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Türkei
Zustand der türkischen Justiz ist alarmierend

Ein Gastbeitrag von Volkan Aslan.
 Eine Person hält ein Plakat mit dem Bild des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu während einer Protestkundgebung

Eine Person hält ein Plakat mit dem Bild des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu während einer Protestkundgebung.

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Tolga Uluturk

Nach der Verhaftung des abgesetzten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu hat die Kritik an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei mehr denn je zugenommen. Die aktuellen Entwicklungen am Bosporus lassen den Verdacht aufkommen, dass die Justiz eher politisch motiviert als rechtsstaatlich organisiert ist.

 

Ausgangspunkt der aktuellen Entwicklung im März war die Entscheidung der Universität Istanbul, die Abschlüsse von Absolventen – darunter auch des türkischen Oppositionsführer Imamoglu – zu annullieren. Im gleichen Zeitraum wurde Imamoglu festgenommen und später verhaftet, dennoch aber als Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen CHP aufgestellt. Es gibt zahlreiche Gründe, die den dringenden Verdacht aufkommen lassen, dass die Justiz aus politischen Motiven mobilisiert wird: Der Zeitpunkt der Verhaftung Imamoglus kurz vor seiner Kandidatur für den Präsidentschaftswahlkampf, die Verhaftung und Entlassung zahlreicher Bürgermeister, die Oppositionsparteien angehören, die Tatsache, dass in vielen Gemeinden Korruptionsvorwürfe auf die Tagesordnung gesetzt, aber keine Ermittlungen gegen Bürgermeister, die der Regierungspartei angehören, eingeleitet wurden.

Um diesen gesamten Prozess besser beurteilen zu können, ist es angebracht, auf die Ereignisse seit Oktober 2024 zu schauen. Akin Gürlek, Istanbuls Oberstaatsanwalt, der die Ermittlungen gegen Imamoglu führt, war als stellvertretender Minister im Justizministerium tätig und wurde Anfang Oktober 2024 vom Rat der Richter und Staatsanwälte zum Oberstaatsanwalt von Istanbul ernannt. Bis 2022 war Gürlek Strafrichter und seine Urteile in vielen Fällen, in denen Politiker und wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verurteilt wurden, bemerkenswert. Beispielsweise setzte das 14. Istanbuler Landgericht, dessen Vorsitz Gürlek 2020 innehatte, die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Bezug auf den oppositionellen Abgeordneten Enis Berberoglu, dem sein Parlamentssitz entzogen wurde, nicht um. Es führte die Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Verletzung von Berberoglus Recht, gewählt zu werden und sich politisch zu betätigen, und die Aussetzung des Verfahrens, mit der Begründung nicht aus, dass „eine Angemessenheitsprüfung durchgeführt wurde“. 2022 wurde Gürlek dann Vize-Justizminister. Dieses Amt hatte er bis Oktober 2024 inne. Zurück in Istanbul gab es Ermittlungen gegen Kommunalpolitiker der türkischen Metropole. So wurde Ahmet Özer, der Bürgermeister von Esenyurt, dem bevölkerungsreichsten Bezirk Istanbuls, aufgrund von Ermittlungen der Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft festgenommen und am 30. Oktober 2024 unter dem Vorwurf angeblicher Verbindungen zu einer illegalen Organisation verhaftet. Im Januar 2025 wurde Riza Akpolat, Bürgermeister von Besiktas, einem anderen Bezirk Istanbuls, aufgrund von Bestechungsvorwürfen verhaftet. Beide Bürgermeister gehören, wie auch Imamoglu, der größten Oppositionspartei CHP an.

Probleme der türkischen Justiz

Die Justiz in der Türkei war vielleicht noch nie unparteiisch und unabhängig in einem idealen Sinne. Diese Situation hat sich in den zurückliegenden Jahren verschlechtert. In diesem Zusammenhang sei kurz auf die Zusammensetzung des Rates der Richter und Staatsanwälte hingewiesen, der für die Zulassung zum Beruf, die Ernennung und die persönlichen Rechte der Richter und Staatsanwälte zuständig ist. In der ursprünglichen Fassung der Verfassung setzte sich der Rat aus Mitgliedern zusammen, die vom Präsidenten der Republik aus den von den Mitgliedern des Kassationshofs und des Staatsrats vorgeschlagenen Kandidaten ausgewählt wurden. Mit den Verfassungsänderungen von 2017 wurde dieses System abgeschafft und die Befugnis zur Wahl der Mitglieder zwischen dem Präsidenten und der Großen Nationalversammlung der Türkei (TBMM) aufgeteilt. Der auf diese Weise gebildete Rat der Richter und Staatsanwälte ist befugt, über Fragen wie die persönlichen Rechte der Richter und Staatsanwälte in der Türkei, ihre Ernennung und ihre Versetzung zu entscheiden. Daher kann der Rat die Zusammensetzung der Gerichte und Staatsanwaltschaften nach eigenem Ermessen festlegen.

All diese Überlegungen führen zu folgendem Fazit: In der Türkei sind der Präsident und das Parlament verantwortlich, die Mitglieder des Rates der Richter und Staatsanwälte und die Mitglieder der Obersten Gerichte zu ernennen. Mit Ausnahme eines kurzen Zeitraums zwischen Juni und November 2015 hat eine Partei beziehungsweise ein Parteienbündnis seit 2002 sowohl die Exekutive als auch die Mehrheit im Parlament inne. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Rat der Richter und Staatsanwälte, der für die Zulassung zum Beruf, die Beförderung, die Disziplinarverfahren und die Versetzung von Richter- und Staatsanwaltskandidaten zuständig ist, sowie der Kassationshof und der Staatsrat, die beide mit ihren Mitgliedern an der Bildung dieses Rates beteiligt sind und deren Mitglieder vom Rat bestimmt werden, keine ausreichenden Garantien in Bezug auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bieten. Die Tatsache, dass gegen die Entscheidungen des Rates der Richter und Staatsanwälte kein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, es sei denn, es handelt sich um eine Entlassung aus dem Beruf, und die Tatsache, dass der Rat alle Arten von Entscheidungen in Bezug auf Richter und Staatsanwälte, einschließlich Versetzungen, treffen kann, erschwert Richtern und Staatsanwälten auf allen Ebenen eine freie Entscheidung, insbesondere in Fällen politischer Natur, mit denen sie betraut werden. Richter und Staatsanwälte, die versuchen, trotz des Drucks unparteiische und unabhängige Entscheidungen zu treffen, können leicht ersetzt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz in der Türkei, nach 2017 weiter untergraben wurde. Hinter dieser Situation stehen die Verfassungs- und Gesetzesänderungen der letzten Jahre sowie die politischen Entwicklungen in der Türkei. An dieser Stelle macht es Sinn, ein weiteres Beispiel anzuführen: Obwohl das Verfassungsgericht im Jahr 2023 eine Entscheidung gegen die Inhaftierung des Abgeordneten Can Atalay erließ, wurde sie von der dritten Strafkammer des Kassationsgerichts nicht umgesetzt, und Can Atalay wurde nicht freigelassen. Trotz dieses eindeutig verfassungswidrigen Schritts gab die Regierung Erklärungen ab, in denen sie die Entscheidung des Kassationsgerichtshofs unterstützte; infolgedessen ignorierte die Große Nationalversammlung der Türkei das Urteil des Verfassungsgerichts und entzog Atalay sein Parlamentsmandat.

Schlussfolgerung

Das derzeitige türkische Politsystem ist weit davon entfernt, die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Gerichte zu gewährleisten. Insbesondere die Organisation und die Zusammensetzung der Gerichte, die Fälle politischer Natur verhandeln, können nach Belieben beeinflusst werden. In einem solchen System spielt es keine Rolle, wer Richter und Staatsanwalt ist. Die politische Macht verfügt über ausreichendelegaleMittel, um in die Justiz einzugreifen, wenn sie dies will.

 

Dieser Artikel erschien erstmals am 6. Mai 2025 in der Deutschen Richterzeitung.