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Tocqueville Conversations 2022
The Propaganda Dilemma of Democracies

propaganda
© Unsplash, Utsav Srestha

Das Propaganda-Dilemma der Demokratien*

Vor mehr als 190 Jahren schrieb Alexis de Tocqueville: "Die Menschen nehmen die Wahrheit nicht an, wenn sie von ihren Feinden kommt, und die Wahrheit wird ihnen nur selten von ihren Freunden angeboten". In den letzten zehn Jahren haben Propaganda und Desinformationen von feindliche Akteure die Demokratien vor ein noch größeres Dilemma gestellt, und der Verlust einer gemeinsamen Wahrheit ist heute vielleicht die größte Herausforderung für offene Gesellschaften. Der Krieg gegen liberale Werte und offene Gesellschaften wird nicht mehr nur mit Panzern, Raketen und Soldaten in der Ukraine, sondern auch in der Medienlandschaft eines jeden Landes, eines jeden Kontinents und auf jeder Plattform geführt. Heute ist das alleinige Ziel der russischen Propagandamaschine den Glauben zu schaffen, dass alles Propaganda ist und es keine Wahrheit gibt. Gleichzeitig binden uns unsere Werte der Rede-, Meinungs- und Medienfreiheit die Hände für ein "Gegenangriff".

Die Fünf Säulen der Russischen Desinformation

Das US-Außenministerium hat fünf Säulen des russischen Desinformations-Ökosystems identifiziert, die alle darauf ausgerichtet sind, das Konzept der Wahrheit zu untergraben. Die erste Säule ist die Verbreitung von Verschwörungsnarrativen oder gar Lügen durch offizielle Regierungsmitteilungen. Über offiziellen Kanälen in die Welt gesetzt, werden diese falschen Erzählungen dann von seriösen Journalisten aufgegriffen und gelangen in den öffentlichen Diskurs. Während der erste Bericht in den seriösen Medien vielleicht noch Kontext und Widerlegungen enthält, gehen diese "Nebenfakten" oft verloren, wenn die Erzählung in die Gesellschaft sickert.

Die zweite Säule, ein staatlich finanziertes globales Nachrichtensystem, sorgt dafür, dass das Propaganda-Ökosystem so aufgebaut ist, dass legitime Journalisten grundsätzlich überhaupt nicht zur Verbreitung der Fake News benötigt werden. Bis vor wenigen Monaten hatten die Sender Russia Today (RT) und Sputnik (Radio) noch ihren Platz zwischen den seriösen journalistischen Angeboten in Europa. Noch heute ist RT die zweithäufigste spanischsprachige "Informationsquelle".

Während die Säulen eins und zwei leicht dem russischen Staat zugeschrieben werden können, wirken die folgenden Aktivitäten organischer und sind schwerer als Teil des russischen Propaganda-Ökosystems zu identifizieren. Die dritte Säule ist das, was das US-Außenministerium als "Kultivierung von Proxy-Quellen" bezeichnet. Hier nutzt Russland Medien mit globaler Reichweite, lokalsprachige Medien mit russlandfreundlichen Ansichten wie das deutsche Compact-Magazin oder befreundete Staaten wie China und den Iran, um falsche Narrative zu verbreiten.

Säule vier baut auf diesen Grundlagen auf und nutzt die sozialen Medien als Waffe, um inländische Gespräche zu unterwandern, das Vertrauen in Institutionen zu untergraben oder sogar lokale Proteste anzuzetteln. Säule Nummer fünf ist vielleicht die invasivste und aggressivste Aktivität: cybergestützte Desinformation. Dazu gehören das Hacken und die Veröffentlichung vertraulicher Daten, wie E-Mails prominenter Kandidaten während der Wahlen, die Lahmlegung digitaler Netzwerke oder objektiver Medien und Fälschungen.

Konfrontation mit dem Propaganda-Dilemma

All dies geschieht schon seit Jahren direkt vor unseren Augen. Der spanische Unternehmer Alejandro Romero von Constella Intelligence stellte bei den Tocqueville Conversations 2022 auf Basis seiner Untersuchungen fest: Alle großen Verschwörungsnarrative, die die westliche Welt in den letzten Jahren betäubt haben, werden von ein und demselben Netzwerk betrieben und verbreitet, oder wie er es nennt, "dem ersten digitalen Kult unserer E-Republik". Dieser Kult verbreitet seine, die Wahrheit aushöhlenden, Erzählungen seit Jahren über TikTok, YouTube und Telegram. Der Kult und seine Mitglieder werden nicht vollständig vom russischen Staat kontrolliert oder beherrscht, sondern mit Lügen gefüttert, um russische Narrative über soziale Medien zu verbreiten.

Soziale Medienplattformen wie YouTube bieten Bürgern und Journalisten jedoch auch die Möglichkeit, den staatlich geförderten Fehlinformationen entgegenzutreten. Für den russischen Journalist Mikhail Zygar ist YouTube das Problem und die Lösung zugleich. YouTube war lange einer der wenigen Orte in Russland, an dem unabhängige Medien veröffentlicht und gefunden werden konnten. Gleichzeitig ist die Reichweite oft größer als die der traditionellen Medien.

Unsere Werte schaffen Dichotomien, die unlösbar zu sein scheinen. Presse- und Meinungsfreiheit sind Kernwerte der Demokratie. Gleichzeitig nutzen feindliche Akteure und feindliche Staaten unsere freie Medienlandschaft, um ihre Lügen zu verbreiten und den Glauben die Wahrheit zu untergraben. Unser Propaganda-Dilemma besteht darin, dass die Demokratie, damit sie funktioniert, eine gemeinsame Wahrheit braucht, aber wir gleichzeitig diese Wahrheit nicht zentral schaffen können. Wir haben die Presse- und Medienfreiheit in unseren Verfassungen festgeschrieben und vermeiden strenge Zensur. Aber es gelingt uns leider auch nicht, die Verbreitung von Falschmeldungen zu verhindern.

Lösungen zur Bekämpfung von Desinformation

1) Demokratien müssen der staatlich finanzierten Propaganda eine größere globale Medienpräsenz entgegensetzen. Überall werden laute Stimmen gebraucht, die zur Vernunft und zu einer auf Regeln basierenden Ordnung aufrufen. Russland, China und ihre Verbündeten geben in fast allen Regionen der Welt mehr Geld aus, um ihre Narrative zu verbreiten. Wir können nicht einfach still von der Seitenlinie aus zusehen.

2) Die Berichterstattung muss sich an unseren Werten orientieren. Öffentlich-rechtliche Sender aus und in demokratischen Staaten sind kein Propagandaorgan für die Regierungselite, dennoch haben sie eine besondere Pflicht, im Einklang mit unseren Werten der Wahrheit zu berichten. Freie Gesellschaften müssen lokale Medien in allen Teilen der Welt finanzieren und unterstützen. Wenn Experten aber sagen, dass die Deutsche Welle in Südamerika "fast genauso klingt wie RussiaToday", müssen wir über die Art und Weise nachdenken.

3) Die Bevölkerung muss aufgeklärt werden. Seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Sowjetunion hat die allgemeine Medienkompetenz nicht mehr mit dem technischen Fortschritt Schritt gehalten. Wir vergessen nicht nur den Informationskrieg in Lateinamerika, Indien und Afrika, sondern auch die Menschen in unserem Land. Wir brauchen breite gesellschaftliche Anstrengungen, um die Medienkompetenz und das kritische Denken in allen Altersklassen zu fördern. Kampagnen wie #FreedomFightsFake der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit sind ein erster Schritt in diese Richtung.

4) Demokratische Politiker müssen mehr Verantwortung übernehmen und authentisch sein. Politische Führer müssen ehrlich sein und der Bevölkerung direkt sagen, was sie zu erwarten haben und was die Regierung dagegen tun kann oder was nicht. Die Realität zu verzerren oder reale Gefahren herunterzuspielen, um in der Öffentlichkeit besser dazustehen, gehört in das Buch autoritärer Akteure - nicht in das von Politikern von offenen Gesellschaften.

Die stärkste Waffe ist die Wahrheit

Der Kampf gegen staatlich geförderte Propaganda stellt offene Gesellschaften vor ein Dilemma, insbesondere wenn für Propaganda die freie Meinungsäußerung als Waffe einsetzt wird. In diesem Kampf muss die politische Führung aus der westlichen Welt beweisen, dass Tocquevilles Worte falsch waren, und ihren Freunden stets die Wahrheit anbieten. Der Kampf für eine gemeinsame Realität wird mühsam und manchmal teuer sein, aber wir können ihn gewinnen - oder wie es die ukrainische Journalistin Marina Moiseyenko bei den Tocqueville-Gesprächen ausdrückte: "Die Ukraine hat eine stärkere Waffe als Propaganda - die Wahrheit."

*Dieser Text wurde aus dem Englischen übersetzt.

Konrad Greilich ist Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er ist Doktorand an der Bucerius Law School Hamburg und forscht über den Einsatz von Smart Contracts in der Unternehmensführung.