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Türkei
Forderungen nach vorgezogenen Wahlen und eine Rückkehr zum parlamentarischen System

Recep Tayyip Erdogan hält eine Rede während der Fraktionssitzung seiner Partei in der großen türkischen Nationalversammlung in Ankara, Türkei, am 1. Dezember 2021.
picture alliance / AA | Murat Kula

Nicht wenige Experten sehen das autoritäre Regime in der Türkei in den letzten zwei Jahren in Auflösung begriffen. Im Türkei-Bericht des Forschungsunternehmens Istanbul Economics Research, veröffentlicht im Oktober 2021, erkennen die Autoren im Auftreten der aus den Regierungsparteien AKP und MHP bestehenden „Nationsallianz“ (Millet İttifakı) und der aus den Oppositionsparteien CHP, IYI-Partei, DEVA-Partei, Zukunftspartei GP, Saadet-Partei und Demokratische Partei DP bestehenden „Volksallianz“ (Cumhur İttifakı) ebenfalls Anzeichen für eine Erosion der AKP-Wählerbasis. Die Wirtschaftslage ist derweil desolat, pandemiebedingte Schließungen, das Fehlen einer angemessenen staatlichen Unterstützung für mittlere und kleine Unternehmen sowie eine hohe Inflation bei Lebensmitteln und Energieprodukten machen dem Land schwer zu schaffen. Vor diesem Hintergrund drängt die Opposition inzwischen darauf, die für 2023 geplanten Wahlen in das kommende Jahr vorzuziehen.

Zugleich bestimmen derzeit Debatten über das Verfassungssystem die politische Agenda der Türkei. Die Oppositionsparteien sind entschlossen, das 2018 eingeführte Präsidialsystem wieder in ein – gestärktes – parlamentarisches System zurückzuführen und die Balance zwischen Legislative, Exekutive und Judikative sowie die gegenseitigen Kontrollmechanismen wiederherzustellen. Dieser Wunsch entspricht Umfrageergebnissen, denen zufolge 68 Prozent der Menschen sich eine Rückkehr zum alten oder sogar ein noch stärkeres parlamentarisches System wünschen.

Die Gruppe der genannten sechs Oppositionsparteien – innerhalb und außerhalb des Parlaments – steht bereits in Verhandlungen, um Konsens zu konkreten Aspekten eines solchen Systemübergangs zu erzielen. Mit Beendigung ihrer fünften Sitzung einigten sie sich darauf, im Falle künftiger Regierungsverantwortung die Instrumente der mündlichen und schriftlichen Anfrage, der Anfragen und Anträge von Ministern im Parlament, des Misstrauensvotums und der parlamentarischen Untersuchung (wieder) einzuführen, das Budgetrecht an die Große Türkische Nationalversammlung (TBMM) zu übertragen und die Kontrollmechanismen zu stärken. Darüber hinaus stimmten sie überein, dass die Sperrklausel von 10 auf 3 Prozent gesenkt werden und der Präsident künftig parteipolitisch unabhängig agieren solle, bei einer Amtszeit von sieben Jahren je Wahlperiode.

Demgegenüber hält das Regierungsbündnis daran fest, dass das Präsidialsystem die „Zukunft der Türkei“ sei. Die Haltung der Regierung in dieser Systemdebatte wie in vielen anderen Fragen hat sichtbar zu einer Erosion ihrer Wählerbasis geführt. Can Selçuki, Gründer von Istanbul Economics Research, weist jedoch darauf hin, dass mit Abnehmen der Wählerbasis der Regierungsparteien zunächst vor allem die Zahl der unentschlossenen Wähler steigt.

Zum ersten Mal seit langem wird die Möglichkeit einer Wahlniederlage von Präsident Erdoğan nicht mehr nur von der Opposition, sondern auch von der gesamten Öffentlichkeit diskutiert. Das Wahlverhalten der Unentschlossenen, im Oktober 2021 von Istanbul Economics Research mit 17 Prozent beziffert, könnte den Ausgang der kommenden Wahlen bestimmen. Angesichts der durch die Devisenkrise ausgelösten Inflation und der sich dadurch verschärfenden Lage der armen Stadtbevölkerung gilt es als sehr wahrscheinlich, dass aus der traditionellen Wählerbasis der AKP noch viele in die Gruppe der Unentschlossenen wechseln werden. Für den Erfolg der Oppositionsparteien bei den kommenden Wahlen könnte daher entscheidend sein, ob sie glaubhaft für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit eintreten und dem polarisierten politischen Klima ein eher verbindendes Profil gegenüberstellen können.