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Syrien
Dramatische Gewalteskalation in Syrien drei Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes

Syrer versammeln sich, um gegen die Angriffe der Truppen des gestürzten Assad-Regimes auf Mitglieder der Allgemeinen Sicherheitsverwaltung in Latakia zu protestieren.

Syrer versammeln sich, um gegen die Angriffe der Truppen des gestürzten Assad-Regimes auf Mitglieder der Allgemeinen Sicherheitsverwaltung in Latakia zu protestieren.

© picture alliance / Anadolu | Izettin Kasim

Fast exakt drei Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes ist die Gewalt in Syrien dramatisch eskaliert. Während nach dem Machtwechsel im Dezember viele Beobachter positiv überrascht waren, dass sich die weit verbreiteten Befürchtungen vor islamistisch motivierter Gewalt und Racheakten gegen die zahlreichen religiösen und gesellschaftlichen Minderheiten Syriens zunächst nicht bzw. nicht in dem befürchteten Ausmaß bestätigten, erreichen die Weltöffentlichkeit seit dem 6. März schockierende Berichte und grausame Bilder: Bei der Niederschlagung eines Aufstands ehemaliger Einheiten des Assad-Regimes gegen die neuen Machthaber sollen militärische Kräfte der neuen syrischen Regierung unter Interimspräsident al-Sharaa und vor allem mit ihr verbündeter islamistischer Milizen laut Berichten bis zu 1.000 Zivilistinnen und Zivilisten ermordet haben – die meisten von ihnen Angehörige der alawitischen Minderheit, darunter zahlreiche Frauen und Kinder.

Unser Regionalbüroleiter für den Mittleren Osten und Nordafrika, Jörg Dehnert, sprach über die dramatischen Entwicklungen in Syrien mit Rafif Jouejati, Vizepräsidentin der Syrian Liberal Party (AHRAR) und Präsidentin der Foundation to Restore Equality and Education in Syria (FREE-Syria).

Die Weltöffentlichkeit reagiert schockiert auf die jüngsten Berichte über Massaker an Zivilisten, insbesondere an Angehörigen der alawitischen Gemeinschaft. Was sich genau zugetragen hat, ist noch unklar – unterschiedliche Narrative und Schuldzuweisungen machen eine Einordnung schwierig. Wie bewerten Sie die Lage?

Die Situation ist stark von Desinformation geprägt, eine objektive Einschätzung fällt entsprechend schwer. Nach meiner Einschätzung, basierend auf Berichten von Aktivistinnen und Aktivisten und der Beobachtung von Nachrichten, führten die Verteidigungskräfte der Übergangsregierung Sicherheitsoperationen zur Beschlagnahmung illegaler Waffen durch. Dabei kam es zu Gefechten mit sogenannten Störern des Assad-Regimes. Beide Seiten – sowohl Anhänger des ehemaligen Regimes als auch Einheiten der Sicherheitskräfte – tragen Verantwortung für zivile Opfer. Die Gewalt richtet sich keineswegs ausschließlich gegen Alawiten. Jede Form außergerichtlicher Tötung muss konsequent verurteilt und strafrechtlich verfolgt werden. Die Rede von Interims-Präsident Ahmad Al-Sharaa am 8. März war ein wichtiges Signal – entscheidend ist jedoch, dass seinen Worten nun auch konkrete Taten folgen.

Viele hatten diese Gewalt bereits im Dezember nach dem Sturz des Assad-Regimes erwartet. Nun scheint sie mit Verzögerung einzusetzen. Droht eine Eskalation bis hin zu einem Bürgerkrieg? Könnte auch die Einheit Syriens gefährdet sein? Wie reagiert die Gesellschaft?

Wenn die akute Situation nicht schnell entschärft wird, drohen bewaffnete Auseinandersetzungen – möglicherweise ein Bürgerkrieg. Doch es gibt eine starke Reaktion der Zivilgesellschaft: Proteste, Stellungnahmen und Forderungen nach unabhängiger Aufklärung nehmen zu. Ein zentrales Problem ist die mangelnde Auseinandersetzung mit Übergangsjustiz – sie ist jetzt dringender denn je.

Laut einer UNHCR-Umfrage planten rund 40 % der syrischen Flüchtlinge in Ägypten, Libanon und Jordanien ihre Rückkehr. Könnte die aktuelle Gewalt dies verhindern? Was können die Nachbarländer tun, um Stabilität in Syrien zu fördern?

Viele Nachbarländer unterstützen bereits die Übergangsregierung – jetzt braucht es konkrete Taten: finanzielle Hilfe, Umsetzung bestehender Zusagen und idealerweise eine Lockerung der Wirtschaftssanktionen. Rückkehrwillige Flüchtlinge werden nur dann zurückkehren, wenn sie eine Perspektive sehen.

Kurz gesagt: „Es geht ums Geld.“ Wer ein Dach überm Kopf, Arbeit und Einkommen hat, kann am Wiederaufbau mitwirken. Armut und Hunger hingegen führen zu neuer Instabilität.

Es wird vermutet, dass externe Akteure wie Iran und Russland die Unruhen nutzen, um ihren Einfluss in Syrien zurückzugewinnen. Wie groß ist deren Einfluss?

Externe Kräfte wie Iran, Russland und auch Israel tragen zur Instabilität bei. Während einige externe Akteure die Situation durch Waffenlieferungen und gezielte Desinformation verschärfen, müssen mit Blick auf Israel die Angriffe und Besetzung syrischen Territoriums, die auch unter dem Vorwand des Minderheitenschutzes erfolgen, ein Ende finden. Die internationale Gemeinschaft muss entschlossener handeln und äußere Einmischung unterbinden. Israel hat Syrien im Grunde schutzlos zurückgelassen, während das Land vor einem schwierigen Kampf gegen bewaffnete Gruppen steht, die keine demokratische Zukunft unterstützen.

Ermutigend ist, dass sich die syrische Zivilgesellschaft erstmals seit mehr als fünf Jahrzehnten öffentlich und hörbar für ein demokratisches, inklusives Syrien einsetzt. Im ganzen Land fordern Menschen ein Ende der konfessionell-religiösen Spaltung und mehr Rechtsstaatlichkeit. Diese Bewegung verdient stärkere internationale Unterstützung. Förderzusagen müssen eingehalten und zivilgesellschaftliches Engagement gezielt gestärkt werden. Ein entscheidender Schritt wäre auch hier die Aufhebung der Sanktionen – sie treffen derzeit vor allem die Bevölkerung.

Bei Medienanfragen kontaktieren Sie bitte:

Florian von Hennet
Florian von Hennet
Leiter Kommunikation, Pressesprecher
Telefon: + 4915202360119