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Libanon
Eine Wahl über die Zukunft des Landes

Libanesische Parlamentswahlen
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Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah hält während einer Wahlkampfveranstaltung in einem Vorort von Beirut eine Rede per Video

© picture alliance / EPA | WAEL HAMZEH

Im Oktober 2019 trieb es Hunderttausende Libanesen auf die Straße. Die Proteste richteten sich dabei gegen die Führungselite des Libanon, die Wirtschaftskrise und grassierende Korruption. Das Wirtschaftsmodell des Landes wurde durch ein von der politischen Führung orchestriertes Schneeballsystem künstlich am Leben gehalten. Die Zentralbank besorgte sich über Jahre Devisen auf Pump, um die Währung stabil zu halten. Anleger erhielten auf ihre Spareinlagen absurd hohe Zinsen. Doch als das Geld aus dem Ausland ausblieb, brach das System in sich zusammen. Seitdem schreitet der wirtschaftliche Kollaps des Landes immer schneller voran und wird von einer hohen Staatsverschuldung und Hyperinflation begleitet.

Drei Viertel der Bevölkerung leben in Armut

Die heimische Währung wertete in den letzten zweieinhalb Jahren gegen den US-Dollar um etwa 90 % ab, eine Krankenschwester verdient heute nur noch 100 US-Dollar pro Monat. In der Folge der Krise ist zusätzlich ein Großteil der privaten Bankeinlagen der libanesischen Bevölkerung eingefroren worden. So ging auch das Ersparte und damit die finanzielle Grundlage für das tägliche Überleben verloren. Laut den Vereinten Nationen leben knapp drei Viertel der Bevölkerung in Armut. Auch die von Schwer- und Heizöl abhängige Energieversorgung des Landes ist von der US-Dollar Knappheit der Regierung betroffen. Ein Großteil der libanesischen Haushalte lebt bis zu 22 Stunden am Tag ohne staatliche Stromversorgung. Der daraus entstandene Markt für Dieselgeneratoren konnte die Lücke in der Energieversorgung nicht schließen und ist ohnehin für viele Libanesen nicht bezahlbar. Und wäre das nicht schon genug, verwüstete die größte nichtnukleare Explosion der Geschichte am 04. August 2020 weite Teile der Hauptstadt.

Wunsch nach politischer Veränderung

Es ist also kaum verwunderlich, dass das Vertrauen in das politische System in der libanesischen Bevölkerung schwer beschädigt ist. Der Wunsch nach politischer Veränderung ist groß, was nicht zuletzt an der ausgesprochen hohen Zahl an Kandidaten für die Parlamentswahl zu erkennen ist. Gerade in der jungen Generation ist ein neues Politikverständnis entstanden. Die hohe Wahlbeteiligung der außerhalb des Landes lebenden Libanesen könnte ein erster Indikator für das Interesse an der politischen Zukunft des Landes sein. Bei der bereits zwischen dem 06. und 08. Mai 2022 abgehaltenen Wahl an den libanesischen Botschaften weltweit war die Wahlbeteiligung mit 55 % bei etwa 190.000 registrierten Wählern in absoluten Zahlen knapp drei Mal so hoch wie noch bei der letzten Parlamentswahl vor vier Jahren. Doch gleichzeitig verließen bereits viele gut ausgebildete Libanesen seit Beginn der Wirtschaftskrise das Land, weshalb diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind.

Wenngleich der Wunsch nach politischen Reformen hoch ist, lässt die Situation vor der Wahl auch aus anderen Gründen auf wenig Veränderung hoffen. Im Januar dieses Jahres hat der ehemalige Premierminister Saad Hariri seinen und den Rückzug seiner sunnitischen Partei Future Movement aus den Parlamentswahlen erklärt. Das ist deshalb ein Grund zur Sorge, weil das libanesische politische System auf einer konfessionellen Verteilung der Parlamentssitze beruht. Von den insgesamt 128 Sitzen entfallen jeweils die Hälfte auf Christen und Muslime, wobei der Großteil der muslimischen Sitze gleichmäßig auf Sunniten und Schiiten verteilt ist. Somit lässt der Rückzug Hariris den sunnitischen Teil der Bevölkerung ohne echte politische Repräsentation zurück. Dieses Vakuum könnte ausgerechnet von der von vielen europäischen Ländern und den USA als Terrororganisation eingestuften Hisbollah gefüllt werden. Zwar entstammt die vom Iran geförderte Hisbollah dem schiitischen Lager, doch viele Beobachter befürchten, dass der Hisbollah nahestehende sunnitische Kandidatinnen und Kandidaten weitere Sitze gewinnen könnten.

Hisbollah könnte verfassungsändernde Mehrheit erreichen

Zudem sind die mehrheitlich 2019 entstandenen Oppositionsbewegungen tief gespalten und haben es nicht vermocht, gemeinsame Listen zu bilden. Das libanesische Wahlsystem begünstig ohnehin große Parteien und sieht sehr hohe Hürden vor, in einigen Wahlbezirken liegen diese pro Kandidaten bei mehr als 20 Prozent der Stimmen. Die Opposition hat sich daher keinen Gefallen getan, in den meisten Wahlkreisen mit unterschiedlichen Listen anzutreten. Zudem ist der Wettbewerb mit den gut vernetzten und üppig finanzierten, etablierten Parteien ohnehin zuungunsten der Oppositionsbewegungen verzerrt. Schätzungen beziffern die Ausgaben der Parteien bei der Wahl auf bis zu 100 Million US-Dollar. Diese Ausgaben werden nur bedingt für Wahlwerbung verwendet, das Kaufen von Wählerstimmen ist im Land weit verbreitet.

Viele Libanesen fürchten daher, dass die Hisbollah mit ihren – auch christlichen – Verbündeten eine Zweidrittel- und damit verfassungsändernde Mehrheit erreichen könnte. Zwar ist dies eher unwahrscheinlich, dennoch zeichnet sich im neuen Parlament eine verstärkte Polarisierung zwischen dem Hisbollah-Lager und seinen Gegner ab. Eine Regierungsbildung wird dadurch nicht einfacher. Bereits nach dem gesammelten Rücktritt der Regierung im Zuge der Explosion im August 2020 hatte es 13 Monate gedauert, bis eine neue Regierung gebildet werden konnte. Eine zusätzliche Belastungsprobe bei der Regierungsbildung wird auch die Nachbesetzung von Michael Aoun sein, der als maronitischer Christ das Präsidentenamt bekleidet. In der zweiten Jahreshälfte soll das libanesische Parlament über seine Nachfolge entscheiden. Mit Blick auf die wirtschaftliche Lage des Libanon ist eine schnelle Zusammenstellung einer stabilen Regierung zwar von entscheidender Bedeutung – auch um zeitnah ein Maßnahmenpaket gegen die Überschuldung des Landes mit dem Internationalen Währungsfonds auszuhandeln und den vollständigen Kollaps des Landes abzuwenden. Die Zeichen dafür stehen angesichts der enormen Gegensätze der politischen Lager aber nicht gut.

Wenn im Libanon die Wahl als Schicksalswahl bezeichnet wird, ist das mehr als eine Floskel. Für den Libanon geht es um die Zukunft des Landes, aber vor allem um die Zukunft der libanesischen Gesellschaft.