens die Kompetenzstufe 1und kann damit bestenfalls einfache Sätze verstehen. Neben einer Gesamtstrategie für gute sprachliche Bildung forderte Becker-Mortzek vor allen Dingen, die KiTa als Bildungseinrichtung in den Blick zu nehmen. Die Forderungen der Friedrich-Naumann-Stiftung, die KiTa als elementaren Teil des Bildungssystems zu begreifen und den frühkindlichen Bildungserfolg zu überprüfen, entsprechen also ganz dem Stand der Bildungsforschung.

Die von einem breiten Netzwerk aus führenden Bildungsforschungseinrichtungen getragene Veranstaltung bot auch im Anschluss eine Reihe von wichtigen Vorträgen und Podiumsdiskussionen, die verschiedenste Aspekte des Spracherwerbs beleuchteten. Zwei übergreifende Fragestellungen waren dabei bereits in einer flankierenden Stellungnahme formuliert worden. So verwies Marcus Hasselhorn, der Sprecher von LERN, auf den „wachsenden Anteil von Kindern in unserer Gesellschaft, deren Herkunftssprache nicht Deutsch“ ist. Ohne die notwendigen sprachlichen Anregungen, basierend auf einer wirkungsvollen Gesamtstrategie, sei „absehbar“, dass die „jetzt schon hohe Zahl an Bildungsverlierern noch weiter ansteigt.“ Doch auch die Frage der Digitalisierung – als Herausforderung, aber vor allem auch als große Chance – stand im Mittelpunkt der Diskussionen. Diese Gesamtstrategie solle eine durchgängige sprachliche Bildung von der frühkindlichen Bildung bis zum lebenslangen Lernen sicherstellen. Außerdem müsse sie eine produktive Nutzung von Mehrsprachigkeit in den Blick nehmen, die langfristige Fortbildung pädagogischer Fachkräfte berücksichtigen und die Einbeziehung unabhängiger Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft gewährleisten.

Die anschließende Podiumsdiskussion zwischen Alexander Lorz (Hessen), Christian Luft (BMBF), Petra Stanat (IQB), Thomas Lindauer (FH Nordwestschweiz), Martina Diedrich (IfBQ) und Michael Becker-Mortzek vertiefte die oben skizzierten Überlegungen und thematisierte das komplexe Verhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und pädagogischer Praxis. Petra Stanat wies nochmals auf die rasante Zunahme der Heterogenität in den Klassenzimmern. So habe Hessen eine Verdopplung der Zahl der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte zu verzeichnen, in zehn Jahren würden diese mit 53% sogar die Mehrheit stellen. Martina Diederich gab Einblicke in einige Maßnahmen, welche in Hamburg erfolgreich gewesen seien. Dazu gehöre das integrierte Sprachförderkonzept und die sozialindexbasierte Ressourcenverteilung sowie eine kontinuierliche Evaluierung der Lernfortschritte über das Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung. Auch die sprachliche Überprüfung der Viereinhalbjährigen mit der Möglichkeit, die Schulpflicht über ein Vorschuljahr vorzuziehen, habe sich als sinnvoller Weg erwiesen. Mit jedem Jahr KiTa-Besuch sinke der Sprachförderbedarf, so Diederich, auch wenn dies mangels ausreichender empirischer Studien vorerst ein korrelativer Zusammenhang bleibe.

„Sprache ist das Medium, in dem Menschen, ihre Welt, ihre Kultur und sich selbst erschaffen“, zitierte Thomas Lindauer am Anfang seiner Keynote die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, „deshalb hängt vom Gebrauch dieser Produktivkraft wortwörtlich alles Weitere ab.“ Am Beispiel der multisprachlichen Schweiz, die sich zwischen 1830 und 1900 von einem rohstoffarmen und bildungsfernen Auswanderungsland zu einem Zentrum des Handels, der Technik und des Tourismus entwickelt habe, zeichnete Lindauer anschließend die zentrale Rolle der damaligen Bildungsoffensive nach. Die damaligen Erfolgsfaktoren können auch heute noch inspirieren. Zum einen wäre der Fokus auf „bildungsferne“ Kinder/Jugendliche zu nennen, was sich damals durch den Bau neuer Schulgebäude ausgedrückt hätte, die leicht für alle zu erreichen gewesen seien. Zudem habe die Professionalisierung der Lehrkräfte mit einem verbindlichen Curriculum und einer angemessenen Besoldung wesentlich zum Schweizer Erfolg beigetragen. Abschließend sei zudem die Konzentration aufs Wesentliche zu bemerken. Bildung in Sprache und Schrift in allen Schulfächern und durch alle Schuljahre hinweg habe eine besondere Rolle gespielt, um ganze Generationen mit den Fähigkeiten auszustatten, die für die aufstrebende Handelsnation wichtig gewesen seien. Sprachunterricht war dabei stets mit dem Fachunterricht verbunden.

Die darauffolgenden Foren sowie ein umfangreiches Angebot an „digitalen“ Postern rundeten das bildungspolitische Forum ab. Die Besucherinnen und Besucher konnten so Einblicke in die Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift“ gewinnen, das TRIO-Projekt zur Verbesserung von Fortbildungen kennenlernen oder sich von Nicole Marx über „Erkenntnisse zur sprachlichen Entwicklung neu zugewanderter Bildungsteilnehmender“ informieren lassen. Die durchgehend anregenden Beiträge, auf deren Veröffentlichung in einigen Wochen man gespannt sein darf, haben wesentlich zum besseren Verständnis der aktuellen Herausforderungen im Bereich der Sprachbildung beigetragen. Deutlichwurde dabei die Notwendigkeit einer langfristigen Perspektive sowie die besondere Bedeutung der Implementierung. Wissenschaft, Praxis und Politik müssen über einen längeren Zeitraum miteinander ins Gespräch treten und Lösungen diskutieren, implementieren und evaluieren. Von großen Forschungsnetzwerken bis zu kleinen „Hochschulperlen“ wie der Augsburger Initiative „DaZ-Buddies“ in der Studierende des Fachs „Deutsch als Fremdsprache“ mit Sprachlernenden  zusammengebracht werden, ist vor allem eine Offenheit für vielfältige und innovative Ansätze wichtig. Ob dazu, wie Mark Twain einst Vorschlug, die Abschaffung des Dativs gehört, sei allerdings dahingestellt.