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Great Britain
Zeiten der Krise: die neue britische Führung braucht eine positive Europastrategie

UK Europe
© Getty Images

Die neue britische Führung wird das komplexe Erbe einer Reihe sicherheitspolitischer, politischer und wirtschaftlicher Krisen antreten. Diese werden Tatkraft und Stärke erfordern, um eine verunsicherte Bevölkerung wieder zu ermutigen. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die Angst vor einem Atomkrieg und kritischen Versorgungsengpässen bedrohlich näher rücken lassen, was die Herausforderung noch vergrößert. Der Einmarsch hat aber zuerst einmal auch das Image „Global Britains“ auf der Weltbühne aufgebessert. Mit überschwänglicher Solidarität für die Ukraine hat Boris Johnson die europäischen und G7-Verbündeten zu härteren Sanktionen, mehr schweren Waffenlieferungen und einer schnelleren Umstellung auf alternative Energiequellen bewegt. Die Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU in Bezug auf Sanktionen, koordinierte Diplomatie und die Untersuchung von Kriegsverbrechen hat gut funktioniert. Aber wird das so bleiben? Oder müssen wir eher befürchten, dass das Vereinigten Königreich sich für weitere Abgrenzung nach dem Brexit und die Sicherung eigener Wettbewerbsvorteile gegenüber seinen Nachbarn entscheidet, anstatt für die strategische Zusammenarbeit?

Die Zeiten sind ungewiss

Der Wunsch des Vereinigten Königreichs, sich von der EU loszueisen, ist zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt entstanden. Die jüngsten Krisen haben gezeigt, wie verwundbar wir alle als Nationen, Regionen und miteinander vernetzte globale Gemeinschaft sind. Aber sie haben auch demonstriert, dass alle Europäer (einschließlich der Briten) in der Lage sind, großes zu leisten, wenn sie zusammenarbeiten sowie mit gemeinsam mit Partnern in Übersee kooperieren – man denke nur an die Rekordzeit-Herstellung von Covid-Impfstoffen.

Putins Einmarsch in der Ukraine stellt uns alle erneut auf die Probe. Er zieht zahlreiche Länder jenseits der ukrainischen Grenzen in Mitleidenschaft und baut auf bereits 15 Jahre Einmischung von russischer Seite in der gesamten Region auf. Die Kampagne des Kreml zur Untergrabung der euro-atlantischen Zusammenarbeit, zur Schwächung von Demokratiemodellen und der regelgebundenen internationalen Ordnung zeigt Erfolg; sie nutzt die Fragmentalisierung in Europa zu ihren Gunsten und verleiht Querulanten in den europäischen Reihen Macht. Und noch ist es nicht überstanden. Die Bewaffnung der Politik und gemeinsamer Informationsräume wird weitergehen und erfordert konzertierte Gegenmaßnahmen.

Auch China hat sorgfältig in seine langfristige globale wirtschaftliche und politische Strategie investiert, um eigene Interessen durchzusetzen. Seine wohlkalibrierte Unterstützung für Russlands Invasion unterstreicht das gemeinsame Ziel, die westliche Hegemonie herauszufordern. Jede Fragmentalisierung in Europa birgt daher zum jetzigen Zeitpunkt große Risiken. Das Vereinigte Königreich muss seine allgemeine Widerstandsfähigkeit ausbauen, seine Sicherheitsarbeit erweitern, und seine Stärken als Nation und Region angemessen nutzen. Es muss sich der Realität stellen, die Ära des „harten Brexit“ hinter sich lassen und effektiver kooperieren.

Im Folgenden daher einige Vorschläge zu einer neuen Resilienzstrategie für Großbritannien:

1. Geschlossenes Auftreten im In- und Ausland

Um Stärke zu demonstrieren und schwierige Zeiten zu überstehen, ist es unverzichtbar, die Fronten innerhalb der gespaltenen Bevölkerung Großbritanniens zu glätten. Dabei geht es nicht nur darum, die Konservative Partei wieder an einen Tisch zu setzen. Das ganze Land streitet fieberhaft über Fragen der Identität und des Britentums, über das Wesen der Demokratie und über Machtverteilung. Die neue Regierungsführung wird durchgreifen müssen gegen Versuche, Kulturkriege zu entfachen, exklusive Patriotismusdefinitionen festzuschreiben, oder aggressive Rhetorik in politischen Debatten zu platzieren. Die neue Führung könnte aber punkten mit dem genuinen Versuch, über Parteien- und Identitätsgrenzen hinweg die Fronten zwischen den vier Nationen Großbritanniens abzubauen. Ebenfalls sehr gewinnbringend wäre es für die neue Führung, sich besser mit den EU-Befürwortern abzustimmen und somit Kräfte im besser zu bündeln. Dabei müsste zumindest einen Teil des durch den Brexit entstandenen Schadens anerkannt und der Dialog über künftige Wege nach vorn eröffnet werden. Dies würde letztlich die durch den Brexit entstandenen neuen Möglichkeiten nicht einmal einschränken, sondern lediglich anerkennen, dass das Land auch nach sechs Jahren in dieser Sache noch immer gespalten ist, und dass Kompromisse auf beiden Seiten erforderlich sind.

Was die europäische Solidarität angeht, sind fortdauernde Streitigkeiten mit der EU über das Nordirland-Protokoll kontraproduktiv. Sie schwächen die Zusammenarbeit und lenken kollektive Synergien von anderen dringenden Angelegenheiten ab. Kompromisse sind unvermeidbar! Daher sollte das Vereinigte Königreich die Zähne zusammenbeißen und sich direkt in die gemeinsamen Gewässer begeben, von denen sogar Premierminister Johnson bestätigt hatte, dass sie existieren. Daraufhin wäre es auch möglich, offen für eine neue Ära der konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und der EU zu werben. Dieser Prozess ist unerlässlich, um Russland und anderen Bedrohungen angemessen entgegenzutreten.

Der europäische Zusammenschluss muss wasserdicht sein, sonst hat er dem Informations- und Diplomatiekrieg, den Russland im eigenen Land und im globalen Süden führt, nichts entgegenzusetzen. Die Propaganda des Kreml, die von China noch verstärkt wird, verbreitet ungehindert die Botschaft, die Invasion Russlands sei auf die NATO-Erweiterung und die Nahrungsmittelknappheit auf die Sanktionen zurückzuführen. Staaten wie Südafrika, Indien, Äthiopien und Ägypten fallen darauf herein. Um dem entgegenzuwirken, brauchen die europäischen und die G7-Verbündeten einen gemeinsamen diplomatischen Plan, um strategisch relevante Staaten zu überzeugen und den Druck auf Putin zu erhöhen.

Russland muss daran gehindert werden, diesen Zusammenschluss unterwandern, indem es die Fragmentierung in Europa zu seinen Gunsten ausnutzt, sei es im Westbalkan oder im Kaukasus, zwischen einzelnen EU-Mitgliedern oder zwischen Großbritannien und der EU. Um Sanktionen aufrechtzuerhalten, die Ukraine zu unterstützen und weitere Abschreckungsmaßnahmen einzuleiten bedarf es regelmäßiger Konsultationen und einer funktionierenden Arbeitsteilung. Für das Vereinigte Königreich bedeutet dies, mit den EU-Institutionen und den EU-Mitgliedstaaten auf Vertrauensbasis zusammenzuarbeiten, ebenso wie mit der NATO, den G7-Staaten, den Vereinten Nationen, und weiteren Partnern.

2. Gemeinsame Verteidigung mittels EU und NATO

Weiterhin muss die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich verbessert werden. Da sich der Einsatz militärischer Mittel nun wieder angebracht ist, sind stärkere Abschreckungsmaßnahmen notwendig. Truppen müssen auf mögliche Konfrontationen vorbereitet werden. Angesichts der jüngsten Ambitionen in den USA, in Europa und im indopazifischen Raum ist eine effiziente Zusammenarbeit entscheidend für ein vorausschauendes Kostenmanagement. Das AUKUS-Abkommen verleiht der britischen Verteidigung bereits eine zusätzliche Dimension. Das Vereinigte Königreich muss sich aber der Forderung stellen, sich an europäischen Verteidigungsinitiativen zu beteiligen. Das neue Strategische Konzept der NATO deutet es klar an: "Für die Entwicklung der strategischen Partnerschaft zwischen der NATO und der EU ist die uneingeschränkte Beteiligung von Nicht-EU-Bündnispartnern an den Verteidigungsanstrengungen der EU von wesentlicher Bedeutung."

Mit der Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen NATO und EU- kann das Vereinigte Königreich es sich nicht leisten, jegliche Beteiligung an EU-Projekten zur militärischen Mobilisierung oder Sicherheitsmissionen zu verweigern, ganz zu schweigen von einer Beteiligung an lukrativen industriellen Investitionen und technologischen Innovationen. Das Angebot der EU an das Vereinigte Königreich, als wichtiges Drittland Beteiligung im Verteidigungssektor zu erhalten, sollte im Gegenzug auch an dauerhafte Verpflichtungen Großbritanniens gebunden werden. Die USA und andere Verbündete würden eine solche Entspannungspolitik begrüßen.

3. Schutz vor hybriden Risiken

Zudem muss das Vereinigte Königreich in der Zusammenarbeit mit seinen Verbündeten die Sicherheit in nichtmilitärischen Bereichen stärken. Die Abwehr von Bedrohungen jeglicher Art erfordert einen umfassenden Ansatz, bei dem die gesamte Region an einem Strang ziehen, Expertise austauschen, Arbeitsteilung betreiben und Ressourcen bündeln muss. Die die neue Regierungsführung muss eine neue Strategie aufstellen, um kollektive hybride Ressourcen nutzbar zu machen.

Als besonders relevant für die gemeinsame Koordination im Handels- und Kooperationsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU werden zumeist die Bereiche der Cybersicherheit sowie neue Technologien genannt. Aber auch andere gemeinsame Maßnahmen könnten die Widerstandsfähigkeit im Allgemeinen erhöhen. Beispielsweise solche zur Bewältigung der Energiekrise, zur Sicherung von Versorgungsketten und kritischen Infrastrukturen, zur Anpassung an den technologischen Wandel, zur Reaktion auf technologische Manipulationen, zum Widerstand gegen wirtschaftliche Zwänge, Geldwäsche und illegale Finanztransaktionen sowie zum Schutz der Demokratie auf beiden Seiten vor Einmischung, Desinformation und Polarisierungstaktiken.

Auf Basis der bereits bestehenden Bestimmungen im Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Großbritannien könnte das Vereinigte Königreich in den Bereichen Strafverfolgung, Terrorismus und Justiz einen neuen, umfassenderen Rahmen für die Zusammenarbeit mit der EU entwickeln, der alle Aspekte der hybriden Sicherheit abdeckt. Seit der zuletzt von der britischen Regierung vorgeschlagenen Gesetzgebung zum Nordirland-Protokoll sieht sich das Vereinigte Königreich allerdings von immer mehr EU-Diskussionen ausgeschlossen und läuft nun Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Daher gilt es, rasch Lösungen zu finden, damit das Vereinigte Königreich diese anderen wichtigen Bereiche der Zusammenarbeit systematisch weiterentwickeln kann.

4. Verbesserter Einfluss und globale Regelwerke

Die Überwindung von Differenzen mit den wichtigsten Handels- und Kooperationspartnern Großbritanniens dürfte auch die „Global Britain“-Agenda weiter voranbringen. Eine "konstruktive und produktive Beziehung" zu Europa (vgl. die Forderungen im Integrated Review), würde dem Vereinigten Königreich helfen, seine Ziele für den Freihandel zu verfolgen, seinen internationalen Einfluss zu vergrößern und "eine Führungsrolle bei der Förderung der europäischen und internationalen Sicherheit sowie eines regelgebundenen internationalen Systems zu übernehmen".

Dies kann zum Beispiel dadurch erzielt werden, indem das Vereinigte Königreich und die EU bereits im Vorfeld internationaler Gipfeltreffen ihre Positionen abgleichen. Dies würde im Anschluss auch die Koordinierung mit den USA, den G7 und weiteren Partnern erleichtern. Eine solche Angleichung würde auch die kollektive Wirkkraft bei der Lösung von Konflikten und der Durchsetzung wertorientierter Positionen besser entfalten. Auch könnte sie mehr gemeinsamen Maßnahmen in den Bereichen des Klimawandels, der Migration, des Handels und der Technologie anregen, wie auch in anderen Bereichen, die sowohl nationale als auch regionale und globale Antworten erfordern.

5. Ein Boost für das Wirtschaftswachstum

Der Umgang mit den steigenden Lebenshaltungskosten ist bereits jetzt eine Herausforderung für zahlreiche Länder. Die nächste britische Regierung würde gut daran tun, alles zu versuchen, um die Inflation zu minimieren, das Wirtschaftswachstum zu steigern und die Versorgung der Bürger mit essenziellen Gütern und öffentlichen Dienstleistungen sicherzustellen. Engere Handelsbeziehungen mit der EU wären dabei ein idealer Impuls für die Wirtschaft. Sie würden über den Abbau von Handels-, Reise- und Kooperationshindernissen Kosten für die Verbraucher senken und den erheblichen Arbeitskräftemangel mindern. Verschiedene Handelskommissionen haben hierzu bereits Vorschläge vorgelegt, die es nun zu prüfen gilt.

Die neue Führung sollte außerdem vermeiden, Gesetzespakete, die während der Zeit der EU-Mitgliedschaft verabschiedet worden sind, pauschal zerschlagen, anstatt sie einzeln anzugehen. Hier besteht die Gefahr eines Vakuums, in welchem unnötige Abweichungen letztlich noch mehr Bürokratie für Unternehmen, Branchen und den öffentlichen Sektor erzeugen.

Abschließend gilt, dass das Vereinigte Königreich die Konfrontation mit Europa nicht aufrechterhalten kann, wenn es zugleich international schlagkräftig sein und eine zukunftsorientierte Politik umsetzen will, die Wirtschaft, Sicherheit und Fortschritt stärken soll. Der Ausbau bilateraler und minilateraler Beziehungen ist für Großbritannien sinnvoll, aber nicht ausreichend. Um komplexe Themen, die viele Länder zugleich betreffen, anzugehen, ist der Weg über die EU schlichtweg am effektivsten. Neue europäische Konstrukte wie Macrons Europäische Politische Gemeinschaft könnten eventuell neue Wege der Zusammenarbeit eröffnen – vielleicht aber auch nicht. Darauf können wir nicht warten, da sich die Krisen bereits häufen. USA und EU arbeiten bereits jetzt enger zusammen - das Vereinigte Königreich riskiert dabei, außen vor zu bleiben. Es müsste letztlich seine eigene Handlungsfreiheit nicht einmal einschränken, indem es enger mit der EU zusammenarbeitet, sondern kann im Gegenteil seinen Einfluss ausweiten, Finanzen einsparen und gemeinsame Ressourcen nutzen, wo immer nötig. Sollte das Vereinigte Königreich noch bessere Alternativen für sich identifizieren, kann es auch weiterhin für sich allein agieren oder versuchen, seine Nachbarn für seine eigene Auslegung der Situation zu gewinnen.

Nichts von alledem kompromittiert den Brexit. Letztlich war Großbritannien in Sachen EU-Mitgliedschaft ja von vornherein gespalten – selbst viele „Leave“-Wähler waren für die Aufrechterhaltung enger Beziehungen. Das Vereinigte Königreich muss daher ein stabiles Gleichgewicht finden zwischen der Zusammenarbeit mit Europa und seiner eigenen unabhängigen Wettbewerbsfähigkeit. Es hat viel beizutragen, aber auch viele Probleme zu lösen. Es muss sich entsprechend in seiner Rolle als europäischer Vertrauensverbündeter neu erfinden, und dies dann auch in Wort und Tat umsetzen. Dies erfordert viel Kreativität und Engagement, aber die Arbeit daran ist unvermeidbar. Entgegen aller Vorhersagen wird sich bei der EU nichts verändern; sie bleibt das wichtigste Forum für die 27 europäischen Nachbarstaaten des Vereinigten Königreichs. Wenn man ein- und denselben geografischen Raum, denselben Lebensstil und dieselbe Weltanschauung teilt, ist es nur logisch, an einem Strang zu ziehen. Das Vereinigte Königreich steht vor zu vielen großen Problemen, als dass es den Alleingang wählen sollte.

Sandra Khadhouri ist Direktorin von Keeping Channels Open, einem neuen Dialogforum für britische, europäische und amerikanische Akteure und Partnerinitiative des Europäischen Dialogprogramms der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. https://keepingchannelsopen.com/