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Kanada
Parlamentswahlen in Kanada: Liberaler Premierminister Justin Trudeau im Amt bestätigt

Eine Frau schaut eine Wahlsendun von CTS News auf dem Fernseher, die einen feiernden Justin Trudeau zeigt.
Justin Trudeau wird auch in Zukunft an der Spitze der Regierung stehen, sehr wahrscheinlich wird er wie bisher eine Minderheitsregierung führen. © picture alliance / NurPhoto | Artur Widak

Nach Auszählung der großen Mehrheit der Stimmen ist klar: Der Vorsitzende der kanadischen Liberalen Partei (LP), Justin Trudeau wird auch in Zukunft an der Spitze der Regierung stehen. Sehr wahrscheinlich wird er wie bisher eine Minderheitsregierung führen. Sein vorrangiges Wahlziel hat er allerdings verfehlt: Die Erreichung einer absoluten Mehrheit der Sitze im kanadischen Parlament in einem für die Liberalen positiven politischen Klima.

Die vorgezogenen Neuwahlen in Kanada haben einen klaren Sieger, der jedoch sein eigentliches Wahlziel deutlich verfehlte. Die Liberale Partei (LP) wird voraussichtlich im neuen Parlament 158 der insgesamt 338 Sitze halten. Dazu reichten aufgrund des kanadischen Wahlrechts, das dem britischen sehr stark gleicht, etwas mehr als 32 % der Stimmen. Das ist ein Zugewinn von nur einem Sitz, zur absoluten Mehrheit wären 170 Sitze notwendig gewesen. Die größte Oppositionspartei, die Konservativen, erhielten mehr Stimmen – ca. 34%, erreichten jedoch nur 119 Mandate und verlieren damit zwei. Drittstärkste Kraft im neuen Parlament wird der Bloc Québécois (BQ), der für die Unabhängigkeit der frankophonen – und sehr bevölkerungsreichen – Provinz eintritt und sein Ergebnis bei den Parlamentssitzen leicht verbessern konnte (von 32 auf 34, 7,7% der Stimmen). Das gilt auch für die New Democratic Party (NDP), eine sozialdemokratisch orientierte Partei mit einem Fokus auf Minderheitenrechte und soziale Fragen, die sich von 24 auf 25 Sitze (17.7% der Stimmen) verbessern konnten. Die Wahlergebnisse von NDC und BQ und die daraus resultierenden Sitzanteile verdeutlichen besonders deutlich die Spezifik des Wahlsystems: Da die Stimmen des BQ geographisch sehr stark konzentriert sind, schlagen sie sich in mehr Sitzen nieder als das mehr als doppelt so hohe Wahlergebnis der NDP, die im ganzen Land Stimmen erhielt. Die Grünen erreichten 2 Sitze im Parlament.

Wie ist das Wahlergebnis zu erklären?

Die Politik der liberalen Regierung in Kanada während der Corona-Pandemie fand in der Bevölkerung breite Zustimmung. Die Regierung setzte sowohl Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als auch eine Impfkampagne konsequent um – heute hat Kanada die höchste Impfquote unter den G7-Staaten. Die Hilfsmaßnahmen für Unternehmen und wirtschaftlich betroffen Bürger werden von den meisten Kanadiern als erfolgreich und sinnvoll eingestuft. Justin Trudeau, der im Jahr 2015 mit einem sehr deutlichen Wahlsieg an die Macht gekommen war, 2019 aber die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament verloren hatte, genießt weiterhin gute Zustimmungswerte. Sein Image und das seiner Partei haben jedoch unter einigen Skandalen in der Regierung gelitten. So sah er die Zustimmung zur Pandemie-Politik als Chance, seinen Amtsbonus zu nutzen und wieder eine Mehrheit zu erreichen.

Es gibt verschiedene Gründe, warum diese Kalkulation nicht aufgegangen ist. Der wichtigste ist wohl das Unverständnis vieler Wählerinnen und Wähler über die Entscheidung, zu diesem Zeitpunkt überhaupt Wahlen auszurufen. Viele Menschen haben nicht verstanden, warum während einer noch nicht endgültig überwundenen Pandemie und ohne Probleme, die politischen Entscheidungen der Minderheitsregierung im Parlament durchzusetzen, eine Wahl notwendig war. In den letzten beiden Jahren fand Justin Trudeau immer relativ leicht Mehrheiten im Parlament, zumeist mit Unterstützung der New Democratic Party (NDP) unter Jagmeet Singh.

Gleichzeitig gelang es der Opposition wenigstens teilweise, die Skandale innerhalb der Regierung der vergangenen Jahre ins Gedächtnis der Wählerinnen und Wähler zurückzurufen. Dagegen hat sich die Pandemiepolitik, und insbesondere das Verhältnis zu den Impfungen, positiv für die Liberalen ausgewirkt. Die Stimmung innerhalb der Bevölkerung ist in großen Teilen sehr impffreundlich, gerade im Vergleich mit einigen Teilen der USA. Die Konservativen hatten Probleme, hier eine klare Position zu finden, und verloren so etwas von dem Momentum, das sie wenige Wochen vor der Wahl noch verspürten.

Insgesamt lässt sich zudem beobachten, dass sich das Wahlverhalten in Kanada – wie auch in vielen anderen Demokratien – immer stärker fragmentiert. Keine Partei kommt auch nur annähernd an die Marke von 40% der Stimmen heran, die früher für viele Wahlsieger normal gewesen ist. Fragen der Ideologie und der Wahrnehmung der eigenen Identität spielen für viele Wähler eine wachsende Rolle bei der Wahlentscheidung. Fragen wie der Umgang mit Abtreibung und das Verhältnis zur Zuwanderung (in einem historisch sehr zuwanderungsfreundlichen Land) spielen verstärkt eine Rolle für bestimmte Wählergruppen.

Was bedeutet der Wahlausgang für die Zukunft Kanadas und seine Rolle in der Welt?

Justin Trudeau wird seine Politik fortsetzen, die auf marktwirtschaftlichen Grundsätzen ebenso beruht wie auf dem Prinzip eines offenen, vielfältigen Kanadas. Über diese herrscht ein Konsens, der weit über die Liberalen hinausgeht – die Unterschiede bestehen eher in der Nuancierung. Gleichzeitig sieht er sich einer stabilen und starken konservativen Opposition gegenüber. Es bleibt abzuwarten, welche Rolle die NDP in Zukunft spielen wird, inwieweit sie sich mit der Rolle des Mehrheitsbeschaffers für Trudeau begnügen werden und ob sie eigene politische Forderungen durchsetzen wollen und können. Ähnliches gilt für den BQ – es ist derzeit schwer abzusehen, inwieweit es gelingt, dem Kampf für mehr Eigenständigkeit der Provinz Quebec neue Dynamik zu geben.

Neben der Wirtschaftspolitik werden für Trudeaus neue Amtszeit auch wichtige innenpolitische Fragen eine Rolle spielen: Die Aufarbeitung des Umgangs mit den „First Nations“ (den indigenen Völkern) spielt dabei ebenso eine Rolle wie der Umgang mit Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes. Die Förderung von Erdöl und Erdgas ist weiterhin ein sehr wichtiger Faktor in Kanada. Kanada gilt als Musterland der Migrationspolitik, doch das Land erlebt derzeit eine zunehmend intensive und kontroverse Debatte über die Zukunft der Migration nach Kanada, insbesondere was potentielle Flüchtlingsströme betrifft. Diesen Fragen wird sich die alte und neue Regierung stellen müssen.

Auf der globalen Bühne wird der kanadische Premierminister versuchen, die Stimme Kanadas für eine stabile internationale Ordnung mit einem Fokus auf Menschenrechte und Demokratie einerseits und freien und fairen Handel andererseits noch stärker hörbar zu machen. Der aktuelle Konflikt zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den USA auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite könnte ihn in eine Vermittlerrolle rücken, da Kanada traditionell zu beiden Seiten exzellente Beziehungen unterhält. Für die globale Bühne ist eine Kontinuität des kanadischen Auftretens zu erwarten: Kanada legt einen besonderen Fokus auf Menschenrechte und scheut die Auseinandersetzung mit autoritären und totalitären Regimes nicht, wie etwa mit China.

Essentiell für Kanada sind zudem die bilateralen Beziehungen zu den USA. Hier hat Präsident Biden für Irritationen gesorgt, als er den Weiterbau der Keystone Pipeline blockierte, die kanadisches Öl durch die USA transportieren soll. Trudeau wird versuchen, die Beziehungen zu den USA zu verbessern, aber gleichzeitig konsequent kanadische Interesse vertreten. Dass er das kann, hat er gegenüber Präsident Trump deutlich gemacht – und damit viel Zustimmung in Kanada generiert.

Die Beziehung zu den Ländern der Europäischen Union sind traditionell sehr gut und werden es in Zukunft bleiben. Es ist zu hoffen, dass es möglichst zeitnah gelingt, die Handelsbeziehung auf die Basis eines umfassenden Abkommens, CETA, zu stellen, was derzeit am Widerstand in einigen Ländern in Europa, u.a. in Deutschland, scheitert.