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Karabach Konflikt
Nach Rücktritt von Ministerpräsident Paschinyan

Werden Neuwahlen die innenpolitische Krise in Armenien beenden?
Armenian Big Flag
Große armenische Flagge während der Demonstration © FNF Südkaukasus

28: April 2021

Am 25. April ist der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinyan zurückgetreten und macht damit den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei. Paschinyan bleibt geschäftsführend im Amt. Seit dem Ende des Krieges um Nagorny Karabach steckte das Land in einer tiefen innenpolitischen Krise, begleitet von großen Protestdemonstrationen. Teile der Bevölkerung geben Paschinyan die Schuld am verlorenen Krieg mit Aserbaidschan und den damit verbundenen Gebietsverlusten und fordern seinen Rücktritt.

Über die aktuelle politische Situation in Armenien sprach freiheit.org mit Armen Grigoryan, Projektkoordinator der Stiftung für die Freiheit in Armenien, und ihrem Projektleiter im Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann.

 

freiheit.org: Armenien ist nach dem Krieg mit Aserbaidschan im Herbst 2020 in einer tiefen politischen und ökonomischen Krise. Wie ist die aktuelle Lage?

Peter-Andreas Bochmann: Seit dem Krieg ist die politische Lage des Landes sehr fragil. Oppositionelle Kräfte forderten den Rücktritt des armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinyan und die Schaffung einer Interimsregierung, die Neuwahlen organisieren soll. Allerdings gelang es der Opposition nicht, ihr Ziel zu erreichen, obwohl sie für Wochen die Straßen am Parlamentsgebäude blockierten: es fehlte echter Rückhalt in der Bevölkerung.

Zugleich bewegt das Land weiterhin das Schicksal der Kriegsgefangenen, die in Aserbaidschan inhaftiert sind. Dies sorgte für Turbulenzen, da immer wieder Familienangehörige Straßen und Regierungsgebäude belagerten und Aufklärung über das Schicksal der Soldaten und deren Rückkehr erwarten.

Im Vertrag vom 9. November 2020 hatten alle Seiten die Rückführung der Kriegsgefangenen vereinbart. Bislang fanden zwei Austausche statt, im Dezember 2020 und im Februar 2021. Die immer noch in Aserbaidschan festgehaltenen etwa 100 Inhaftierten kommen aber noch nicht frei, da sie nach Auffassung Aserbaidschans keine Kriegsgefangenen, sondern Terroristen und Saboteure seien, die nach dem 9. November festgenommen wurden.

 

freiheit.org: Nach vielen Diskussionen in der Gesellschaft, ob die Regierungspartei „My Step“ und ihr Ministerpräsident Paschinyan weiterregieren können und sollen, hat der MP vorgezogene Neuwahlen für Juni 2021 angekündigt. Wie sind die Regularien bis dahin?

Armen Grigoryan: Nach dem fehlgeschlagenen Militärcoup, angeführt vom Chef des Generalstabes der Armee von Armenien, Onik Gasparyen, hatte Ministerpräsident Paschinyan mehrere Treffen mit verschiedenen politischen Kräften, in deren Ergebnis er am 18. März verkündete, dass es am 20. Juni Neuwahlen geben werde.

Am 25. April, welcher seit 2019 als Feiertag zum Gedenken an die “Samtene Revolution” von 2018 begangen wird, trat Ministerpräsident Paschinyan zurück, um den Weg für Neuwahlen freizumachen. Neuwahlen können dann stattfinden, wenn der Ministerpräsident zurücktritt und das Parlament in zwei Wahlgängen keinen Nachfolger wählt. Die erste Möglichkeit zur Neuwahl besteht am siebenten Tag nach dem Rücktritt. Falls kein Kandidat von den Fraktionen vorgeschlagen wird oder die Mehrheit erreicht, gibt es nach sieben Tagen eine zweite Möglichkeit. Falls es erneut zu keiner Wahl eines Ministerpräsidenten kommt, muss das Parlament nach dem Gesetz aufgelöst werden. Neuwahlen müssen dann innerhalb von 30 bis 45 Tagen abgehalten werde.

 

freiheit.org: Wie sieht die Partnerpartei der Stiftung für die Freiheit, „Bright Armenia Party“ (BAP), die mit 18 Abgeordneten nach ihrem recht guten Abschneiden mit 8 Prozent bei den Wahlen im Dezember 2018 im Parlament vertreten ist, die Entwicklungen?

Peter-Andreas Bochmann: Die BAP war aktiv in die Verhandlungen über Neuwahlen einbezogen. Die Partei will keine Allianz mit einer anderen politischen Partei eingehen, davon ausgehend, dass sie es allein wieder ins Parlament schaffen wird. Der Parteivorsitzende Edmon Marukyan verurteilte allerdings die vorgeschlagenen Änderungen am Wahlgesetz, die die Regierungspartei „My Step“ ins Parlament einbrachte. Er ist der Meinung, dass so schnelle Wahlgesetzänderungen unpassend für so kurzfristig anberaumte Wahlen seien.

Die Regierungsmehrheit hat diese Änderungen jedoch bestätigt. Dabei geht es um die Abschaffung des Systems, wonach die Stimmberechtigten Kandidaten direkt in ihren Wahlbezirken wählen können, die dann die Zusammenstellung der Parteilisten entsprechend beeinflusst. Einige weitere Änderungen bedürfen noch der Zustimmung der Venedig-Kommission. Am 22. April hat sie bereits positiv auf die ersten Vorschläge reagiert, erwartet jedoch weitere Verbesserungen.

Generell kann festgestellt werden, dass BAP eine aktive Rolle bei der Überwindung der Krise spielt. Die Partei wird regelmäßig in den Medien zitiert, was sich positiv auf deren Wiederwahl auswirken kann.

 

freiheit.org: Wie schätzt die andere FNF Partnerpartei „Armenian National Congress“ (ANC) die Lage ein? Ihr 76-jähriger Vorsitzender Levon Ter-Petrosyan ist immerhin der erste Präsident Armeniens.

Armen Grigoryan: Der erste Präsident Armeniens Levon Ter-Petrosyan spielte während des 44tägigen Krieges in den Medien eine aktive Rolle. Auch er forderte den Rücktritt Paschinyans und die Organisation von Neuwahlen durch einen neutralen Ministerpräsidenten. Er schlug den parteipolitisch nicht gebundenen jetzigen stellvertretenden Ministerpräsidenten vor. Dieser Vorschlag wurde jedoch abgelehnt.

Nach der Ankündigung von Neuwahlen ist der ANC, der derzeit nicht im Parlament vertreten ist, wieder aktiv geworden. Aus verschiedenen Mitteilungen ist erkennbar, dass die Partei wahrscheinlich an den Wahlen teilnehmen wird - dann möglicherweise unter Führung von Ter-Petrosyan. Die endgültige Entscheidung darüber soll am 1. Mai auf einem Parteikongress fallen.


 

Nikol Pashynian

nikol-pashinyan profile
Offizielles Profilbild © www.gov.am

freiheit.org: Nach dem Krieg rückte Armenien aus vielerlei Gründen wieder näher an Russland heran. Wird Russland Einfluss auf die Wahlen nehmen? Wie ist die generelle Wahrnehmung Russlands in Armenien?

Peter-Andreas Bochmann: Nach dem Krieg und der Stationierung von Friedenstruppen in Nagorny Karabach hat sich Russlands Präsenz in Armenien wesentlich erhöht. Russland wird in großen Teilen der Bevölkerung als Retter der “Reste” von Nagorny Karabach. wahrgenommen. Die armenische Führung ist in permanentem Kontakt mit Moskau und versucht auch auf diesem Weg, das Problem der Kriegsgefangenen zu lösen. Außerdem geht es um die Reform der Streitkräfte mit Russlands Hilfe. Die gegenwärtige Regierung und Administration zeigen mit allem, was sie tun, ihre Abhängigkeit von Moskau; das trifft aber auch auf die Opposition zu. Und in der gegenwärtigen Situation muss jeder, der nach Macht strebt, die Zukunft im Zusammenwirken mit Russland als strategischen Verbündeten sehen. Je sicherer ist, dass ein Wahlgewinner im Einklang mit Russlands Interessen in der Region steht, je geringer wird Russlands Einfluss auf die Wahlen sein. Damit würde Russland auch das angestrebte Image, freie und faire Wahlen nicht zu behindern, in den Augen der Armenier bewahren. Generell ist die Wahrnehmung Russlands nicht negativ, denn der mit Hilfe Russlands ausgehandelte Vertrag vom 9. November hat den Krieg beendet. Es muss auch angemerkt werden, dass viele Armenier in Russland arbeiten und ihre Familien zuhause finanziell unterstützen.

 

freiheit.org: Was sind die Erwartungen der Armenier, insbesondere der Jugend? Welche Wahlergebnisse erhoffen sie sich und für welche Entwicklung ihres Landes setzen sie sich ein?

Armen Grigoryan: Die Gesellschaft geht durch eine traumatische Erfahrung, sind doch mehr als 5.000 Tote während des Krieges zu beklagen. Und trotzdem gibt es kein klares Verständnis darüber, wie sich Armenien geopolitisch positionieren sollte, wie die Verteidigung organisiert werden müsste und welche politische Marschrichtung generell eingeschlagen werden könnte. Die Neuwahlen werden als ein Heilmittel zur Überwindung der politischen Krise und der Legitimierung der aktuellen Regierung angesehen. Keine andere politische Kraft wird als Alternative gesehen. Die politische Opposition ist zu einem großen Teil mit der korrupten Vergangenheit verbunden, die das Land auf einen Krieg nicht vorbereitet hatte. Im Ergebnis gibt es allgemeine Apathie, was auch bei Umfragen zum Ausdruck kommt. Angesichts dessen ist es fraglich, ob die bevorstehenden Wahlen die Krise im Land beenden können.

 

freiheit.org:  Welche Rolle spielt der Genozid? Warum ist die internationale Anerkennung so wichtig für die Armenier?

Armen Grigoryan: Der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich spielt eine maßgebliche Rolle in der kollektiven Erinnerung der Armenier in Armenien, aber auch in vielen anderen Ländern. Der 24. April ist der Tag der Erinnerung. Die internationale Anerkennung des armenischen Genozids ist das Hauptziel der armenischen Diaspora-Organisationen als repräsentative Vertreter derer, deren Eltern und Großeltern den Genozid überlebten.

Nach der Unabhängigkeit 1991 war die Anerkennung des Genozids erst einmal nicht Bestandteil der armenischen Außenpolitik. So sollte verhindert werden, dass ein historischer Fakt in der aktuellen Debatte politisiert werden konnte. Während der Präsidentschaft Ter-Petrosyans versuchte Armenien eine Normalisierung mit der Türkei, und die Anerkennung des Genozids war dafür keine Vorbedingung. Erst 1998 änderte sich das mit dem zweiten Präsidenten Armeniens. Seitdem hat Armenien auf verschiedenen internationalen Ebenen die Anerkennung des Genozids gefordert. Manche Experten sahen das kritisch, da damit das Verhandeln um den Genozid begann.

Am 24. April 2021 hat US Präsident Joe Biden in seiner Gedenkrede anlässlich der Deportation und der Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich den Genozid anerkannt. Damit trat die USA der langen Liste mit Ländern wie beispielsweise Frankreich, Deutschland und Russland, die den Genozid anerkennen, bei.

Die Anerkennung hat eine immense moralische Bedeutung für die Armenier, die dies als Anerkennung eines historischen Traumas vor mehr als einem Jahrhundert sehen. Und man hegt die Hoffnung, dass diese Anerkennung Einfluss auf Veränderungen in der Türkei hat, was vielleicht ein erster Schritt zu einer kritischen Neueinschätzung der Geschichte durch die türkische Gesellschaft sein könnte.