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Südkorea
Südkoreas Sonnenscheinpolitik: Neustart unter Moskaus Schatten

Ein Gastbeitrag von Frederic Spohr bei Internationale Politik.
Lee Jae-myung

Südkoreanischer Präsident Lee Jae-myung.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Hong Hae-in

Das erste Zeichen der Annäherung hat der neue südkoreanische Präsident, Lee Jae-myung, nur wenige Tage nach seiner Amtseinführung Anfang Juni 2025 gesendet: Er wies seine Armee an, die kontinuierliche Lautsprecher­beschallung des Nordens zu stoppen. 

Rund ein Jahr lang hatten aus riesigen Anlagen an der Grenze K-Pop-Songs und südkoreanische Propaganda geschallt. Die Geste zeigte Wirkung. Auch die Nordkoreaner stellten ihre Lautsprecheroperation ein und verkünden an der Grenze nun nicht mehr die Überlegenheit ihres Systems. Der Kampf per Lautsprecher ist seit jeher ein Gradmesser für die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel.

Mit der neuen Ruhe an der Grenze ist Lee seinem großen Ziel einer Annäherung an den Norden ein kleines Stück näher gekommen. „Wir werden die Wunden von Teilung und Krieg heilen und eine Zukunft des Friedens und Wohlstands gestalten“, sagte er in seiner Antrittsrede. Zudem forderte er offene „Gesprächskanäle, um Frieden auf der koreanischen Halbinsel zu schaffen“. Doch der Weg dorthin ist weit.

Lee will an die traditionell dialog- und kompromissorientierte Nordkorea-Politik seiner progressiven Minju-Partei anknüpfen. Deren Präsidenten wie Kim Dae-jung und Roh Moo-hyun erhielten für die Initiierung der sogenannten Sonnenscheinpolitik zwischen 1998 und 2008 internationale Anerkennung – Kim sogar den Friedensnobelpreis. Auch der vorherige progressive Präsident, Moon Jae-in, ging auf den Norden zu. Er nutzte die Olympischen Winterspiele 2018 für eine diplomatische Offensive, unterstützte zudem die historischen Treffen zwischen Kim Jong-un und US-Präsident Donald Trump in Singapur und Hanoi 2018 und 2019 – und traf Machthaber Kim Jong-un an der Demilitarisierten Zone und in Pjöngjang.

Dass Lee diese Tradition fortsetzen will, zeigt sich auch in seiner Personalpolitik. So nominierte er mit Chung Dong-young einen früheren Mitgestalter der Sonnenscheinpolitik zum Wiedervereinigungsminister; Chung bekleidete dieses Amt bereits Mitte der 2000er Jahre. Unter ihm wurde etwa die gemeinsame Industrie­zone Kaesong eingerichtet, die allerdings 2016 wegen wachsender Spannungen stillgelegt und teilweise abgebaut wurde. 

Erste Versuche, auf Tuchfühlung zu gehen, laufen. Lees Wiedervereinigungsministerium hat sechs südkoreanischen Nichtregierungsorganisationen gestattet, Kontakt mit Nordkorea aufzunehmen und gemeinsame humanitäre und kulturelle Projekte zu starten. Unter Lees Vorgänger Yoon Suk-yeol gab es praktisch keinen Kontakt südkoreanischer NGOs mit dem Norden – mit Ausnahme der Hilfe bei einer Flutkatastrophe im vergangenen Jahr.

Russland als entscheidender Akteur

Die innerkoreanischen Beziehungen sind jedoch stets auch von den Dynamiken zwischen den Großmächten sowie vom jeweiligen Verhältnis der beiden Koreas zu ihnen abhängig. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben sich die geopolitischen Rahmenbedingungen massiv verändert – mit erheblichen Auswirkungen auf die koreanische Halbinsel. Russland ist durch seine enge politische, militärische und wirtschaft­liche Kooperation mit Nordkorea zu einem einflussreichen Akteur in der Region geworden. Der neue sozialliberale Präsident Lee könnte darauf andere Antworten finden als sein konservativer Vorgänger Yoon und wieder stärker auf Russland zugehen. Deswegen hat Lees Wahlsieg in westlichen Hauptstädten Nervosität ausgelöst.

Zwar betont Lee die Wichtigkeit des südkoreanisch-amerikanischen Bündnisses sowie der trilateralen Zusammenarbeit mit Japan – insbesondere im Hinblick auf die Bedrohung durch Nordkorea. Zugleich versprach er jedoch eine Diplomatie mit den Nachbarstaaten, die sich an „nationalem Interesse und Pragmatismus“ orientiert. Gemeint sind damit nicht nur Nordkorea, sondern auch China und Russland.

Bereits im Wahlkampf hatte Lee angekündigt, das Verhältnis zu Russland und China verbessern zu wollen. Er verwies auf die „Nordpolitik“ des konservativen Präsidenten Roh Tae-woo in den 1990er Jahren, der durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Moskau und Peking auch den Dialog mit Nordkorea erleichtern wollte. Der Begriff „Nordpolitik“ ist eine Anlehnung an Willy Brandts Ostpolitik, der für ein besseres deutsch-deutsches Verhältnis auf die Sowjetunion zuging.

In Gesprächen hinter verschlossenen Türen warnten europäische Diplomaten bereits: Lee könne ein „Freund Russlands“ sein. Für Unruhe sorgte auch Lees Aussage im Wahlkampf, wonach der Taiwan-Konflikt für Südkorea keine Relevanz habe und Südkorea deswegen seine Beziehungen zu China nicht aufs Spiel setzen sollte – eine Position, die in Washington Irritationen hervorrief. 

Ein solcher Politikwechsel wäre ein klarer Bruch mit der Linie von Yoon, der die Allianz mit den USA weiter vertieft, Südkorea an Japan und die NATO angenähert und auch die Beziehungen zur Europäischen Union gestärkt hatte. Die EU und Südkorea unterzeichneten im vergangenen Jahr eine Verteidigungs- und Sicherheitspartnerschaft, die unter anderem eine engere Rüstungskooperation vorsieht. 

Auch Deutschland vertiefte seine Partnerschaft zu Südkorea. Die Bundesrepublik ist seit 2024 Teil des United Nations Command (UNC), einer US-geführten Struktur zur Aufrechterhaltung des Waffenstillstands. Auch im Bereich Cyber­sicherheit arbeiten die Länder immer enger miteinander.

Vor allem zeigte sich Yoons Westbindung in der konsequenten Unterstützung der Ukraine durch Kredite, nichttödliche Waffen – und indirekt sogar durch Artilleriemunition, die Südkorea an die USA lieferte, damit diese eigene Bestände ­Kyjiw geben konnten. Südkorea war damit wohl zumindest phasenweise wichtigster Munitionslieferant der Ukraine. Zudem schloss sich Seoul den westlichen Sanktionen gegen Russland an – keine einfache Entscheidung für ein Land, das vor dem Angriffskrieg rund 10 Prozent seiner fossilen Energieträger aus Russland bezog.

Erstarktes Nordkorea

Während Yoon auf den Westen setzte, vollzog Nordkorea eine strategische Neuausrichtung. Russlands Krieg gegen die Ukraine veränderte Pjöngjangs Ausgangsposition grundlegend. Kim Jong-un bot sich Moskau als Partner an. Das isolierte Land hatte plötzlich etwas zu bieten, das Russland dringend braucht: Munition und Truppen. 

Die Folgen dieser Annäherung sind geopolitisch und militärisch weitreichend. Nordkoreas langjährige Isolation ist weitgehend aufgehoben. Das Sanktionsregime wegen des nordkoreanischen Atomprogramms ist erodiert. Russland ignoriert nicht nur die UN-Sanktionen, an deren Formulierung es einst mitwirkte, sondern sabotiert inzwischen deren Umsetzung. So legte Moskau ein Veto gegen die Verlängerung des Mandats des UN-Expertengremiums ein, das Sanktionsverstöße dokumentierte. Die Kontrolle obliegt nun einem „Multilateral Sanctions Monitoring Team“ (MSMT), an dem auch Deutschland beteiligt ist. Da China und Russland nicht dabei sind, ist die politische Wirkung des Gremiums reduziert.

Noch gravierender ist die militärische Kooperation zwischen Nordkorea und Russland. Im Juni 2024 unterzeichneten beide Seiten ein Partnerschaftsabkommen mit Beistandsklausel. Bereits zuvor hatte Nordkorea Russland Waffen geliefert. Geheimdienste schätzen, dass mittlerweile mehr als 20 000 Container mit Artilleriemunition nach Russland gelangten. Kim schickte außerdem Kurzstreckenraketen vom Typ KN-23 und gewaltige Koksan-Haubitzen. Nordkoreanische Soldaten trugen dazu bei, dass Russland den ukrainischen Angriff in der Region Kursk zurückschlagen konnte.

Welche Gegenleistungen Moskau gewährt, ist unklar. Vieles spricht für Devisen und technologische Hilfe – auch im Rüstungsbereich. Zwei neue, im Rekordtempo gebaute Zerstörer erinnern auffällig an russische Modelle. Zudem wurden erstmals seit 2020 wieder Zug- und Postverbindungen zwischen beiden Ländern aufgenommen. In einem geplanten Tourismusresort sollen bald russische Gäste Urlaub machen und Devisen ins Land bringen.

In dieser neuen Konstellation hat Nordkorea seine Position gegenüber Südkorea deutlich gestärkt. Ob Pjöngjang überhaupt noch an einem innerkoreanischen Dialog interessiert ist, erscheint fraglich. Im Januar 2024 erklärte Kim Jong-un, dass Nordkorea keinerlei Ambitionen auf eine friedliche Wiedervereinigung mehr habe und bezeichnete den Süden als „Hauptfeind“. In der Folge sprengte das Regime Wiedervereinigungsmonumente und stellte seine Propaganda um. Offizielle Karten, beispielsweise im Hintergrund von Nachrichtensprecherinnen, zeigen nur noch Nordkorea und nicht mehr die gesamte Halbinsel.

Annäherungsversuche von Donald Trump ließ Pjöngjang unbeantwortet. Trump strebt eine Deeskalation auf der Halbinsel an – zum einen für sein Image als Friedenspräsident, zum anderen, weil er den Korea-Konflikt eher als Nebenschauplatz betrachtet. Sein Fokus liegt auf der Eindämmung Chinas. Seine Berater und Militärs betonen, dass die fast 30 000 amerikanischen Soldaten, die in Südkorea sind, strategisch auf China ausgerichtet werden sollten. Für Ruhe auf der Halbinsel wäre Trump wohl zu deutlichen Zugeständnissen bereit. Er und seine Berater sprachen bereits von der „Atommacht“ Nordkorea – was die Möglichkeit einer ­Anerkennung andeutet.

Vorerst außenpolitische Kontinuität

Südkoreas neuer Präsident Lee hatte im Wahlkampf Seouls proukrainische Politik für die Verschärfung der Lage auf der Halbinsel verantwortlich gemacht. Im Amt zeigt Lee bislang allerdings keinen Kurswechsel. Beim G7-Gipfel in Kanada äußerte Lee keine Kritik am westlichen Kurs gegenüber Russland. Zwar nahm er eine Einladung zum NATO-Gipfel nicht an, schickte aber seinen Top-Berater Wi Sung-lac. In einem ersten Gespräch zwischen Lee und NATO-Generalsekretär Mark Rutte bekräftigten beide, die Kooperation weiter ausbauen zu wollen, insbesondere im Rüstungsbereich.

Auch gegenüber Japan setzt Lee Jae-myung die Linie seines Vorgängers fort. Die koloniale Vergangenheit (1910–1945) belastet das Verhältnis der beiden Staaten bis heute. In der Opposition hatte Lee den Aussöhnungskurs seines Vorgängers Yoon noch als „geschichtslos“ kritisiert. Nun betont er selbst die Notwendigkeit eines stabilen Verhältnisses zu Japan – mit dem man einen „gemeinsamen Hinterhof“ teile.

Zwei Gründe sprechen für diese grundsätzliche Fortsetzung von Yoons Politik. Erstens bleibt unklar, wie sich Trumps ­Ukraine- und Russland-Politik entwickeln wird – Südkorea orientiert sich stark an den USA. Zweitens entspricht die Fortführung einer konservativen Außenpolitik der Stimmung in der Bevölkerung. Damit hat Lee ein gutes Argument gegenüber dem linken Flügel seiner Partei, der skeptisch gegenüber den USA ist und vor einer zunehmenden Entfremdung von Russland und China warnt.

Laut einer Umfrage des Thinktanks East Asia Institute sehen 80 Prozent der südkoreanischen Bevölkerung die USA als wichtigsten Partner, weniger als 10 Prozent China und nicht mal 1 Prozent Russland. Zudem haben knapp zwei Drittel der Südkoreaner heute ein positives Bild von Japan, nur ein Drittel ein negatives. Vor fünf Jahren war das noch umgekehrt.

Nach dem russischen Angriffskrieg

Eine neue Dynamik könnte entstehen, wenn der Angriffskrieg gegen die Ukraine endet. Spätestens wenn die USA ihre Russland-Sanktionen beenden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch Lee wieder anstreben wird, seine Beziehungen zu Russland zu verbessern.

In Europa mag man davon ausgehen, dass sich die Beziehungen mit Russland auch nach dem Krieg kaum normalisieren werden. Im südkoreanischen Außenministerium rechne man dagegen mit einer zügigen Rückkehr zu einer Situation, die der vor dem russischen Überfall gleicht, berichten Diplomaten in Seoul. Laut südkoreanischen Zeitungen bereiten heimische Unternehmen sich bereits darauf vor, wieder mit Russland ins Geschäft zu kommen.

Auch Russland dürfte nach einem Ende des Ukraine-Krieges schnell wieder bemüht sein, seine Beziehungen zu Südkorea zu normalisieren. Wladimir Putin dürfte das Interesse an Nordkorea dann schnell verlieren und die Zusammenarbeit mit Pjöngjang herunterfahren. Statt auf Waffenlieferungen aus dem Norden wird Moskau dann auf Investitionen aus Südkorea sowie auf Absatzchancen auf dem dortigen Energiemarkt hoffen. Kim Jong-un wäre wieder allein von China abhängig. Der nordkoreanische Machthaber dürfte dann auch wieder deutlich interessierter an einem Dialog mit Südkorea und den USA sein. Lee Jae-myung und Donald Trump stehen bereit. 

 

Dieser Artikel erschien erstmals am 18. August 2025 bei Internationale Politik.