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Wahlen in Tschechien
Tschechien vor den Wahlen: Die wichtigsten Entwicklungen vor den Parlamentswahlen im Oktober

Andrej Babiš, Vorsitzender der ANO-Bewegung, begrüßt Anhänger während einer Wahlkampfveranstaltung.

Andrej Babiš, Vorsitzender der ANO-Bewegung, begrüßt Anhänger während einer Wahlkampfveranstaltung.

© picture alliance / Anadolu | Lukas Kabon

Die tschechischen Parlamentswahlen am 3. und 4. Oktober könnten nicht nur Konsequenzen für Tschechien, sondern auch für Deutschland und die EU haben. Seit dem Ukraine-Krieg sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien intensiver geworden: Gemeinsame Initiativen zur Unterstützung der Ukraine und in der NATO sind zentrale Grundpfeiler geworden. Sollte, wie die Umfragen vermuten lassen, die populistische Partei ANO als stärkste Kraft hervorgehen, könnte dies Herausforderungen für die deutsch-tschechischen Beziehungen mit sich bringen. Eine Regierung unter ANO könnte den bisherigen pro-europäischen Kurs in Frage stellen, was auch die europäische Geschlossenheit in Fragen von Sicherheit und der Ukraine beeinflussen könnte.

Im Vorfeld der tschechischen Parlamentswahlen am 3. und 4. Oktober liegt Andrej Babiš‘ ANO-Bewegung in den Umfragen vorn und erhöht damit die Herausforderungen für die tschechische Demokratie und Europa. Die Wahl findet vor dem Hintergrund veränderter Sicherheitsdynamiken, zunehmender Polarisierung und einer Premiere für tschechische Bürger im Ausland statt: der Briefwahl. Die wichtigsten Fragen sind nun, wie tief die Spaltungen sind, und ob sie Prags politische Zukunft verändern.

Im Vorfeld der tschechischen Parlamentswahlen am 3. und 4. Oktober hat sich die ANO-Bewegung des ehemaligen Premierministers Babiš, die sich mittlerweile der Fraktion „Patrioten für Europa“ im Europäischen Parlament angeschlossen hat, als Spitzenreiter herauskristallisiert. Da ANO sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene an rechtsextreme Akteure heranrückt, gibt es immense die Herausforderungen für die tschechische Demokratie und für Europa insgesamt. Gleichzeitig finden die Wahlen vor dem Hintergrund tiefgreifender Veränderungen im politischen und sicherheitspolitischen Umfeld Europas statt. Die Möglichkeit eines Regierungswechsels in Prag ist durchaus gegeben. Die Wahlen 2025 bringen zudem eine bedeutende Neuerung mit sich: Erstmals können im Ausland lebende oder stationierte tschechische Bürger ihre Stimme per Briefwahl abgeben.

Debatten um Demokratie und Meinungsfreiheit gewinnen zunehmend an Bedeutung. Diese beiden Prinzipien, die lange als Säulen der Tschechischen Republik nach 1989 galten, stehen heute allgemein unter Druck. Die Bedrohungen werden von den unterschiedlichen Gruppen allerdings sehr unterschiedlich wahrgenommen. Die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen wohlhabenden und ärmeren Bürgern sowie zwischen Liberalen und Konservativen vertieft sich weiter. Ob diese Kluft weiter wächst oder überbrückt werden kann, wird nicht nur Tschechiens nächste Regierung prägen, sondern auch ihre Rolle bei der Verteidigung der liberalen Demokratie in Europa.

Gespaltene Stimmung vor der Wahl

Die Muster des Wählerengagements offenbaren eine zwischen Resignation und Entschlossenheit gespaltene Gesellschaft. Senioren über 65 bleiben die zuverlässigste Wählergruppe; rund siebzig Prozent von ihnen planen, ihre Stimme abzugeben, und bilden damit eine solide Basis für den ANO-Vorsitzenden Andrej Babiš. Im Gegensatz dazu beabsichtigen nur 57 Prozent der Erstwähler teilzunehmen, eine Zahl, die die Herausforderungen unterstreicht, vor denen liberale und progressive Parteien in Tschechien stehen. Unternehmer und öffentliche Angestellte beteiligen sich überdurchschnittlich hoch an der Wahl, während Haushalte mit niedrigem Einkommen wenig engagiert sind. Wechselwähler entwickeln sich zu einer entscheidenden Gruppe, deren Entscheidungen sowohl vom Wahlkampfstil als auch von der Angst vor möglichen Allianzen von ANO mit extremistischen Kräften wie der rechtsextremen SPD-Bewegung (Freiheit und direkte Demokratie, nicht zu verwechseln mit der deutschen SPD) geprägt sind.

Hinter dieser Dynamik verbergen sich eine Reihe drängender Probleme, die die öffentliche Agenda dominieren. Steigende Lebenshaltungskosten bleiben das wichtigste Thema, das in fast allen Bevölkerungsgruppen Anklang findet und konkurrierende Narrative sowohl von Regierung als auch Opposition befeuert. Jüngere Wähler betonen Wohnungsnot, Senioren und Unternehmer betonen Korruption und Familien mit Kindern sorgen sich am meisten um die Gesundheitsversorgung. Dennoch glauben viele Bürger, dass Politiker der Außenpolitik, der Sicherheit oder dem Klima mehr Aufmerksamkeit widmen als dem alltäglichen wirtschaftlichen Druck. Geringes Vertrauen verschärft das Problem: Eine Mehrheit der Befragten ist der Meinung, dass es der tschechischen Politik an Ehrlichkeit und grundlegender Anständigkeit mangelt und viele bezweifeln das Einhalten von Wahlversprechen.

Diese allgemeine Stimmung der Ernüchterung erstreckt sich auch auf die Wahrnehmung der Richtung und der Außenorientierung des Landes. Nur 15 Prozent der Tschechen glauben, dass sich ihr Land in die richtige Richtung bewegt, während 43 Prozent sagen, es sei auf dem falschen Weg. Zwei Fünftel beschreiben die Situation als stagnierend. Besonders stark ist die Skepsis unter Senioren und gewohnheitsmäßigen Nichtwählern, während jüngere Menschen etwas optimistischer bleiben. Gefragt nach der geopolitischen Ausrichtung, befürworten 42 Prozent eine feste Verankerung im Westen, nur 3 Prozent befürworten eine Hinwendung nach Osten und mehr als 55 Prozent tendieren zu einer „Neutralität“, die oft weniger als strategische Blockfreiheit, sondern vielmehr als Wunsch nach Stabilität abseits globaler Konflikte verstanden wird. Die Unterstützung für eine Westorientierung ist unter Unternehmern und Beamten am stärksten ausgeprägt, unter einkommensschwachen Haushalten und desinteressierten Wählern am schwächsten – ein Hinweis darauf, dass wirtschaftliche Missstände nicht nur die Innenpolitik, sondern auch Tschechiens Stellung in Europa prägen.

Welchen Weg wird Tschechien einschlagen?

Die Debatte über Tschechiens internationale Ausrichtung hat sich im Vorfeld der Wahlen intensiviert. Präsident Petr Pavel warnte, dass jedes Gespräch über einen Austritt aus der EU oder der NATO dem Land schaden würde, während die oppositionelle ANO-Bewegung, der von ihren Rivalen oft eine Ostorientierung vorgeworfen wird, öffentlich ihr Bekenntnis zu westlichen Strukturen bekräftigt. Analysten sind sich einig, dass ANO selbst weder starke prorussische Sympathien noch pragmatische Interessen an einer grundlegenden Neuausrichtung der Außenpolitik hat. Diese Position wird auch vom stellvertretenden ANO-Vorsitzenden Karel Havlíček geteilt, der betonte, dass Tschechiens NATO-Mitgliedschaft nicht zur Debatte stehe.

Bedenken bestehen jedoch hinsichtlich potenzieller Regierungspartner von ANO. Eine Koalition, die von der rechtsextremen SPD oder der linken Stačilo!-Bewegung (Genug!) abhängig ist, könnte Tschechiens Westorientierung erschweren. Beide Gruppen betreiben eine Anti-EU- und Anti-NATO-Rhetorik, wobei Stačilo! sogar den Austritt aus beiden Bündnissen und einen Regimewechsel fordert. SPD-Vorsitzender Tomio Okamura schlug eine Neutralität nach österreichischem Vorbild vor und lässt damit Zweifel an der Fortführung des bisherigen außenpolitischen Kurses aufkommen, falls solche Kräfte Einfluss auf die Regierung gewinnen.

Seit dem Rechtsruck von ANO fehlt es Tschechien an einer echten liberalen Vertretung auf politischer Ebene. Während die Partei der „Bürgermeister und Unabhängigen“ (STAN) in der tschechischen Politik als liberal ausgerichtete Alternative auftritt, hat sie auf europäischer Ebene weiterhin enge Verbindungen zur konservativen EVP. Die Parteivorsitzenden trafen sich jedoch mit der liberalen Renew Europe, um im Vorfeld der Europawahlen 2024 eine engere Zusammenarbeit zu besprechen. Die Tatsache, dass ANO trotz ihrer Abkehr von liberalen Werten noch immer Teil von Renew Europe war, erschwerte die Situation damals. Dennoch positionierte sich STAN als eine Partei, die bereit ist, die liberale Vertretung in der tschechischen Politik zu stärken, solange sie Überschneidungen mit Babiš vermeidet. Wie erfolgreich die STAN-Partei die zukünftige Ausrichtung Tschechiens beeinflussen kann, bleibt abzuwarten.

Die Zusammensetzung des nächsten Kabinetts könnte auch Umfang und Ton der Außenpolitik bestimmen. Ein scharfer Bruch ist zwar unwahrscheinlich, doch konfrontative Rhetorik oder mangelnde Aufmerksamkeit könnten Tschechiens Glaubwürdigkeit im Ausland schädigen. Dies hätte Konsequenzen für die weitere Unterstützung der Ukraine, die Teilnahme an internationalen Missionen und die Stärkung der nationalen Verteidigungskapazitäten. Gleichzeitig dürften einige Konstanten der tschechischen Außenpolitik unabhängig von der Regierung bestehen bleiben – darunter die stabilen Beziehungen zu Israel und das Zögern, konkrete Schritte zur Einführung des Euro zu unternehmen.

Ein größeres langfristiges Risiko liegt weniger in direkten politischen Veränderungen als vielmehr in der Normalisierung extremistischer Narrative. Sollten die etablierten Parteien im Austausch für parlamentarische Unterstützung die Rhetorik radikaler Partner akzeptieren, könnten diese Ideen die öffentliche Debatte und den politischen Diskurs allmählich prägen. Selbst ohne sofortige Gesetzesänderungen würde ein solcher Wandel Tschechiens Glaubwürdigkeit, Stabilität und Sicherheit innerhalb der europäischen und transatlantischen Gemeinschaft schwächen.

Deutschland: Der Partner, den Prag nicht ignorieren kann

Deutschland wird auch nach den Wahlen eine zentrale Säule der tschechischen Außenpolitik bleiben, doch der Ton der Beziehungen könnte stark von der Zusammensetzung der nächsten Regierung abhängen. Analysten der Association for International Affairs (AMO), einem tschechischen Thinktank und Partner der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit, weisen darauf hin, dass die Beziehungen zu Berlin und Warschau angespannter werden könnten, wenn ANO mit direkter parlamentarischer Unterstützung von links- oder rechtsextremen Kräften regiert. Insbesondere für Deutschland steht viel auf dem Spiel: Berlin hat ein pragmatisches Interesse daran, Tschechien fest in seinem Einflussbereich zu halten, um eine weitere disruptive Herausforderung für die europäische Einheit in Mitteleuropa zu vermeiden.

Sollte ANO stattdessen als Einparteien-Minderheitsregierung mit nur indirekter Unterstützung von Parteien wie Stačilo, der SPD oder den Autofahrern regieren, ist ein vorsichtigerer Ansatz wahrscheinlich. In diesem Fall würde das Außenministerium wahrscheinlich von einem Berufsdiplomaten geleitet, der mit der täglichen Pflege der Beziehungen betraut wäre, während die strategische EU- und Sicherheitspolitik direkt vom Büro des Premierministers gesteuert werden würde. Eine solche Regelung würde darauf abzielen, zumindest eine funktionale Zusammenarbeit mit Deutschland aufrechtzuerhalten, würde aber auch eine weniger proaktive und eher reaktive tschechische Außenpolitik signalisieren – in einer Zeit, in der Berlin eine enge Abstimmung mit seinen wichtigsten Partnern erwartet.

Wer kann regieren? Die Umfragen weisen den Weg

Anzeichen für steigende Wählerstimmen für ANO zeigten sich bereits bei den Senats- und Landtagswahlen im September 2024. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ging ANO mit 40,3 Prozent in der zweiten Runde und zwölf Sitzen als Sieger aus dem Rennen bei den Senatswahlen hervor, auch wenn die Regierungskoalition Spolu von Premier Petr Fiala mit 37 Sitzen die relative Mehrheit behielt. Zur Erklärung: Der tschechische Senat wird alle zwei Jahre zu einem Drittel neu besetzt (27 der 81 Sitze). Obwohl ANO also von allen Parteien, die in dieser Runde antreten, den höchsten Stimmenanteil (Sitze) errang, werden die restlichen Sitze von anderen Parteien gehalten. ANO dominierte auch die gleichzeitig abgehaltenen Regionalwahlen und gewann in zehn von 13 Regionen. Die Wahlbeteiligung war jedoch aufgrund schwerer Überschwemmungen niedrig. Prag – traditionell eine Hochburg der Konservativen und Liberalen – nahm nicht an den Regionalwahlen teil. Dennoch gelang es Andrej Babiš, die Wahlen in ein Referendum über die nationale Politik umzudeuten.

Die jüngste STEM-Umfrage vom 21. September bestätigt ANOs Vorsprung mit 30,9 Prozent, verglichen mit 23 Prozent für Spolu, das leicht nachgegeben hat. Die Partei Bürgermeister und Unabhängigen (STAN) stieg auf 12,2 Prozent und überholt knapp die SPD, die bei 12 Prozent steht, während die Piraten mit 11,3 Prozent eines ihrer besten Ergebnisse in diesem Jahr erzielen könnten. Zwei neue Akteure – Stačilo!, eine links-populistische Partei (aktuell 7,7 Prozent), und die euroskeptischen Autofahrer (5,7 Prozent) – würden ebenfalls ins Parlament einziehen. Rechnet man dies in Mandate um, käme ANO auf 68 Sitze, Spolu auf 41, STAN und SPD jeweils 24, die Piraten auf 19, Stačilo! auf 15 und die Autofahrer auf neun.

Diese Zahlen deuten auf ein fragmentiertes Parlament hin, in dem die derzeitige Regierungskoalition ihre Mehrheit verlieren würde. ANO könnte ein Kabinett bilden, indem es sich mit Parteien am politischen Rand verbündet: entweder mit SPD und den Autofahrern oder einem Bündnis aus Stačilo! und SPD. Solche Vereinbarungen würden Babiš’ Machtposition stärken, bergen aber das Risiko, dass extremistische Narrative in die Regierung gelangen und Tschechiens europäische und transatlantische Verpflichtungen erschwert werden. Die Aussicht auf eine Koalitionsbildung bestimmt somit nicht nur, wer regiert, sondern signalisiert auch, wie stabil oder instabil die tschechische Politik nach den Wahlen im Oktober werden könnte. Die Wahlen im Oktober werden daher nicht nur über die nächste Regierung in Prag entscheiden, sondern auch Tschechiens Bekenntnis zu den liberalen Werten von Demokratie, Pluralismus und europäischer Zusammenarbeit auf die Probe stellen.